Ankerzentren?

Eine kritische Betrachtung


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von Prof. Dr. Christian Link aus Bochum

Die Einheit Europas droht heute an den Flüchtlingsströmen derer, die bei uns eine Hoffnungs- und Zukunftsperspektive suchen, zu zerbrechen. Die Richtung der offiziellen Politik hat sich in diesem ebenso wichtigen wie sensiblen Feld bei uns um 180 Grad gedreht. An die Stelle der Willkommenskultur, die uns vor Jahren beflügelt hat, ist eine Politik offener Abwehr getreten. Das heute praktizierte Asylrecht ist ein Recht auf kleinstem Nenner; es wird als staatliches Duldungsrecht geregelt, bestenfalls als institutionelle (subsidiäre) Garantie. Es erfüllt kaum noch den Anspruch dessen, was nach einer alten Redensweise „rechtens“ ist, will sagen, was im Dienst der Gerechtigkeit steht. Darüber hat die deutsche Migrations- und Asylpolitik ihr menschliches Gesicht verloren und droht ihr vornehmstes Ziel, die Integration von Flüchtlingen zu verraten. Denn, so eine Schweizer Stimme,

das Recht wäre dazu da, den Ausgleich zu schaffen; es wäre dazu dam, den Armen zu schützen, seinem Leben aufzuhelfen, seine Chancen zu mehren, die Macht der Mächtigen zu begrenzen. Nun aber dient es faktisch dazu, jene Ordnung zu sichern, die Unordnung produziert, dient dazu, den Wohlstand der Reichen zu erhalten, den gerechten Ausgleich zu verhindern […], die Heimatlosen von der Erde zu verdrängen. Die Flüchtlinge zeigen die tiefe Kluft zwischen dem Anspruch des Rechts und der faktischen Verkehrung des Rechts in Unrecht.

Das ist die Situation, in der wir uns heute befinden. Hier steht Recht gegen Recht, das Recht des Staates gegen das elementare Recht, das man Flüchtlingen und Heimatlosen zugestehen und im Zeichen der heute so viel beschworenen Menschenwürde einklagen muss. Die von staatlichen Stellen mit wachsendem Druck erhobene Forderung, in allen Bundesländern sogenannte „Ankerzentren“ zur Bewältigung unserer Flüchtlingskrise einzurichten, treibt diese Entwicklung auf eine nicht mehr zu verantwortende Spitze, der wir uns mit dieser Erklärung zur Wehr setzen:

1. Es blieb unseren christlichen Parteien vorbehalten, das alte weihnachtliche Symbol des ANKERs, Haftpunkt der Hoffnung auf die Ankunft der Mensch gewordenen göttlichen Liebe in einer lieblosen Welt2, und als solche ein Versprechen, Flüchtlinge herzlich aufzunehmen und zu betreuen, nun umzudeuten in ihr Gegenteil, in ein Instrument der Abschreckung Hilfe suchender Fremder. Dieser Versuch ist ein Skandal, zu dem wir Kirchen nicht schweigen können und dürfen.

2. Der in Bayern bereits realisierte Plan, Menschen, in diesem Fall: am vorläufigen Ende einer gefahrvollen Flucht angekommene Personen in lagerähnlichen, von der Außenwelt isolierten, ringsum geschlossenen Arealen zu konzentrieren, um vom Asylantrag bis zur Prüfung eines Bleiberechts über ihre Zukunft zu entscheiden, erinnert in peinlichster Weise an Vorgänge unserer finstersten Vergangenheit. Not und Hoffnungen dieser Menschen, vor allem aber der Spielraum ihrer einklagbaren Rechte sollen auf diese Weise der öffentlichen Diskussion entzogen werden. Hier wird mit Willen und Bewusstsein der Willkommenskultur einer aufgeschlossen-kritischen Öffentlichkeit der Boden entzogen. Was bisher im Rahmen größtmöglicher Freiheit und im Zusammenspiel vieler Akteure geregelt werden konnte, wird nun in die Hände bürokratischer und polizeilicher Überwachung gelegt. Das menschliche Herz ist den hier ablaufenden Verfahren von vornherein erfolgreich herausoperiert worden. Denn das erklärte Ziel dieser Einrichtungen, ist die Maximierung der Rückführungen („Abschiebungen“) von Flüchtlingen in ihre Herkunftsländer.

