Erfahrungen als Minderheitenkirche

D.Dr. Christoph Klein, Bischof der Evangelische Kirche A.B. in Rumänien

Eingangsstatement beim Podium „Minderheitenkirchen in der Ökumene“ auf dem 2. Ökumenischen Kirchentag in München, am 15. Mai 2010

Meine Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder!

Zwei Stichworte enthält das Thema, über das wir hier sprechen: „Er­fah­rung“ und „Minder­heitskirche“. Somit möchte ich meine Ausführungen um diese beiden Begriffe kreisen las­sen. Das bedeutet, in einem ers­ten Teil zunächst über „Minderheitskirche“ zu re­flektieren und dann in ei­nem zweiten Teil etwas von meinen „Erfahrungen“ zu diesem Thema zu be­richten, wobei jeder der beiden Teile anhand von drei Thesen ge­gliedert sein sollen.

I. Minderheitskirche: drei Problemanzeigen

1. Minderheitskirche zu sein ist ein Schicksal, wir sagen als Christen bes­ser ein „Ge­schick“. Es ist eine Situation, in die man hineingeboren wird, mit der man aufwächst oder die einen durch große geschichtliche Umbrüche über­fällt. Das Letzte kann von unserer Kirche, der evangelischen Kirche A.B. (d.h. der lutherischen Kirche) in Rumänien gesagt werden. Sie hat in ihrer 850-jährigen Geschichte, vom 12. Jahrhundert bis heute viele Umbrüche erlebt. Von ihren Anfangsgründen an bis zur Zeit der Reformation und bis tief ins 18. Jahrhundert hinein war sie eine Mehrheitskirche, die so genannte „Kirche der Deutschen in Siebenbürgen“ oder „Kir­che der Siebenbürger Sachsen“, oder „Kirche Gottes der sächsischen Nation“, wie sie in den alten Dokumenten hieß, und als welche sie bis heute be­kannt ist. Ei­gentlich erst durch die beiden Weltkriege, zunächst allmählich und dann – nach dem II. Weltkrieg – fast schlagartig ist sie eine Minder­heitskirche neben der orthodo­xen, rö­misch-katholischen, refor­mierten, uni­tarischen und griechisch-katholischen Kirche geworden. Nach der Wende 1989 und der massiven Auswanderung der Deutschen aus Rumänien, zu dem Siebenbürgen seit 1918 gehört, ist sie in eine Minderheiten- und extreme Diasporasitua­tion geraten.

Das ist ein Geschick, das man annehmen, akzeptieren und mit dem man versuchen muss, fer­tig zu werden. Für eine ehemals volkskirchlich strukturierte Kirche, wie sie es bis ins Jahr 1990 hinein war, ist das ein besonders schmerzlicher, ja bedrohlicher Pro­zess. Aber es gibt Analogien: die Situation der jungen Christen­heit, so wie auch die Situation der Juden in der Diaspora. Und es ist die Situ­ation vieler Kirchen, die durch geschichtliche Umbrüche, wie sie bei uns, aber auch durch Verfol­gung oder – in der Zeit vor der Wende – durch kirchenfeindli­che Po­litik und atheisti­sche Ideologie entstanden ist. Daraus ergibt sich:

