III. Vorgabe, Weitergabe und Rückgabe: Das paulinische Kollektenprojekt

Magdalene L. Frettlöh, Der Charme der gerechten Gabe

I. Angabe: Die Rückkehr der milden Gabe
II. Eingabe: Eine kleine Phänomenologie der Gabe
1. Der Geist (in) der Gabe und die freiwillige Verpflichtung zum Geben, Nehmen und Erwidern – Marcel Mauss' Lösung des Rätsels der Gabe 
2. Die Ambivalenz der (milden) Gabe. Zur gegenwärtigen Spendenpraxis
3. Die Gabe, die keine ist – J. Derridas Dekonstruktion der (getauschten) Gabe
4. Vom Geben, das in der Gabe nicht aufgeht - B. Waldenfels' Phänomenologie von Geben und Nehmen
III. Vorgabe, Weitergabe und Rückgabe: Das paulinische Kollektenprojekt
1. "Wir teilen euch die charis Gottes mit ..." - oder: Grazie, der Inbegriff göttlichen und menschlichen Gebens
2. "... auf dass Gleichheit entstehe!" - oder: die Kollekte als diakonia
3. "... und sie sehnen sich nach euch!" - oder: die Kollekte als koinonia
4. "... auch Überfluß für Gott!" - oder: die Kollekte als leitourgia
IV. Zugabe: Geben, was man nicht hat

III. Vorgabe, Weitergabe und Rückgabe: Das paulinische Kollektenprojekt

"Die Kollekte ist heute bestimmt für ..." Ebenso selbstverständlich wie die Predigt und der Segen gehört die Kollekte zu jedem Gottesdienst. Kurze Informationen über den jeweiligen Kollektenzweck sind wie die Mitteilung über die Höhe der im vorausgegangenen Gottesdienst gesammelten Spende und der förmliche Dank für sie fester Bestandteil der Abkündigungen. Die landeskirchlichen Empfehlungen zu den Kollektenprojekten entlasten PfarrerInnen davon, nach eigenen Begründungen für eine großzügige Gabe suchen zu müssen. So können sie sich damit begnügen, die Spendenbereitschaft der Gemeindeglieder theologisch zu motivieren, sei es durch einen Segenswunsch wie "Gott segne Geber und Gaben!" oder einen Bibelvers wie "Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb!" (2Kor 9,7). Doch so selbstverständlich es in wohl jedem unserer Gottesdienste eine Kollekte gibt, so wenig wird sie für gewöhnlich zum Anlaß theologischer Reflexion. Sie ist Gegenstand der Abkündigung, aber nicht der Verkündigung. Fragen wie: Warum gehört sie in den Gottesdienst? Was verbindet sie mit den übrigen Elementen der Liturgie? Ja, inwiefern ist sie selbst Gottesdienst – im doppelten Sinne des Wortes, nämlich wie dient uns Gott und dienen wir umgekehrt Gott mit ihr? – brauchen nicht beantwortet zu werden, weil sie gar nicht gestellt werden.

Dabei bedürfte schon die aus ihrem (doppelten) biblischen Kontext gerissene und inflationär gebrauchte Erinnerung an den von Gott geliebten fröhlichen Geber eines theologischen Nachdenkens, das sie aus ihrer Erstarrung zur bloßen Kollektenmotivationsfloskel befreien könnte. "Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb!" Versprechen PfarrerInnen mit diesem Satz die Liebe Gottes als himmlischen Lohn für die irdische Freigebigkeit der Gemeinde? Geht's auch hier um einen Gabentausch? Und wer oder was ist eine fröhliche Geberin, ein heiterer Geber? Gibt er aus einer heiteren Stimmung heraus? Macht sie das Geben fröhlich? Weckt die Aussicht auf die (himmlische) Gegengabe seine Heiterkeit? Ist es eine, die mit einem Lachen auf den Lippen und im Herzen gibt? Jemand, der keinen Gedanken daran verschwendet, ob er gleich viel oder überhaupt etwas zurück bekommt? Eine, die zwanglos, also freiwillig gibt? Oder gar einer, der von dem gibt, was ihm selbst nicht gehört??

Was bedeutet es, dass dieses Zitat aus dem Sprüchebuch (22,8), das im Kontext von 2Kor 8-9 zu interpretieren wäre, selbst schon ein Zitat ist, das Paulus aber nicht wörtlich, sondern gegenüber dem Wortlaut der Septuaginta (LXX): – "Einen heiteren Mann und Geber segnet Gott." – zumindest im Blick auf das Prädikat entscheidend verändert wiedergibt? Verleitet die Liebe Gottes weniger zum Lohngedanken als sein Segnen? Will Paulus die Erwartung einer materiellen Gegengabe, die mit dem Segen eher als mit der Liebe assoziiert wird, ausschließen? 

