Gottes Patchworkfamilie

Predigt zu Markus 3, 31-35

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Jesus ein Hass-Prediger? Was hinter seinen radikalen Worten über Familie steckt, führt zurück zur Provokation einer neuen Ethik.

1Jesus spricht: "Wer nicht sei­nen Vater hassen wird und seine Mutter, wird mir kein Jünger sein können. 2Und wer nicht seine Brüder und Schwes­tern hassen wird […] wird mei­ner nicht würdig sein."

Wie bitte? Wo soll Jesus das gesagt haben?

Hat er nicht schon als Kind die Zehn Gebote gelernt: Du sollst Vater und Mutter ehren.

Ja, hat er nicht dieses Gebot sogar in der Bergpredigt verschärft: …

Und jetzt: Jesus – ein Hass-Prediger?

Nun entspricht das Wort ‚hassen‘ nicht ganz dem griechischen Original. Wenn wir im Deutschen von Hass sprechen, denken wir an wilde Emotionen. Gemeint ist aber eher: ablehnen, gering schätzen. Doch auch das passt nicht so recht zu unserem Bild von Jesus.

Allerdings ist der Spruch, den ich vorgelesen habe, sehr gut bezeugt. Ich habe ihn aus dem Thomas-Evangelium zitiert, einer frühen Schrift außerhalb des Neuen Testaments. Aber er findet sich auch bei Lukas und Matthäus. Und offensichtlich hatten die Evangelisten schon ihre Schwierigkeiten damit. Matthäus (10) scheut die provozierende Rede und überliefert stattdessen: 35Ich bringe Streit zwischen einem Sohn und seinem Vater, einer Tochter und ihrer Mutter,einer Schwiegertochter und ihrer Schwiermutter. 36Die engsten Verwandten eines Menschen werden dann zu seinen Feinden. 37Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist es nicht wert, zu mir zu gehören. Und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist es nicht wert, zu mir zu gehören.1

Wie können wir mit solchen Sätzen umgehen?

Glücklicherweise ist der Streit darüber, was nun Jesus wirklich gesagt hat und was nicht, längst in den Hintergrund getreten. Er lässt sich nicht klären. Punkt. Wir haben stattdessen die – oft unterschiedlichen – Erinnerungen von Menschen, die von ihm oder von den Erzählungen über ihn bewegt wurden. Wir haben ihr Jesus-Bild. Und wir können es auf uns wirken lassen. Immer wieder neu.

Ich darf Ihnen heute die Wirkung auf mich zur Diskussion stellen. Die Wirkung vom September 2025. Hier und heute trifft für mich das Jesuswort mit großer Wucht mitten hinein in eine politische Situation, die zum Verzweifeln ist. Wie können wir überhaupt noch wahrhafte Christinnen und Christen werden und bei anderen Gehör finden?

Aber zuerst noch einmal 2000 Jahre zurück. Wenn ich über die Leute nachdenke, die Jesus erlebten oder von ihm hörten, so waren das sicher brave und ordentliche Menschen, die sich verhalten haben, wie es sich eben gehörte. Sie bemühten sich redlich ihre Pflichten zu erfüllen. Und ihre Pflichten galten zuallererst ihrer Familie und deren Interessen. Zu lieben hatte man Vater und Mutter und die Geschwister. Dann vielleicht noch die Verwandten und die Gastfreunde. Die Sklaven dagegen, für die ein Familienvater auch verantwortlich war, wurden nach dem Maß ihres Nutzens behandelt – juristisch galten sie als Sache. Wer besonders fromm war, kümmerte sich auch um Mittellose und Kranke außerhalb der Familie. Und wer es sich leisten konnte, fühlte sich vielleicht noch für die Belange des Dorfes oder der Stadt verantwortlich. Aber spätestens an den Grenzen des Landes endete die Menschenliebe.

So war das eben. Seit Generationen selbstverständlich. Gewissermaßen naturgegeben. Jetzt aber aus dem Munde dieses Wanderpredigers solch eine Provokation! Ich aber sage euch: „Wer nicht sei­nen Vater hassen wird und seine Mutter, wird mir kein Jünger sein können. 2Und wer nicht seine Brüder und Schwes­tern hassen wird […] wird mei­ner nicht würdig sein."

In die Nachfolge Jesu zu treten bedeutet offensichtlich, sich von überkommenen Verhaltensregeln radikal zu lösen. Es reicht nicht mehr, die Familie und die eigene kleine Welt, in der man zuhause ist, zu lieben. Christinnen und Christen müssen über diese Pflichten hinauswachsen.

Eine neue, eine andere Ethik ist gefordert. Aber welche?

Eine Geschichte über die Familie Jesu gibt dazu Auskunft. Sie wird von drei Evangelisten überliefert. Und sie ist so befremdlich, dass sie sicher nicht erfunden ist. Denn sie passt auch nicht ins überlieferte friedlich-freundliche Bild von Jesus.