2. Die Minderheitskirche ist eine gefährdete Kirche. Sie leidet darunter, dass sie zahlen­mäßig klein ist und ihr eine weitere Schrumpfung droht, so dass sie sich ständig die Frage nach ihrer Zukunft stellt. Sie steht in der Ge­fahr, sich zu isolierten oder isoliert zu werden und sie unterliegt dem „Gesetz der kleinen Gruppe“. Deren Probleme hat Horst Richter in seinem Buch „Die Gruppe“ be­schrieben. Die kleine Gruppe ist nach ihm von der Gefahr bedroht, dass in ihr leichter Spannungen, Streitigkeiten und Identitätskrisen entstehen, die es zwar über­all im menschlichen Zusammenleben gibt, die aber hier we­niger verkraftet werden und sich verhängnisvoller und dramatischer auswirken. Darum braucht sie, um zu überle­ben, nicht nur Gleichbe­rechtigung (etwa vor dem Gesetz), sondern „Sonderrechte“, Privile­gien. Die ha­ben zum Beispiel unsere Vorfahren, die Siebenbürger Sachsen, im Reich der (ungarischen) Stephanskrone eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Kolonisten, fern vom „Mutterland“ Deutschland schon im 13. Jahrhundert verbrieft bekommen. Und nur auf diese Weise konnten sie bis in die Gegenwart überleben, Rechte, die sie sich – wie andere Minderheitskir­chen – von der jeweiligen Obrigkeit (dem ungari­schen Reich, den Habsburgern und auch im heutigen Rumänien) immer neu erkämpfen mussten und in kleinerem oder größerem Maße auch er­halten haben. Ein wichtiges geschicht­liches Beispiel dafür ist die Tatsache, dass die Diaspo­rajuden, die sich im Römischen Reich niedergelassen hatten, solche Privile­gien zugesprochen erhielten (z.B.: nicht vertrieben wer­den zu dürfen, Bet­häuser und Friedhöfe zu besit­zen, reli­giöse Bräuche auszuüben, ja selbst eine eigene Rechtspflege oder Freistellung vom Militär zu beanspruchen). Die jeweiligen Ob­rigkeiten wa­ren auch an der Erhaltung der Minderheit in­te­ressiert, deren Bedeutung sie – wenn auch nicht durchwegs – aner­kannten. Wo das nicht der Fall war (z.B. in der Zeit der kommunisti­schen Diktatur) hat sich das auch für das Staats­volk negativ ausgewirkt.

3. Die Minderheitskirche wird leicht marginalisiert. Sie leidet nicht nur an der Tatsache ih­rer geringen Größe sondern auch daran, dass sie von der Mehr­heitskirche (den Mehrheitskir­chen) bewusst oder unbewusst über­sehen, an den Rand gewiesen wird, ja – unter Umständen – angefeindet wird. Sie genießt nicht die Aufmerksam­keit, die ihr gebührt und sie selbst erwartet. Und das oft, weil man von dieser Kirche einer Minderheit zu wenig weiß, sie falsch beurteilt oder un­terschätzt. Dabei sind Min­derheitskirchen um­gekehrt eine Herausforderung als Vorbild an die großen Kirchen: Sie haben die Chance, ihren Mitgliedern Nestwärme zu geben, eine Familie zu werden, Zuflucht zu bieten, den Zusammenhalt mehr zu pflegen, weil sich ihre Gemeinde­glieder kennen, sich näher stehen, für die Ge­meinschaftspflege offener sind. Die so genannte Marginalisierung, die bis zur Wende in den kommunistischen Staaten von Osteuropa an­ge­strebt wurde und die immer wieder in den 45 Jahren der Diktatur aufge­tretenen Verfolgungs­wellen haben den Kirchen etwas ge­bracht, was man das „Kapital des Leidens“ nennen kann, das in der Situation der angestrebten Gettoisierung zu einer „geistlichen Kraft“ werden konnte. Das ist die andere Seite der „kleinen Gruppe“.

Vor dem Hintergrund dieser drei Probleme gibt es jedoch ganz bestimmte Erfahrungen, von denen wir hier die drei folgenden nennen wollen:

II. Drei Erfahrungen als Minderheitskirche

1. Nicht Fatum, sondern Datum. Unsere Erfahrung ist, dass wir das Schicksal, das Geschick das als Kirche in einer Minderheitssituation über uns gekommen ist, nicht als Fatum sondern als Datum, d.h. als von Gott ge­geben und auferlegt deuten können. So wie das Kreuz Christi durch die Auferstehung seinen von Gott gewollten Sinn oder seine eigentliche Erfül­lung er­fährt, so kann es auch in der Minderheitskirche sein. Was menschlich als Verhängnis oder gar Fluch aussieht – wie der Verbre­chertod Jesu am Kreuz – muss angenommen werden als der Weg, den Gott uns führt. Und das bedeutet: damit ge­schieht etwas von der Welt Gottes her, das wir aus eigenem Antrieb nie zustande bringen würden. Die Er­fahrung, die wir in dieser Situation gemacht haben ist, dass unsere Kirche, die bisher in sich ge­schlossen war und sich, wie eine befestigte „Kirchenburg“ (das war bei uns ein Symbol für Kirche überhaupt) abge­grenzt hat, die Öffnung nach außen gelernt hat: die Öffnung für andere Christen, andere Glaubens­weisen und Traditionen, andere Sprachen und Kulturen. Die konfessionell klar defi­nierte Volkskirche fürchtet leicht um ihre Identität und darum, dass sie ihre Verwur­zelung in der Ge­schichte und kirchlichen Wesensart verliert. So war es schon bei den Jüngern Jesu, die – nach Johannes 20,19 – ihre Tü­ren ver­sperrten „aus Furcht vor den Juden“, so dass sie Jesu aufbrechen musste, um eintreten zu können, angenommen und erkannt zu werden. Unsere Er­fah­rung ist: Der Einbruch durch die verschlossenen Türen und Tore unserer Kirche, so schmerzlich das ist, bringt einen großen Zu­wachs an Einsichten, Hilfe und Trost steigert die Kraft, Kirche neu zu verste­hen, aber auch neu zu strukturieren und umzugestal­ten. Diese Hilfe kann sehr konkret werden, wenn den wenig verbliebenen Evangelischen in einer Gemeinde nur noch Anderskonfessionelle und Anderssprachige bei­stehen (Rumänen, Ungarn, Roma), zum Beispiel bei der Gestaltung der Feste aber auch bei Begleitung im Alter und Sterben und den Beerdigungen und in anderen Notsituationen.

2. Nicht Manko, sondern Chance. Das ist eine zweite Erfah­rung, die beflügelt. Die wenigen können viel bewirken und darin Motivation und einen ungeahnten Kräftezuwachs erleben. Die gro­ßen Kir­chen leben von ihrer Zahl, die Minderheitskirche lebt von ihrem Gewicht („Christen werden nicht gezählt sondern gewogen“). Was alles von unserer jäh klein gewor­denen Kirche ausgegangen ist, hat viele in Erstaunen versetzt. Die diakoni­sche Tätigkeit, der Religionsun­terricht in den Schulen, unsere Frauen- und Jugendarbeit, die ökumenische Ges­taltung von Gottesdiensten (Weltge­betstag, Gebetswoche für die Einheit der Christen u.a.), die theologische Forschung, der interkonfessionelle Dia­log mit seiner Vermittlung zwischen Theologien und Kirchen un­terschiedli­cher Ausprägung – das alles ist seit Jahren eine Art von Vorreiterrolle. Solche Tä­tigkeiten haben wir bei den anderen Kirchen häufig ange­stoßen und Nach­ahmung und Akzeptanz ge­funden. Wir, die kleine, kleinste von den historischen Kirche unseres Landes hat inzwischen eine bedeu­tende Funktion in der zivilen Gesellschaft, und die deutsche Min­derheit hat in Hermannstadt (Sibiu, wo­her wir kommen) wie in anderen Städten und Gemeinden Bürgermeister ge­stellt und eine zum Teil überwie­gende Mehrheit im Stadt- und Kreisrat. Un­ser Bürgermeister Klaus Werner Johannis wurde bei den letzten Wahlen als Premierministerkandi­dat von allen oppositionellen Par­teien gehandelt – das ist einmalig in un­serer Geschichte.