Eine Theologie der Kollekte, insbesondere im engeren Sinn von Theologie als Gotteslehre (als das, was Gott uns lehrt und was wir über Gott lehren), versteht sich gerade nicht von selbst. Wer das Kollektengebet, das im Eingangsteil des Gottesdienstes der Sammlung der Gemeinde, der Ausrichtung ihrer Aufmerksamkeit auf die Schriftlesung und Predigt dient, immer noch mit der pekuniären Kollekte in Verbindung bringt, erntet dafür nur ein verwundertes Kopfschütteln oder ein amüsiertes Lächeln. Doch nur vordergründig liegt hier ein Mißverständnis vor. Die vermeintlich Sachkundigen und Besserwissenden entpuppen sich als die, die voneinander trennen, was theologisch und liturgisch zusammengehört. Denn schon die sprachliche Übereinstimmung kann als ein deutliches Indiz für die Kollekte als ureigenes Anliegen des Evangeliums gehört werden: Aus der Sammlung auf das Wort Gottes folgt die Sammlung des Geldes, aus der Teilhabe am verkündigten Evangelium das Teilen mit denen, die nicht genug haben. Beides verbindet sich mit dem communio-Gedanken als dem dritten Aspekt der Kollekte, der Versammlung der Gemeinde: Die Einheit der Gemeinde, die – über die Grenzen der Parochie hinaus – im gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes konstituiert wird, soll sich in einer (weltweiten) Gütergemeinschaft bewähren.

Dass es beim Umgang mit Geld um keine andere Gerechtigkeit als die geht, von der in der Rechtfertigungslehre die Rede ist – eben dies läßt sich kaum irgendwo so mit Händen greifen wie in der leidenschaftlichen theologischen Argumentation, mit der der Apostel Paulus bei der korinthischen Gemeinde für die Beteiligung an der Kollekte der heidenchristlichen Gemeinden für die JudenchristInnen in Jerusalem wirbt (2Kor 8-9). Die (systematisch-)theologische Vernachlässigung dieser beiden Kapitel steht in krassem Widerspruch zu dem Gewicht, das das Kollektenprojekt in der Theologie und Biographie des Paulus hat. Je länger je mehr ist für Paulus die Jerusalemer Kollekte, auf die er sich beim Apostelkonzil verpflichtet hat[1], zum Kriterium für die Wirkung des Evangeliums an die Völkerwelt geworden. Er bindet den Erfolg und den Sinn seines Lebenswerks an das Gelingen dieser Kollekte. Im gerechten Güterausgleich zwischen den Gemeinden muß seine Rechtfertigungsbotschaft ihre Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft erweisen. Die Kollekte ist in den Augen des Paulus die entscheidende Bewährungsprobe, der Praxistest für die Predigt von einer Gerechtigkeit Gottes, die nicht aus Werken des Gesetzes kommt, aber zum Tun des Gerechten befreit:

