Zukunftsmusik

Predigt zu Psalm 66 und zur Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ (BWV 51)


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Am 3. Oktober 2020 in der Kaiser-Wilhelm- Gedächtnis-Kirche, von Kathrin Oxen

Draußen fliegt die Landschaft vorbei, abgeerntete Felder, erstes buntes Laub in dem Bäumen, Alleen und Straßen, Häuser, Dörfer, Städte im milden nachsommerlichen Licht. Eine Zugfahrt von Berlin nach Hannover, dazu im Kopfhörer zur Vorbereitung auf heute die Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“.

Irgendwo zwischen Stendal und Wolfsburg treibt es mir plötzlich die Tränen in die Augen. Mit der Musik fliegt die Landschaft vorbei, eine jubelnde Stimme und draußen das obere Havelland und die Altmark, der Drömling, das Allertal und die Okeraue, alles nur noch Landschaften in einem einzigen, vereinten Land. Die Grenze wie übertönt im Klang der Trompeten, bloß noch eine verschwommene Erinnerung. An der Bahnstrecke nicht mal ein Schild wie an der Autobahn: „Ehemalige innerdeutsche Grenze 1945-1990“.

Irgendwo kurz vor Wolfsburg muss sie gewesen sein, dort wo gar kein Zug nach Berlin durchkam, denn Wolfsburg/Oebisfelde war nicht zugelassen für den Transit nach Berlin-West. Über Büchen oder Helmstedt ging es mit dem Interzonenzug, stundenlang durch Landschaften, die keinen Namen mehr hatten, nur noch „Zone“ waren. Heute bin ich in 90 Minuten in Hannover und am frühen Nachmittag zurück in Berlin. „Jauchzet Gott in allen Landen“, jauchzet Gott in diesem Land, das geteilt war und eins wurde, das Land, in dem die Grenzen verblassen und in Berlin die Unsicherheit wächst, wo genau noch einmal die Mauer entlang ging, die diese Stadt geteilt hat.

Draußen fliegt die Landschaft vorbei und mein Leben seit 1990. Ich gehöre zu den glücklichen Jahrgängen derer, deren Erwachsenenleben gerade begann, als die Grenze verschwand. Meine Welt war plötzlich nicht mehr verschlossen in Schlutup, kurz hinter Lübeck. Plötzlich bekam die Küstenlinie im Osten, auf der anderen Seite der Ostsee Namen. Bei gutem Wetter hatten wir sie sehen können, von dort, wo ich herkomme und waren doch nie dort gewesen. Und plötzlich an der B 105 entlang die Landschaft, weit und still und schön, unter dem hohen Himmel Mecklenburgs die Alleen und Straßen, Häuser, Dörfer, Städte, Boltenhagen, Wismar, Kühlungsborn und Rostock, geduckt und grau noch. Wie ein eben ein Land aussieht, wenn es auf seinen Frühling wartet.

Kommt her und seht an die Werke Gottes,

der so wunderbar in seinem Tun ist an den Menschenkindern.

Er verwandelte das Meer in trockenes Land,

sie gingen zu Fuß durch den Strom; dort wollen wir uns seiner freuen. (Psalm 66, 5f.)

 

Draußen zieht die Landschaft vorbei und mein Leben, 30 Jahre seit 1990. Davon habe ich fast genau die Hälfte im Osten Deutschlands verbracht, in Mecklenburg, meiner großen Liebe von Land, in Sachsen-Anhalt, wo ich glückliche Jahre hatte, obwohl es ja das Land der Frühaufsteher ist, zu denen ich nicht gehöre. „Kommt her und seht“ - ich bin hingegangen und habe dieses andere Land gesehen, seine Dörfer und Städte und viel mehr noch seine Menschen.

 

Lobet, ihr Völker, unsern Gott, lasst seinen Ruhm weit erschallen,

der unsre Seelen am Leben erhält und lässt unsere Füße nicht gleiten.

Denn, Gott, du hast uns geprüft und geläutert,

wie das Silber geläutert wird;

du hast uns in den Turm werfen lassen,

du hast auf unsern Rücken eine Last gelegt,

du hast Menschen über unser Haupt fahren lassen,

wir sind in Feuer und Wasser gekommen. (Psalm 66, 8-12)

 

Ich habe in den vergangenen 30 Jahren Menschen kennengelernt, die in dieses Lied einstimmen konnten. Denn es singt von ihren Erfahrungen, es war schon immer ein Lied der Unterdrückten und Bedrängten. Im Jubel der Eingangsarie ist schon die Rede von Kreuz und Not. Christinnen und Christen in der DDR haben dieses Kreuz und diese Not in besonderer Weise erfahren und sie reden viel zu leise davon. Schülerinnen und Schüler, die trotz bester Leistungen keinen Studienplatz bekamen, verspottet und beschämt wurden vor den Augen der ganzen Klasse, geprüft und geläutert, ob sie dem staatlichen Druck wohl standhalten würden. Junge Männer, die den Wehrdienst verweigerten und dafür ins Gefängnis kamen oder als Bausoldaten kaserniert sinnlose Arbeit zu verrichten hatten. Nachbarn und Arbeitskollegen, die den Christenmenschen übers Haupt fuhren, dafür sorgten, dass sie beruflich nicht weiterkamen wegen ihrer politischen Unzuverlässigkeit, sie verrieten und ihnen das Leben schwer machten. So viele beschädigte Lebensläufe.