3. Am Rand – aber auf der Grenze. Gewiss stehen Minderheitskirchen nicht im Mittel­punkt, das wollen sie auch nicht und das steht keiner Kirche gut. Aber unsere Erfahrung ist: die kleine Kirche hat ihren Platz „auf der Grenze“ ge­funden, einen Platz, den sie sich nicht gesucht, sondern der ihr von den an­deren zugewiesen und zugemutet wird. „Auf der Grenze“ ist – nach Paul Tillich – „der fruchtbarste Ort der Erkenntnis“, aber nicht nur der Erkennt­nis. Dies kann auch für eine Kirche gelten, auch für unsere Kirche: sie steht auf der Grenze zwi­schen Kir­chen und Kon­fessionen, zwischen Sprachen und Kulturen, zwischen theolo­gischen und ökumenischen Kon­zepten. Das ist in einer Zeit so vieler Kon­flikte, Spannungen und Kontroversen eine große Rolle und stellt sie vor die wichtige Aufgabe einer Brückenfunktion und ei­nes immer wie­der notwendigen Katalysators. Ihr Standort als eine Kirche zwischen West und Ost, mit einer westlich geprägten Theologie und einer Kirche, die durch Reforma­tion und Aufklä­rung hindurchgegangen ist be­deutet für das Ge­spräch mit der orthodoxen Kir­che, die eine an­dere kirchli­che und theologische Entwicklung genommen hat, ein beidseitiger Gewinn. In diesem Sinne werden wir in die Situation versetzt, „Kirche für andere“ zu sein, aber auch immer als „Kirche mit anderen“ und „von anderen her“. Es ist ein Geben und ein Nehmen, nicht nur in der Bewältigung von Proble­men, sondern auch dort, wo es um Sinnfin­dung, um das Ringen um ethische Fragen und um Erneuerung geht. Der Ort „auf der Grenze“ hat die Funktion „zwischen östlicher Weisheit“ und „westlichem Wissen“ zu ver­mitteln und für beide fruchtbar zu machen. Diese durch die Traditionen ei­nes Jahrhunderte langen Zusam­menlebens zugewiesene Aufgabe hat dazu geführt, dass wir Gastge­ber der 3. Europäischen Ökumenischen Versamm­lung 2007 sein konnten, in dem Jahr, da wir – zusammen mit Lu­xemburg – Europäische Kulturhaupt­stadt waren, dem Jahr auch, da wir der EU beitre­ten konnten. Das gemein­same Haus Europa, in dem wir jetzt wohnen, er­möglicht weiteren Aus­tausch von Erfahrungen, wie an diesem ökumeni­schen Kirchentag in München.

Und das, damit wir – wie ihr – „Hoffnung haben“.

Schlussfolgerungen

Es geht

1. um das Kultivieren eines gewissen Selbstbewusstseins als Minderheitskirchen mit der Chance, für „Öffnung“ zu stehen und vorzuleben, wie wichtig es ist, „Kirche für andere“, „mit ande­ren“ und „von anderen her“ zu sein. Die Minderheitskirche lebt von einer großen biblischen Verheißung, wie sie im AT und NT verankert ist und wie die Geschichte der Christenheit be­weist. Das soll auch in unserer Gegenwart gelten.

2. um das Entwickeln einer „Theologie der Minderheits- oder Diasporakirche“, die einen eben­bürtigen Platz neben anderen „Theologien“ beanspruchen darf. Dazu gehört, die Bibel „dias­porabewusst“ zu lesen: so wie die Bibel femi­nistisch, diakonisch oder von der Befrei­ungs­theologie her kommend gelesen und ausgelegt werden kann. Das heißt, dass man sie auch mit den Augen eines Menschen lesen sollte, der in einer Minderheitskirche lebt und ver­sucht, sie als solche spre­chen zu lassen. Man wird existentiell neue Er­kenntnisse gewinnen, die hilf­reich auch für andere sind.

3. um das Entdecken der Rolle der Minderheitskirche in der ökumenischen Zu­sammenarbeit als Vermittlerin und Brückenbauer zwischen unterschied­lichen Positio­nen in Kirche, Theolo­gie und Gesellschaft. Der Standort „auf der Grenze“ soll fruchtbar werden für die Kirche Jesu Christi in ihrer Besin­nung nach Erneuerung und Klärung ihrer Aufgabe in dieser Welt. Und das in dem Erscheinungsbild der vielen Kirchen, aber von Kirchen „in versöhnter Ver­schie­den­heit“.


D.Dr. Christoph Klein, Bischof der Evangelische Kirche A.B. in Rumänien
Bischof Klein, Rumänien, Professor Garrone, Italien, Präsident Pfr. Wipf, GEKE, Bischof Bölcskei auf dem Podium

Wie ein Rad, das nicht rund läuft, ist die Ökumene für Minderheitenkirchen in Europa oftmals in der "Unwucht". Das wurde beim Podium "Europäische Ökumene in der Unwucht" beim 2. Ökumenischen Kirchentag deutlich.