2Korinther 8:
"(1) Wir teilen euch aber, [Schwestern und] Brüder, die charis[2] Gottes mit,
die den Gemeinden Makedoniens gegeben worden ist:
(2) Dank der reichen Bewährung in Bedrängnis sind der Überfluß ihrer Freude
und ihre tiefgehende Armut übergeströmt in den Reichtum ihrer schlichten Güte.
(3) Denn nach Kräften, ich bezeuge es, und über ihre Kräfte freiwillig
(4) baten sie uns in inständigem Ersuchen um die charis,
am diakonischen Werk für die Heiligen Gemeinschaft haben zu dürfen,
(5) und das nicht nur so, wie wir gehofft hatten,
sondern sie gaben sich selbst – in erster Linie dem Herrn und [dann] uns
nach dem Willen Gottes.
(6) Daraufhin haben wir Titus das Mandat übertragen, er möge,
so wie er diese charis begonnen hat, sie auch bei euch vollenden.
(7) Wie ihr aber nun in allem überströmt,
in Treue und Wort und Erkenntnis und jedem Eifer und der Liebe,
die von uns [ausgehend] in euch ist, so strömt auch in dieser charis über!
– (8) Nicht als Befehl sage ich [das], sondern um durch den Eifer anderer
auch die Echtheit eurer Liebe zu erproben. –
(9) Ihr kennt ja die charis unseres Herrn Jesus Christus:
Er, der reich ist, wurde um euretwillen bettelarm,
damit ihr durch seine Armut reich würdet.
(10) Auch in dieser Angelegenheit gebe ich [nur] eine Meinung wieder:
Dieses nämlich ist für euch von Nutzen, die ihr nicht nur das Tun,
sondern auch das Wollen früher, vor Jahresfrist, begonnen habt:
(11) Vollendet nun aber auch das Tun, damit wie die Bereitwilligkeit
so auch das Vollenden sei – entsprechend dem, was ihr besitzt.
(12) Wenn nämlich die Bereitschaft vorhanden ist, so ist die Gabe willkommen
entsprechend dem, was einer besitzt, nicht entsprechend dem, was einer nicht besitzt.
(13) [Ich sage das] nämlich nicht, damit andere Erleichterung haben,
ihr aber in Bedrängnis geratet, sondern aufgrund von Gleichheit.
(14) In der Jetztzeit helfe euer Überfluß dem Mangel jener ab,
damit auch der Überfluß jener eurem Mangel abhelfe,
auf dass Gleichheit entstehe,
(15) wie geschrieben steht: "Wer viel [gesammelt hatte], hatte keinen Überfluß,
und wer wenig [gesammelt hatte], hatte keinen Mangel" (Ex 16,18).
(16) Charis aber sei Gott,
der Titus denselben Eifer für euch ins Herz gibt,
(17) denn er hat das Mandat angenommen und ist, weil er besonders eifrig ist,
freiwillig zu euch abgereist.
(18) Wir senden euch aber mit ihm den Bruder,
dessen Lob in Sachen Evangelium durch alle Gemeinden [geht],
(19) und nicht allein [das], sondern der auch von den Gemeinden gewählt wurde
als unser Reisebegleiter in dieser charis,
die von uns besorgt wird, um dem Herrn selbst Gewicht zu geben,
und um unsere Bereitschaft zu erweisen.
(20) Dabei suchen wir dies zu vermeiden, dass irgend jemand uns verdächtigt
angesichts dieser (Gaben-)Fülle, die von uns besorgt wird,
(21) denn wir sind bedacht auf Gutes, nicht allein vor dem Herrn,
sondern auch vor den Menschen.
(22) Wir haben aber mit ihnen unseren Bruder geschickt,
den wir in vielen Lagen oftmals als eifrig erprobt haben,
der nun aber [noch] viel eifriger ist in großem Vertrauen zu euch.
(23) Was Titus betrifft: er ist mein Genosse und Mitarbeiter bei euch;
was unsere Brüder betrifft: sie sind Abgesandte der Gemeinden, Ruhm Christi.
(24) Deshalb erbringt ihnen gegenüber den Erweis eurer Liebe
und [der Berechtigung] unseres Euch-Rühmens im Angesicht der Gemeinden.