 

Und so viel beharrliche Treue. Noch in den kleinsten Dörfern mit den kaputtesten Kirche war und ist eine oder einer, der den Schlüssel hat und manchmal fegt und Blumen auf den Altar stellt. Viele solche Menschen habe ich kennen gelernt und ich denke an sie alle, wie sie heute ihre Kirchen schön gemacht haben, weil morgen Erntedank ist. Sie werden Astern und Dahlien gebracht haben und Kohl und Kürbisse. Sie sind nicht laut, sie stehen nicht immer vorne. Da ist kein jubelnder Trompetenklang, denn ihre Dankbarkeit ist leise. Mit ihrem Leben haben sie auf die Treue Gottes geantwortet: „Wir beten zu dem Tempel an, / da Gottes Ehre wohnet, da dessen Treu, / so täglich neu, / mit lauter Segen lohnet“ (BWV 51, 2)

 

Immer habe ich mich nach solchen Begegnungen gefragt, wie es wohl mit meinem Glauben und meiner Treue ausgesehen hätte angesichts solcher Bedrängnisse und Zwänge. Und ich hoffe, es hat mich demütiger und vorsichtiger gemacht im Umgang mit Menschen aus dem Osten Deutschlands. Ich hatte nichts auszustehen, weil ich zum Konfirmandenunterricht ging und Theologie studieren wollte, im Gegenteil.

Und vorsichtiger bin ich auch geworden in meinem Urteil über Menschen, die sich zu DDR-Zeiten nicht zur Kirche, sondern zum System gehalten haben. Was weiß ich schon von ihrem Kreuz und ihrer Not, von ihren Bedrängnissen und Zwängen, die sie bewogen haben, ihre Entscheidungen so zu treffen, wie sie sie nun einmal getroffen haben. Dass es nicht so einfach ist und es sehr viele Möglichkeiten gibt zwischen Widerstand und Anpassung, das habe ich verstanden. Dass Schwäche und Verrat zu meinem Leben hätten gehören können, dass ich Ungerechtes hätte vorhaben können in meinem Herzen, wenn ich mein Leben auf der anderen Seite der Ostsee begonnen hätte. Und dass ich keinen Grund habe, mich über andere zu erheben.

 

Draußen sind 30 Jahre in das wiedervereinigte Land gegangen. Nach dem Jubel zu Anfang kommen die elegischeren Töne. Das ist nicht nur in der Kantate so. Noch habe ich die Bilder vor Augen, an die vor wenigen Tagen erinnert wurde, das Jubelgeschrei vor der Prager Botschaft, die Menschen in den überfüllten Zügen aus Prag, die Anfang Oktober mit den Interzonenzug im bayrischen Hof ankamen. Draußen zog das Land vorbei, das ihre Heimat war und trotzdem fürchteten sie nichts mehr, als das der Zug in den Westen anhalten würde.

 

Auf dem Bahnsteig gab es noch Freudentränen - und dann begann der viel weitere Weg als der über die Grenze, der Neuanfang im Westen. Fast zwei Millionen Menschen haben das erlebt. Und die, die im Osten blieben, standen genauso vor einem Neuanfang. Es war nicht alles gut, was seit 1989 im Osten Deutschlands geschehen ist. Es war auch nicht alles schlecht, genau wie zu DDR-Zeiten. Und wir aus dem Westen sind immer noch nicht die richtigen, um darüber zu urteilen oder gar mehr Jubel über die deutsche Einheit einzufordern. Freude kann leise sein. Und Dankbarkeit auch.

 

Kommt her, höret zu alle, die ihr Gott fürchtet;

Ich will erzählen, was er an mir getan hat

Zu ihm rief ich mit meinem Munde und pries ihn mit meiner Zunge

Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft,

noch seine Güte von mir wendet. (Ps 66, 16f.)

 

Wenn ich heute von meiner Heimat in Schleswig-Holstein durch Mecklenburg nach Berlin fahre, dann sehe ich ein ganzes Land in seinem Frühling. Das mit den „blühenden Landschaften“ war damals bestimmt zu früh und zu vollmundig gesagt. Aber es ist trotzdem etwas aufgegangen davon, auch wenn es lange gedauert hat. Nicht an allen Orten, aber an sehr vielen. Und das gibt mir Kraft und Zuversicht. Jetzt erleben wir in West und Ost zum ersten Mal gemeinsam eine sehr schwierige Zeit. „Jauchzet Gott in allen Landen“ ist schon wieder Zukunftsmusik, ist nur ein Lied. Aber mit diesem Lied fangen wir an: Amen, wir werden’s erlangen, glaub’n wir aus Herzengrund.