Markus 3, 20f. / 31-35, Parallelen: Matthäus 12,22-32 / 46-50; Lukas 11,14-23 / 8, 19-21

20Dann ging Jesus nach Hause. Wieder strömte die Volksmenge zusammen, sodass Jesus und seine Jünger noch nicht einmal zum Essen kamen. 21Als seine Verwandten das hörten, machten sie sich auf den Weg zu ihm. Sie wollten ihn mit Gewalt dort wegholen, denn sie sagten: »Er ist verrückt geworden.« … 31Inzwischen waren die Mutter und die Brüder von Jesus gekommen. Sie blieben draußen stehen und schickten jemand, der ihn rufen sollte. 32Aber die Volksmenge saß um Jesus. Sie sagten zu ihm: »Sieh doch, deine Mutter, deine Brüder und deine Schwestern stehen draußen. Sie suchen nach dir.« 33Aber Jesus antwortete: »Wer ist meine Mutter? Und wer sind meine Brüder?« 34Er blickte die Leute an, die rings um ihn saßen, und sagte: »Das sind meine Mutter und meine Brüder! 35Wer tut, was Gott will, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.«

Eine neue, eine andere Ethik.

35Wer tut, was Gott will, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.« Nicht die Verwandtschaft als Abstammungsgemeinschaft ist hier Ziel und Inhalt moralischer Pflichten. Gottes Wille gilt es zu erfüllen, sein höchstes Gebot. Und das lautet nach Jesus: Liebe deine Mitmenschen! Alle. Was damit gemeint ist, zeigen uns die Erzählungen der Evangelien. Mitmenschen von Jesus sind die ausländische Frau am Brunnen, der Besatzungsoffizier mit seinem kranken Hausbewohner, die gelähmte Frau ohne Familie, die namenlosen Bedürftigen, die Verachteten am Rande der Gesellschaft. Und um einer solchen neuen Ethik willen haben die Zeuginnen und Zeugen Jesu ihre Familien verlassen, jahrhundertealte Vorurteile überwunden, die gesellschaftlichen Regeln missachtet. Diese Ethik fragt nicht nach Herkunft oder Status. Sie macht keine Unterschiede zwischen Nationen. Sie sieht in jedem Menschen ein schützenswertes Geschöpf Gottes. Sie hat – zusammen mit der griechischen Philosophie – die antike Welt verändert. Trotz vieler Gegenströmungen. Trotz lebensgefährlicher Anfeindungen. Trotz Verfolgung. Und auf dieser neuen Ethik baut später die Aufklärung auf. Mit Kant fordert auch sie, dass unsere moralischen Entscheidungen übertragbar sein müssen auf alle Menschen.

Eine neue Ethik?

Eine veraltete Ethik – heißt es inzwischen.

Sie soll nicht mehr gelten in der Welt der Autokraten und Milliardäre. Weltfremde christliche Mitleidsethik ... Ein Hindernis für alle neuen Herrenmenschen. Sie fordern das Recht des Stärkeren, der seine Deals mit militärischer Gewalt oder wirtschaftlicher Erpressung durchsetzt.

Da gilt es wieder, nur die Verwandten zu lieben. America first. Deutschland den Deutschen. Russland in den Grenzen der UdSSR. Ausländer raus. Obdachlose außer Sichtweite. Kein Geld für internationale Hilfsorganisationen. Lebens- und Überlebenschancen nur für eine Elite.

Hab nur ich das Gefühl, dass das Rad der Geschichte rückwärts läuft? Das Rad … Sie kennen sicher den Satz von Bonhoeffer. Die Kirche müsse, wenn ein Unrechtsstaat droht, „nicht nur die Opfer unter dem Rad (zu) verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen (zu) fallen."

Ach, die vielen mutigen Bekennerinnen und Bekenner in der Kirche, die das versucht haben! In den mittelalterlichen Kirchengebäuden sehe ich sie. Die Heilige Barbara. Gegen den Willen ihrer Angehörigen wurde sie Christin und vom eigenen Vater getötet. Franz von Assisi. Seine wohlhabende Familie hat der Kaufmannssohn verlassen für ein Leben in Armut und Nächstenliebe. Und – weniger spektakulär – an Schwester Engelberta denke ich aus der Kita meiner Kinder. Eine offenherzige Nonne war sie und eine begnadete Pädagogin. Warum sie denn ins Kloster gegangen sei, fragten wir sie einmal. Naja, erwiderte sie, meine Brüder waren bei der SS. Da musste ich doch etwas tun. Und Bonhoeffer? Er hätte rechtzeitig in Amerika bleiben und dort ein sorgloses Professorenleben führen können. Heute wohl eher nicht mehr …

Aber mit diesen großartigen Beispielen habe ich mir jetzt selber eine Falle gestellt. Wollte ich mich nicht von den Worten im Predigttext unmittelbar ansprechen lassen? Und jetzt merke ich, dass ich offensichtlich für die wahre Jesus-Nachfolge überhaupt nicht tauge. Dass ich mich viel lieber der Familie Jesu anschließen würde. Ich verstehe Maria, die sich Sorgen um ihren Sohn, den skandalösen Wanderprediger macht. Ich verstehe seine Geschwister, die von ihm erwarten, dass er sie mit den Familienpflichten nicht alleine lässt. Ich lebe nicht in frei gewählter Armut. Und ich weiß nicht, wie ich mich selbst während der Nazi-Diktatur verhalten hätte. Wäre ich vielleicht doch eher zur Mitläuferin geworden statt ins Kloster oder in den Widerstand zu gehen.