2Kor 9:
(1) Über den Dienst an den Heiligen euch zu schreiben,
erscheint mir eigentlich überflüssig,
(2) denn ich kenne eure Bereitschaft,
die ich um euretwillen gegenüber den Makedoniern rühme,
[nämlich] dass Achaia vorbereitet ist seit Jahresfrist;
und euer Eifer hat die meisten [dort] angespornt.
(3) Gleichwohl habe ich die Brüder geschickt,
damit unser Rühmen um euretwillen in diesem Punkt nicht ins Leere gehe,
damit ihr, wie ich [schon] sagte, vorbereitet sein mögt,
(4) auf dass nicht etwa wir – um nicht zu sagen: ihr –
in dieser Situation blamiert werden,
wenn die Makedonier mit mir eintreffen und euch unvorbereitet finden.
(5) So hielt ich es nun für nötig, den Brüdern das Mandat zu übertragen,
zu euch vorauszureisen und eure versprochene Segensgabe vorher zurechtzumachen,
damit diese bereit sei – als eine Gabe des Segens und nicht als eine Gabe der Habsucht.
(6) Dies aber [gilt in der Regel]:
Wer zurückhaltend sät, wird auch zurückhaltend ernten;
und wer auf Segensgaben hin sät, wird auch auf Segensgaben hin ernten.
(7) Jeder [gebe], wie er es sich in seinem Herzen vorgenommen hat –
nicht aus Unlust oder aus Zwang,
denn "einen fröhlichen Geber liebt Gott" (nach Spr 22,8).
(8) Gott aber vermag jede charis zu euch überströmen zu lassen,
damit ihr – in allem allezeit vollauf Genüge habend – überströmt zu jedem guten Werk,
(9) wie geschrieben steht: "Er hat ausgestreut, er gab den Armen.
Seine Gerechtigkeit bleibt in Ewigkeit" (Ps 111,9 LXX).
(10) Der aber "Samen dem Säenden und Brot zur Speise" (Jes 55,10) gewährt,
wird [auch euch Samen] gewähren und euren Samen mehren
und wachsen lassen die Früchte eurer Gerechtigkeit.
(11) Ihr werdet reich gemacht zu jeder schlichten Güte;
und die bewirkt durch uns Dank für Gott.
(12) Denn das diakonische Werk dieses Gottesdienstes
füllt nicht nur den Mangel der Heiligen auf,
sondern schafft darüberhinaus für Gott Überfluß durch viele Dankgebete.
(13) Wegen der Bewährung in diesem diakonischen Werk verherrlichen sie[3]
Gott für den Gehorsam eures Bekenntnisses zu dem Evangelium des Christus
und die schlichte Güte der Gemeinschaft zu ihnen und zu allen.
(14) Und in ihrem Gebet für euch sehnen sie sich nach euch
wegen der überschwänglichen charis, die Gott euch erwiesen hat.
(15) Charis aber sei Gott für seine unbeschreibliche Gabe!"[4]
Es ist wiederholt aufgefallen, dass Paulus in 2Kor 8-9 – anders als in 1Kor 16,1f.[5] – kein einziges Mal den Terminus technicus für „Kollekte“, nämlich logeia, gebraucht, sondern von ihr vor allem als charis (Gnade, Heil, Liebe, Dank, Schönheit, Anmut ...), dann aber auch als eulogia (Segen), koinōnia (Gemeinschaft), diakonia (Dienst – an den Mitmenschen) und leitourgia (Gottesdienst) spricht: Die gesammelten Gaben der korinthischen wie der makedonischen Gemeinden sind also Gnaden-, Liebes- und Segensgaben. In ihnen bewährt sich die Gemeinschaft der ChristInnen untereinander ebenso wie ihre Gemeinschaft mit Gott; als diakonisches Werk an den Heiligen in Jerusalem sind sie zugleich Gottesdienst. Meine gabentheologische Auslegung folgt diesen Bezeichnungen der Kollekte.

1. "Wir teilen euch die charis Gottes mit ..." – oder: Grazie, der Inbegriff göttlichen und menschlichen Gebens

Den unauflöslichen Zusammenhang von göttlicher Gerechtigkeit, der Rechtfertigung sola gratia und dem gerechten Tun des Menschen bringt Paulus in 2Kor 8-9 unüberbietbar dadurch zum Ausdruck, dass er göttliche und menschliche Gaben, göttliches Geben und Nehmen und menschliches Nehmen und Geben[6] auf ein und denselben Begriff bringt: charis. Charis ist das Leitmotiv der paulinischen Werbekampagne für die Jerusalemer Kollekte.[7] Es meint in seinem profanen Sinn "das freie, unerzwingbare, glückhaft geschenkte Offensein füreinander"[8]. Sein theologisches Bedeutungsspektrum reicht von "Gnade", "Gunst" und "Heil" über "Dank" bis zu "Schönheit" und "Anmut". In 2Kor 8-9 ist charis ein Synonym für die Kollekte als eines Kooperations- und wechselseitigen Gabeprojekts zwischen Gott und den Menschen. Charis bezeichnet hier zunächst die Vorgabe der göttlichen Gnade und Gunst (8,1; 9,14), die der Gemeinde in der Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth zugeeignet worden ist (8,9), sie überreich begabt hat (8,7) und je neu so beschenkt, dass sie selbst nicht nur Genüge, sondern Überfluß hat und darum ihre Begabungen mit anderen teilen kann (9,8). Charis meint sodann das Weitergeben dieser göttlichen Vorgabe zwischen den Gemeinden, ihre Mitarbeit in Sachen Kollekte (8,4.6.19), die die Gemeinschaft unter den beteiligten heidenchristlichen Gemeinden wie mit den JudenchristInnen in Jerusalem wenn nicht allererst konstituiert, so doch bewährt und verstärkt. Auch die Beteiligung am Kollektenprojekt ist charis, Gnade. Und schließlich bringt charis die Gabe auf den Begriff, die Gott selbst von menschlicher Seite zurückempfängt: den Dank (8,16; 9,15). In der Bewegung des paulinischen Textes kehrt die von Gott ausgegangene charis (8,1) zu Gott zurück (9,15). Die göttliche Vorgabe an die Menschen wird zur menschlichen Gegengabe an Gott. In ihren Dankgebeten geben Menschen an Gott zurück, was sie von ihm empfangen haben. Sie geben ihm seine Gaben als ihre Gaben – und doch zugleich mehr, denn in den zwischengemeindlichen Gebeereignissen hat sich die göttliche charis angereichert: Aus der charis ist die eu-charis-tia (9,11f.) geworden. Deren buchstäblich offenkundiger Mehrwert ist aber gerade nicht durch Akkumulation der Gaben, sondern durch deren gerechte Verteilung entstanden. So notwendig dem Geben ein Nehmen entsprechen muß – die Betonung liegt hier nicht auf dem Nehmen, sondern auf dem Anteilgeben an den empfangenen Begabungen, also auf deren erneuter (zumindest partieller) Verausgabung.