 

Amen


Kathrin Oxen

die reformierten.upd@te 09.2

Das reformierte Quartalsmagazin / Juni 2009
In diesen Tagen erscheint die neue Ausgabe von die reformierten.upd@te 09.2. Die Themen: Das Reformierte Zentrum auf dem Kirchentag und der Calvin-Festakt in Berlin - aktuelle Meldungen aus dem Reformierten Weltbund - die Predigt von Peter Bukowski zu Psalm 68 im ARD-Fernsehgottesdienst aus dem Französischen Dom zu Berlin am 12. Juli 2009

Jörg Schmidt, Generalsekretär des Reformierten Bundes, 10. August 2009

Church of Scotland begrüßt Entscheidung, den Lockerbie-Attentäter aus der Haft zu entlassen

''Eine Botschaft für die Welt, was es heißt, Schottisch zu sein''
Edinburgh (ENI). The (Presbyterian) Church of Scotland has said it fully supports a decision taken by the Scottish Government on 20 August to release the convicted Lockerbie bomber, Abdul Baset Ali al-Megrahi, on compassionate grounds. ''This decision has sent a message to the world about what it is to be Scottish,'' the Rev. Ian Galloway, convenor of the Church and Society Council of the Church of Scotland, said in a statement. ''We are defined as a nation by how we treat those who have chosen to hurt us. Do we choose mercy even when they did not choose mercy?''

Barbara Schenck
As Reformed churches worldwide prepare to celebrate the 500th anniversary on 10 July of the birth of Protestant Reformation leader, John Calvin, leaders of a global movement of Reformed churches have issued a statement calling on Christians to commemorate Calvin not as a saint but as a source of inspiration for responding to contemporary social and environmental concerns.

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Genf: Stadt Calvins und Stätte eines internationalen Calvinismus
(WARC/RWB) In Genf soll am 10. Juli eine kirchliche Gedenkfeier den 500. Jahrestag der Geburt Calvins, des Vorkämpfers der protestantischen Reformation, markieren. Diese Feier soll dem Einfluss des französischen Reformators auf die internationale Ausstrahlung und das Profil seiner Adoptivstadt gewidmet sein.

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In Erinnerung an Calvin als jungen Reformator ermutigt Generalsekretär Nyomi die Reformierte Kirche in Lithauen, jungen Leuten Raum für ihre Begabungen zu geben
(WARC, 24. Juni 2009) Youth should be entrusted with church leadership positions a senior Reformed church executive has told leaders of the Evangelical Reformed Church of Lithuania.

GEKE : Evangelische Kirchen mühen sich um Versöhnung 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs

Wipf: Einsatz für Minderheiten ist ''Nagelprobe des Bekenntnisses zur Freiheit''
Erinnerung an Grenzöffnung 1989 verpflichtet zum Einsatz für nationale und ethnische Minderheiten – erstarkter Nationalismus stellt das Miteinander in Europa in Frage – Präsident und Generalsekretär der GEKE auf Gedenkfeierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Grenzöffnung.

Sopron, 4. Juli 2009, Thomas Flügge, Pressesprecher Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE)

Der GEKE focus 6 (2/09) jetzt im Internet

zum kostenlosen Download auf www.leuenberg.eu
Human dignity vs. Christian morality? - Die Kluft zwischen Arm und Reich bedeutet soziale Ausgrenzung - Demeurer avec son temps - We are above all interested in the practice of faith

Thomas Flügge, GEKE

CH/Graubünden: Ein Prozent Kirchensteuern gegen die Armut

Reformierte Bündner Landeskirche leistet Beitrag zur Halbierung der Armut im Jahr 2015
Die reformierte Bündner Landeskirche setzt 127.000 Franken ihrer Steuereinnahmen gegen die Armut ein. Der Kirchenrat hat jetzt die Empfänger bestimmt: Das Kirchensteuerprozent wird für Hilfs- und Entwicklungsprojekte in anderen Kontinenten eingesetzt. Denn das Engagement der Landeskirche geht auf die Uno-Milleniumserklärung zurück, die bis zum Jahr 2015 eine Halbierung der weltweiten Armut erreichen will.

19.06.2009 RNA/comm. / GEKE-Newsletter
Das Präsidium der GEKE würdigt in einer Erklärung den 20. Jahrestag der Öffnung des Eisernen Vorhangs: Das grenzenlose Europa bietet Freiheit und Chancen, gleichzeitig belastet eine neue Re-Nationalisierung das Miteinander.

Wien/Bern, 24. Juni 2009 / Thomas Flügge (Pressesprecher)

Moderator der Presbyterian Church of Korea (PCK) für Abgabe eines ökumenischen Zehnten

Spende der PCK an den Reformierten Weltbund als Johannes Calvin Geburtstagsgeschenk
The Moderator of the Presbyterian Church of Korea (PCK) has told members of the World Alliance of Reformed Churches (WARC) that he believes churches should be motivated to engage in a movement for ''ecumenical tithing''.

Pressemitteilung des Reformierten Weltbundes, 5. Juni 2009