3. Die schweren Bedenken, die sich diesen Verfahren entgegenstellen, sind von vielen Institutionen – NGOs, Kirchlichen Hilfswerken, der Evangelischen Kirche in Deutschland durch ihre Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm, nicht zuletzt auch von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) – erhoben und begründet worden.3 Wir führen sie als exemplarische Probleme auf und machen sie uns zu eigen:

  • In den Zentren sollen 1.000 bis 1.500 Personen ohne Kontakt zur Bevölkerung bis zu 18 Monaten aufgenommen werden, wobei zukünftig Neuankömmlinge mit Abzuschiebenden zusammengesperrt werden sollen, wodurch ein erhebliches Aggressions- und Gefärdungspotential erzeugt wird. Eine solche „sachgrundlose Internierung“ (GdP) ist in ihrer „Grundkonzeption“ bereits verfehlt. Überdies wird dadurch das Flüchtlingsthema aus dem Blick und der öffentlichen Wahrnehmng der Gesellschaft verbannt.
  • Eine unabhängige juristische Beratung durch frei gewählte Anwälte oder rechtskundige Sozialabeiter gibt es nicht. Extrem kurze Fristen im Asylverfahren verhindern bei Negativ-Entscheiden die Möglichkeit einer juristischen Klage und die Anrufung von Gerichten mit dem Ziel einer erneuten Prüfung des eigenen Antrags (was im Falle eines „traditionellen“ Kirchenasyls noch immer grundsätzlich möglich ist.)
  • Ein generelles Ausbildungs- und Arbeitsverbot, dazu ein unzureichender bis mangelhafter Deutsch-Unterricht führt in vielen Fällen zu Resignation, und psychischer Zermürbung. Der fehlende Kontakt zur einheimischen Bevölkerung verhindert im Ansatz jede Integration und erschwert auch eine nachträgliche Einbindung in das Leben einer Kommune.
  • Besonders prekär, um nicht zu sagen unverantwortlich ist die Situation der Kinder und der heranwachsenden Jugendlichen. Da ihnen keine Kitas und Kindergärten offen stehen (in denen sie bisher spielend unsere schwierige Landessprache – und zwar meist weit besser als je ihre Eltern – lernen konnten), da sie insbesondere nicht zur Schule gehen dürfen, weil sie laut Schulgesetz noch keiner Kommune zugewiesen sind, werden sie ohne eine sie irgendwie ausfüllende Beschäftigung gezwungen, sozusagen am Rande der Verwahrlosung leben zu müssen.
  • Was man von den wenigen zugelassenen Besuchern von der Wohnsituation der Flüchtlinge etwa in der Zentralen Unterbringungs-Einrichtung in Marl hört, ist beschämend, wenn nicht empörend: Das gemeinsame Essen in den alten dreistöckigen Kasernen findet an langen Tischreihen statt (da hier statt des monatlichen Geldes für den individuellen Einkauf ein striktes Sachleistungsprinzip herrscht); die Zimmer können mit 4 bis 8 Personen belegt werden, wobei es pro Person einen ca 40 cm breiten Spind mit fünf kleinen Fächern gibt. An den Fenstern sind weder Vorhänge noch ein Sichtschutz angebracht. Die auffallend wenigen Toiletten sind immer Gemeinschaftstoiletten mit vielen Hinweiszetteln, was man hier überhaupt machen und nicht machen darf, als wären es unzivilisierte Wilde, die hier Einzug halten sollen. Unter dem Vorwand von Schutz voreinander und vor ehrenamtlichen Helfern, denen ein Betretungsverbot jeden Zutritt verwehrt, gerät die viel berufene Menschlichkeit hier zu ihrer eigenen Karikatur.

Fazit: Die „Ankerzentren“ sind ein Schandfleck für eine aufgeklärte liberale Gesellschaft und gemessen an dem Maßstab einer christlichen Orientierung eine schwere Belastung. Es ist an der Zeit sich einzugestehen, dass dieses Modell (sowenig wie die Dublin-Regelung) nicht funktionieren kann, weil es schon den Ansatz einer Integration hintertreibt; dass es zum Scheitern verurteilt ist, weil es in einer Fülle von Einzelvorschriften die ihm anvertrauten Menschen demütigt und in ihrer Würde verletzt, und dass es nicht zuletzt Staat und Gesellschaft teurer zu stehen kommt als die bis heute geübte Praxis, weil die Heilung der Schäden, welche die monate- bzw. jahrelange Isolation der betroffenen Flüchtlinge unter den Bedingungen wachsender Binnenaggressivität verursacht, mit weitaus höheren Kosten verbunden ist als der Status quo. Sowohl unter dem Aspekt der Menschlichkeit wie der prak-tischen Durchführbarkeit gibt es hier nur eine Konsequenz: Ein Nein ohne jedes Ja.

1 K.Bäumlin auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise in der Schweiz der 80er Jahre, in: Reformatio 36, 1987,97

2 In einem noch heute viel gesungnen adventlichen Lied heißt es: „Der Anker haft’ auf Erden / da ist das Schiff an Land / Das Wort (der göttlichen Liebe) will Fleisch uns werden / der Sohn (Christus) ist uns gesandt.“

3 Eine repräsentative Zusammenfassung findet sich in der Zeitschrift AMOS, 52.Jg, 2019, Heft 2


Prof. Dr. Christian Link aus Bochum