Gehören für Paulus in 2Kor 8-9 im Begriff der charis Gott und Geld, Gottes Großzügigkeit und menschliche Freigebigkeit, Gnade und Gerechtigkeit "zuhauf", so ist zugleich zu berücksichtigen, dass charis nicht nur den Inhalt der göttlichen Gabe, sondern auch die Art und Weise des göttlichen Gebens ausmacht: Gott gibt seine Grazie (gratia), und dieses Geben ist selbst graziös. Gott gibt (mit) Charme. Seine Gaben sind voller Anmut, und er gibt sie auf anmutige Weise. Gnade und Schönheit, Soteriologie und Ästhetik werden im Begriff der charis zusammengehalten. Entsprechendes gilt für Ethik und Ästhetik. Das Kollektenprojekt des Paulus hat Charme, wo sich in ihm die Gerechtigkeit Gottes als gerechte Güterverteilung zwischen den Gemeinden irdisch realisiert. Gerechte Gaben sind schön und machen schön. Das Geben soll der Anmut nicht entbehren. Geiz, Unlust und Zwang (9,5-7) würden seine Schönheit zerstören, es häßlich machen.

Charis, das theologisch, christologisch-soteriologisch und ekklesiologisch geradezu überdeterminierte Leitwort des paulinischen Kollektenschreibens ruft den Gesang in Erinnerung, den die Grazien, die Chariten, in Goethes Faust II auf die Trias eines anmutigen Geben, Empfangen und Danken[9] anstimmen. Seine zweite Zeile hat diesem ersten Band der Jabboq-Reihe den Titel gegeben:

 

"Aglaia:                             Anmut bringen wir ins Leben;
                                            Leget Anmut in das Geben.
Hegemone:                       Leget Anmut ins Empfangen,
                                            Lieblich ist's, den Wunsch erlangen.
Euphrosyne:                     Und in stiller Tage Schranken
                                            Höchst anmutig sei das Danken."[10]

Eng verbunden mit dem Leitwort der charis und nicht weniger gehäuft begegnen Motive des Überflusses, Überströmens, Überreichseins (8,2.7.14; 9,1.8.12), die verstärkt werden durch andere Worte, die Reichtum und Fülle ausdrücken (8,1.9.15.20; 9,11) und durch einen gehäuften Gebrauch von Pronomina wie „alle/s“, „jeder“, „vieles“ (8,7.15.22; 9,8.11.13) bis hin zu entsprechenden Wortspielen (8,22; 9,8). Dieser Befund macht überdeutlich, dass im Zentrum der paulinischen Argumentation das verschwenderische Anwachsen, das Überreichwerden und Überfließen der Gabe der charis steht. Unterwegs, genauer: auf dem Weg von Gott (8,1) zu Gott (9,15) reichert sich die charis an – und zwar dadurch, dass Menschen die von Gott empfangenen Gaben miteinander teilen. Dabei geht es keineswegs nur um das Teilen des Lebensnotwendigen, sondern um Teilhabe an der göttlichen Lebensfülle. Was Inbegriff der Zuwendung Gottes ist: Gnade, wächst unter den Menschen durch Partizipation, durch gerechte Güterverteilung. Angereichert mit der Bewährung der Gemeinden im Dienst an ihren MitchristInnen und an Gott, mit Erfahrungen von Gemeinschaft, in denen Gerechtigkeit geschieht, wechselseitiges Teilgeben und Teilnehmen am Leben und allen seinen Gütern, kehrt die charis zu ihrer Quelle zurück, macht Gott selbst überreich und bewirkt neuen Überfluß bei Gott (9,12).