Ich bin keine Glaubensheldin. Und ich zweifle von Tag zu Tag mehr am Erfolg politischen Widerstands. Hilflos fühle ich mich, wenn ich die Nachrichten lese und diese Rückfälle in menschenfeindliche Haltungen schlimmer und schlimmer werden sehe. Da sitze ich tatenlos, privilegiert in meiner kleinen wohlhabenden Familienwelt.

Sollte ich da nicht einfach schweigen …

Gerne würde ich mir von Ihnen Mut zusprechen lassen.

Aber das ist ja in unseren Gottesdienst-Versammlungen nicht vorgesehen.

Also dann doch ein Appell von der Kanzel zum Schluss. Ich muss es akzeptieren, wenn Sie das vielleicht für eine Ausflucht halten.

Wenn ich nicht mehr so recht weiter weiß, lasse ich mich manchmal von einem Votum meines Lieblingsphilosophen Richard Rorty wieder aufrichten. Er war Atheist. Und er war dennoch der Meinung, dass Ideen wie die des Neuen Testaments unverzichtbar sind. Nicht, weil sie sich im wirklichen Leben und in der Geschichte erfolgreich bewahrheitet hätten. Sie müssen vielmehr trotz ihres offensichtlichen Misserfolgs weitererzählt werden. Ihre neue Ethik muss als Gegenwelt hoch gehalten werden. Als Mahnung und als Zielvorstellung. Nicht, was verwirklicht wurde, zählt, sondern was verwirklicht werden sollte.

Auf höchster Ebene wird freilich derzeit das Neue Testament ganz anders ausgelegt. Vizepräsident Vance und seine evangelikale Anhängerschaft verkünden einen apokalyptischen Endkampf gegen böse Mächte unter der Führung eines Helden namens Donald Trump. Unterstützt werden sie dabei mit Unsummen von dem Tech-Milliardär Thiel, der mit seinen Forschungen von ewiger Gesundheit und einer Abschaffung des Todes träumt. Dies sei im Sinne der Auferstehung der Toten, behauptet er. Naja, derer, die es bezahlen können. Und mit der Bibel in der Hand werden nicht nur Muslime und Chinesen und liberale Kirchen zu Feinden, sondern auch die Demokratien ganz allgemein. Sie halten ja durch Einforderung von Menschenrechten den Fortschritt in ein neues Zeitalter nur auf.

Eine neue Zukunfts-Ethik ohne Mitmenschlichkeit bahnt sich da an. Und so genannte bibeltreue Christinnen und Christen jubeln Trump als neuem Messias zu.

Und darum – so meine ich – können wir es uns nicht leisten, uns in Selbstzweifel oder Glaubensskepsis zurückzuziehen. Ja, wir wissen nicht, ob nicht schon jeder Widerstand zu spät ist. Ja, wir wissen nicht, ob wir genügend Mut und Fantasie und Tatkraft aufbringen können. Ja, wir ziehen uns gerne in den Schmollwinkel unserer noch einigermaßen heilen Welt zurück. Für mich muss ich das zugeben.

Aber ich lerne aus der Bibel, dass Glaube und Aufklärung und Demokratie unverzichtbar sind für eine Nachfolge in der neuen Ethik Jesu. Das wussten auch Zwingli und Calvin, als sie der Vernunft und der Selbstbestimmung der Gemeinden einen so hohen Wert beigemessen haben. Natürlich waren sie auch noch in Vorurteilen ihrer Zeit gefangen. Natürlich waren die Gemeindeverfassungen noch keine Demokratien im späteren Sinn. Aber den Weg, den die Reformatoren begonnen haben, sind unsere Kirchen weiter gegangen. Und auch wir sind noch nicht am Ziel. Und aktuell auch gefährdet vor einer Aushöhlung der Verfassungsgrundsätze.

Aber zurück gehen will ich nicht! Um nicht stehen zu bleiben oder erschöpft am Rand zu sitzen, brauche ich die Gemeinde als Familie. Ich brauche den Sonntagsgottesdienst. Ich brauche Sie und Euch, um zu erleben, dass ich nicht alleine bin. Ich will nicht verstummen. Und wenn meine Stimme zu schwach ist, muss ich mir Gleichgesinnte suchen – in der Kirche und außerhalb – die der Ethik Jesu verpflichtet bleiben.

AMEN


1 Verschärfung bzw. Relativierung bei Lukas: 26Wer zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern und dazu auch sein eigenes Leben hasst, kann nicht mein Jünger sein. (14,26)


Gudrun Kuhn, Erlangen