Indem Paulus die Sammlung für die „Heiligen“ in Jerusalem vor allem als charis bezeichnet, erinnert er daran, dass die heidenchristlichen Gemeinden in Makedonien, Achaia und Korinth nichts anderes geben können, als was sie selbst empfangen haben. Nur Geschenktes haben sie zu teilen. Ihre Gaben stammen aus den Begabungen, die ihnen Gott verliehen hat. Auch ihre Kollekte ist „Gnade“, nicht selbstverdient, nicht selbstgemacht, nicht einfach verfügbar. Auch hier könnte Paulus fragen: "Was aber hast du, das du nicht empfangen hast?" (1Kor 4,7). Es gibt kein zwischenmenschliches Geben ohne ein vorgängiges Nehmen der göttlichen Gaben. Jedes Geben unter Menschen ist immer ein nehmendes Geben, das sich selbst dem göttlichen Geber und seiner unbedingten Vorgabe verdankt. Eben darin unterscheiden sich göttliches und menschliches Geben, auch dann wenn sie auf denselben Begriff gebracht werden.

Identifiziert Paulus die Kollekte als charis, dann bezeugt er damit einen unauflösbaren Zusammenhang, ein Entsprechungsverhältnis zwischen göttlichem und (zwischen)menschlichem Tun. Die charis ist Inbegriff der heilvollen Zuwendung Gottes zum Menschen, seiner freien und ungeschuldeten, dem Menschen ohne Vorleistung eben "gnädig", "gratis" zukommenden Begabung mit allen Gütern. Paulus erinnert die korinthischen ChristInnen daran, dass ihnen diese charis im Messias Jesus zuteil geworden ist (8,9): Der Weg Jesu von Nazareth ist als Selbsthingabe Gottes der tiefste Ausdruck der göttlichen charis. In der Person Jesu hat Gott seine Gottheit riskiert, sich vorbehaltlos auf das irdische Leben eingelassen, seine Gefährdung, seine Abgründe, seine Armut, Erbärmlichkeit und Ohnmacht bis in den Tod auf sich genommen, damit wir an seiner Lebensfülle Anteil bekommen.[11] Nur weil Gott seine charis nicht zurückgehalten, sich nicht selbst vorbehalten hat, sondern sie im Juden Jesus von Nazareth auch den Menschen aus der Völkerwelt mitgeteilt hat, ist ihnen ein Leben in autarkeia (9,8), ein autarkes Leben möglich. Gottes charis begabt menschliches Leben so, dass es Genüge haben kann. Gemeint ist damit aber gerade keine Selbstgenügsamkeit. Es geht vielmehr um ein solches Sich-genug-sein-Lassen an den göttlichen Begabungen, das in der Situation eines Mehr-als-genug nicht in Überdruß verfällt, sondern den Überschuß wie selbstverständlich als Anlaß zum Teilen be- und ergreift. Die Erkenntnis, dass sie ihr Leben mit allen seinen Gütern Gott verdanken, führt – darauf setzt Paulus – dazu, dass die korinthischen ChristInnen gar nicht mehr anders können, als sich an der Kollekte zu beteiligen; und zwar sich in einer Weise zu beteiligen, mit der sie der „gratis“ widerfahrenen eigenen Begüterung durch Gott entsprechen. Wenn sie die Einsicht in den Geschenkcharakter ihres eigenen Daseins zulassen, dann können sie sich dem Teilen ihrer Güter nicht länger verweigern, dann hat das aber auch eindeutige Konsequenzen für die Art und Weise ihres Engagements in der Kollektensache:

Dem charis-Charakter der Kollekte entspricht eine durch und durch freiwillige und fröhliche Beteiligung an ihr. Paulus wird nicht müde, die Freiwilligkeit der Partizipation an der Sammlung zu betonen.[12] Wo die Bereitwilligkeit der Gemeinden zum Spenden wie ihre Spenden selbst als charis ausgewiesen werden, da sind sie unverfügbare Gaben Gottes, die weder befohlen (8,8) noch erzwungen (9,7) werden können, die aber auch nicht (aus Angst um den eigenen Besitz und die eigene Zukunft) zurückhaltend (9,6) und geizig (9,5) ausfallen bzw. aus Unlust heraus (9,7) geschehen können. So läßt sich auch erklären, warum Paulus sogar das Wollen dem Tun überordnet: Mit der ungewöhnlichen Reihenfolge „nicht nur das Tun, sondern auch das Wollen“ (8,10) hat sich Paulus keineswegs "ungeschickt ausgedrückt oder versprochen"[13], sondern präzise zum Ausdruck gebracht, dass es auch ein erzwungenes, lust- und begeisterungsloses Tun geben kann, welches aber gerade nicht den Namen charis verdient. Freiwillige Spenden, die diesen Namen verdienen, stellen sich gleichsam von selbst ein, wo das eigene Hab und Gut als eine unverdiente Gabe Gottes wahrgenommen und zum Grund und Maßstab für die Gabe an andere wird (8,11ff.). Wo das der Fall ist, kann die Kollekte gar nicht anders denn als freudig (8,2; 9,7), frei- und bereitwillig, aus eigenem (Herzens-)Entschluß (9,7) vollendet werden. Und umgekehrt gilt: Nur wo die korinthische Gemeinde sich freiwillig an der Kollekte beteiligt, erkennt und anerkennt sie, dass sie ja nichts anderes gibt als das, was sie selbst „aus Gottes Grazie allein“ (Kurt Marti) empfangen hat. Erst wo sie anderen gegenüber selbst charis übt, nimmt sie ihren Reichtum als Ausdruck göttlicher Begabung wahr. Auch als Spende der Gemeinde ist und bleibt die Kollekte Gottes charis (9,14) und gehört als solche zu "seiner unbeschreiblichen Gabe" (9,15).

Nun schließt aber die betont freiwillige Beteiligung am Kollektenprojekt keineswegs aus, dass es sich bei der Sammlung der korinthischen und makedonischen Gemeinden um geschuldete Gegengaben an die Jerusalemer MitchristInnen handelt. Daraus macht Paulus keinen Hehl, als er in seinem Brief an die RömerInnen auf die Kollekte zu sprechen kommt:
"Nun aber reise ich nach Jerusalem, den Heiligen dienend.
Beschlossen haben nämlich Makedonien und Achaia,
eine Sammlung zu veranstalten für die Armen der Heiligen,
die in Jerusalem [leben].
Beschlossen haben sie [es] und sind [zugleich] deren Schuldner:
Denn wenn die Völker an ihren geistlichen Gaben Anteil bekommen haben,
dann sind sie auch schuldig,
ihnen mit ihren leiblichen Gaben einen Gottesdienst zu erweisen" (Röm 15,25-27).
Wie in den von M. Mauss beschriebenen Gabetausch-Systemen so kommen auch hier in der Kollekte für Jerusalem Freiwilligkeit und Verpflichtung zusammen: Die Kollekte ist die materielle Gegengabe für zuvor aus Jerusalem empfangene geistliche Gaben, nämlich die Verkündigung des Evangeliums. Die Veranstaltung der Kollekte entspringt dem eigenen Entschluß der heidenchristlichen Gemeinden und ist gleichwohl eine geschuldete Antwort auf die Vorgabe der Jerusalemer (wie Gottes). Dass eigene Bereitwilligkeit und Verpflichtetsein nicht in einen Gegensatz auseinander treten, hat auch hier seinen Grund darin, dass die Gabe selbst so bezwingend ist, dass die EmpfängerInnen nicht anders können, als sie weiterzugeben. Als charis sind die Gaben transparent auf Gott als ihren ursprünglichen und bleibenden Geber hin. Der Geist, der zum freiwilligen und fröhlichen Geben, Nehmen und Erwidern der Gaben "zwingt", der die Kollekte zu einer Herzensangelegenheit (9,7; 8,16) macht, ist die Präsenz des göttlichen Gebers in ihnen.

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[1] Umstritten ist, ob es sich dabei um eine Selbst- oder eine Fremdverpflichtung handelt. Zur Geschichte des paulinischen Kollektenprojekts vgl. Dieter Georgi, Der Armen zu gedenken. Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem, 2. durchgesehene und erweiterte Aufl., Neukirchen-Vluyn 1994.

[2] Um charis als das Leitwort von 2Kor 8-9, das in seiner ganzen Bedeutungsvielfalt (vgl. dazu unten Abschnitt III.1) hier vorkommt, auszuweisen, lasse ich es bewußt unübersetzt. Je nachdem, welcher Bedeutungsaspekt im Vordergrund steht, wäre es als Gnade, Liebe, Gunst, Dank, Schönheit, Anmut ... zu verdeutschen. Hier soll zunächst deutlich werden, dass es sich dabei jeweils um ein und dieselbe Gabe/Begabung handelt.

[3] Gemeint sind die Jerusalemer MitchristInnen als die EmpfängerInnen der Kollekte.

[4] Ich gehe in meiner gabentheologischen Auslegung von 2Kor 8-9 von der literarischen Einheit des Textes in seiner kanonischen Endgestalt aus. In der Forschung sind sowohl der Zusammenhang, die zeitliche Abfolge und die(selbe) Adressierung dieser beiden Kapitel wie auch ihre (jeweilige) Zuordnung zu verschiedenen Teilen der beiden Korintherbriefe umstritten (vgl. dazu den Überblick bei Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 1994, 101-111, und besonders Hans-Dieter Betz, 2. Korinther 8 und 9. Ein Kommentar zu zwei Verwaltungsbriefen des Apostels Paulus. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und für die deutsche Ausgabe redaktionell bearbeitet von Sibylle Ann, Gütersloh 1993, 25ff.251ff.). Überzeugende Gründe für die literarische und theologische Einheitlichkeit des Textes nennen Philipp Bachmann, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (KNT VIII), Leipzig/Erlangen 41922, 335f.; Christian Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (ThHK NT 8), Berlin 1989, 162-166; Hans-Michael Wünsch, Der paulinische Brief 2Kor 1-9 als kommunikative Handlung. Eine rhetorisch-literaturwissenschaftliche Untersuchung (Theologie 4), Münster 1996, 54-62. Die beiden Kapitel sind in jüngster Zeit vor allem unter rhetorischen und kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten analysiert worden (vgl. die genannten Arbeiten von H.-D. Betz und H.-M. Wünsch). Für meine biblisch- und systematisch-theologische Interpretation verdanke ich wichtige Anregungen der Studie von D. Georgi "Der Armen zu gedenken", die die zahlreichen traditionsgeschichtlichen Motive (bes. aus der jüdischen Weisheitsliteratur) erhellt.

Für ein Gespräch mit der exegetischen Literatur zu 2Kor 8-9, das hier aus Platzgründen nicht möglich ist, verweise ich auf die in Anm. 13 angekündigte Arbeit.

[5] Zur Kollekte für Jerusalem vgl. außer 2Kor 8-9 auch 1Kor 16,1-4; Röm 15,25-29 und Gal 2,10. In 1Kor 16,1-4 wird die Kollekte als logeia (V.1f.) und charis (V.3) bezeichnet; in Röm 15,26 heißt sie koinōnia, und der Einsatz für sie ist leitourgia (V.27); nach Gal 2,10 drückt sich in ihr das Gedenken an die Jerusalemer MitchristInnen aus.

[6] Die unterschiedliche Rolle Gottes und der Menschen im wechselseitigen Gebeereignis (wiederum: nicht Gabeereignis! vgl. oben II.4) besteht nicht darin, dass dem gebenden Gott (der in seiner Selbstgenügsamkeit eines Nehmens gar nicht bedürfe) die empfangenden Menschen gegenüberstehen; vielmehr gibt es auf beiden Seiten Geben und Nehmen – aber in genau umgekehrter Reihenfolge: Gott gibt und nimmt; sein Nehmen ist immer zugleich ein gebendes Nehmen. Die Menschen nehmen und geben; ihr Geben ist nicht anders denn als nehmendes Geben möglich. So ist wohl auch jene schroff wirkende Liedzeile von Cornelius Fr. A. Krummacher: "... nichts hab ich zu bringen, alles, Herr, bist du!" (eg 407,3) nicht so zu verstehen, dass Menschen Gott gar nichts geben können, sondern dass sie ihm nur das bringen können, was sie zuvor von ihm entgegengenommen haben, dass das, was sie ihm geben, seine Gaben sind und bleiben (vgl. dazu unten Abschnitt IV.).

[7] Vgl. 2Kor 8,1.4.6f.9.16.19; 9,8.14f.

[8] Klaus Berger, Art. "charis: Gnade, Dank, Ansehen", in: EWNT 3, Stuttgart u.a. 21992, 1095-1102, Zitat: 1096.

[9] In diesem Dreiklang läßt sich unschwer M. Mauss' dreifache Verpflichtung zum Geben, Nehmen und Erwidern der Gabe wahrnehmen, stellt doch die Dankbarkeit die symbolische Form der Gegengabe dar.

[10] Johann Wolfgang von Goethe, Faust II, 1, 5299-5304 (Hervorhebung M.F.).

[11] In der Menschwerdung wird die Selbsthingabe Gottes zu einem nehmenden Geben, also zur menschlich-geschöpflichen Art des Gebens, bei dem das Nehmen – so B. Waldenfels – "kein Ansichnehmen, kein Bekommen oder Erhalten, sondern ein Aufsichnehmen und Übernehmen" (Antwortregister, 614) bedeutet.

[12] 8,11f.; 9,2.6f.; vgl. auch 8,3.17.19.

[13] Hans Lietzmann, An die Korinther I/II (HNT 9), Tübingen 31931, 135.

 


Magdalene L. Frettlöh