Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
Quellen:
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Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin
Grundlagen – Formulierungen – Wirkungen
Übersicht
1. Theologische Grundlagen
2. Wirtschaft im Horizont des biblisches Zeugnisses
3. Wirtschafts- und sozialethische Konzepte in der Reformation
4. Calvinismus und Kapitalismus
5. Calvins Überlegungen zu Armut und Reichtum am Beispiel seiner Deuteronomium-Predigten
6. Calvins Stellung zu Geld, Eigentum und Zins
7. Praktische Wirkungen von Calvins Wirtschafts- und Sozialethik
8. Impulse aus der ökumenischen Diskussion
9. Linien einer gegenwärtigen reformierten Wirtschafts- und Sozialethik
10. Freiheit, Gerechtigkeit und Koinonia als theologische Orientierungen
11. Geld und gute Worte
1. Theologische Grundlagen
Eingangs sei eine Impression aus der Malerei, hier aus der niederländischen Kunst des 16. Jahrhunderts, gegeben. Nachdem 1566 ein Bildersturm durch die niederländischen Kirchen gegangen ist und die calvinistischen Kirchen bildlos blieben, wandte sich die Malerei vornehmlich profanen Themen zu. Und wo dann doch religiöse Motive ins Bild gesetzt wurden, geschah das zumeist in moralisch-pädagogischer Absicht, so auch am Beispiel von Reichtum und Armut.
Das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (vgl. Lk 16,19-31) griff der Maler Hans Vredeman de Vries (1526-1609) mehrfach auf (Abb.: Lazarus und der Reiche, 1572). Der Arme bettelt vor dem monumentalen Palast des Reichen vergeblich um Essensreste, befindet sich gleichsam vor der Tür, außerhalb der opulenten Tafelrunde im Innern des Palastes. Hunde werden auf ihn gehetzt, um ihn vom Eindringen in die Welt der Reichen abzuhalten.
Wie zur Warnung ist auf einem zweiten Bild des gleichen Themas in der linken unteren Bildecke der Reiche noch einmal abgebildet (Lazarus vor dem Palast des Reichen, 1583), nun hinter dem vergitterten Kellerfenster in den Flammen der Hölle. Der pädagogische Sinn auch dieses Bildes ist offensichtlich: Reichtum birgt die Gefahr des Untergangs in sich. Man wird nicht fehlgehen, in diesem Bild zudem einen Hinweis auf das im Calvinismus zunehmend profilierte Ideal der Zurückhaltung und Bescheidung zu erkennen.
Auf diesem Hintergrund ist zu fragen, worin die spezifisch reformierten Maßnahmen zum Umgang mit Reichtum und Armut sowie mit der Wirtschaft überhaupt bestehen. Denn schon nach klassischem reformiertem Verständnis unterliegen wirtschaftliche Fragen nicht nur der immanenten ökonomischen Rationalität. Sie rühren an die Grundlagen des Glaubens und können schließlich sogar zum Gegenstand des Bekennens und Bekenntnisses werden, da Lebensfragen aufs Engste mit Glaubensfragen verknüpft sind.
Johannes Calvin zufolge bedarf nicht nur der Glaube und die Kirche, sondern das Leben überhaupt der ständigen Erneuerung vom Wort Gottes. In diese Erneuerungsprozesse sind die Dimensionen des Alltagslebens einbezogen. Zu Recht erkannte Karl Barth in der calvinischen Reformation den konsequenten Schritt von der Erkenntnis Gottes zur Lebenswirklichkeit des Menschen. Dieser Schritt ließ Calvin gemeinsam mit dem Zürcher Reformator Ulrich Zwingli zum „Propheten des neuen christlichen Ethos“ werden.[1] Barth ergänzt, dass Calvin mit seiner Hinwendung zur Weltgestaltung „die Reformation welt- und geschichtsfähig gemacht“ hatte und in Gestalt des Calvinismus auf die Gesellschaftslehren der Neuzeit maßgeblichen Einfluss nahm.[2]
Calvins Theologie verfügt durch die Dialektik von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis über eine Bipolarität, in der das menschliche Leben in eine Beziehung zu Gottes Sein gesetzt wird. Gott existiert zugunsten des Menschen, der seinerseits im Angesicht Gottes und für ihn lebt. Calvin sieht das Leben aber keineswegs unter dem Vorzeichen eines fordernden und autoritären ethischen Imperativs, sondern beschreibt die Heiligung des Lebens als Gottes befreiendes Werk am Menschen.
Dieses Wirken Gottes zielt auf die menschliche Freiheit, die der christlichen Existenz ihre Signatur gibt. Das Leben zur Ehre Gottes und die christliche Lebens- und Weltgestaltung gründen im Glauben an Gott, der in Jesus Christus sein eigenes Leben zugunsten des Menschen eingesetzt hat. Der Mensch ist dazu geschaffen, mit seinen ihm anvertrauten Gaben dem Schöpfer und Bewahrer seines Lebens zu antworten, sich vor ihm zu verantworten und ihm dankbar zu entsprechen. Geschaffen zur Antwort, versteht der Mensch sich selbst recht nur in Beziehung zu Gott und zur ihn umgebenden Schöpfung – insbesondere zum anderen Menschen.
Die Kirche Jesu Christi existiert mitten in einer Welt, in der Armut und Reichtum, ungerechte und gerechte soziale Verhältnisse erkennbar und identifizierbar sind. Von Anfang an gehört zu den Erkennungszeichen der Kirche Jesu Christi, Anwältin und Partnerin der Schwachen und der Hilfe Bedürftigen zu sein. Dies gilt für die Christenheit in ihrer weltweiten Dimension ebenso wie für die diakonische Arbeit an der Linderung der Not vor Ort und in der eigenen Region. Die Diakonie, insbesondere in ihrer gemeindlichen Verankerung, gibt den Kirchen Profil.
2. Wirtschaft im Horizont des biblisches Zeugnisses
Wirtschaftliche Fragen gehören in das Zentrum des christlichen Glaubens und sind bereits ein wesentliches Kapitel der biblischen Theologie. Im Alten Testament werden mit Schuldenrecht, Zins, Kredit und Insolvenz konkrete wirtschaftliche Themen angesprochen und für sie Kriterien des gerechten Handelns und Urteilens bereitgestellt (vgl. Ex 22; Dtn 24). Auf diese Weise soll das soziale und religiöse Zusammenleben der Menschen in Israel intakt gehalten werden. Die Menschen sehen sich durch Gottes Zuwendung zu ihnen im Bund vom Sinai und den Weisungen der Tora verpflichtet, ihr Leben in Treue zu ihrem Befreier zu gestalten.
Eine der zentralen wirtschaftlichen Grundregeln ist die Einführung des Jobel- bzw. Erlassjahres in Dtn 15. Darin wird verfügt, in regelmäßigen Abständen alle Schulden zu erlassen, um auf diese Weise das fortgesetzte Ansammeln von Vermögen bzw. Schulden zu unterbinden. Auch in anderen Texten wird die Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt der Armut und der Existenz des wirtschaftlich Bedürftigen gesehen. Der Arme hat Anspruch darauf, dass ihm Recht widerfährt (Am 2,6), ihm kommen die Solidarität der Volks- und Religionsgemeinschaft (Jes 58,1-12; 61,1-11) sowie konkrete Ermäßigungen und Erleichterungen zu (Ex 22,24; 23,10f.; Lev 5,7-13; Dtn 23,20f.; 24,19-22; Neh 5,1-13).
Das Zeugnis des Neuen Testaments berichtet davon, dass Jesus an das Konzept vom Jobeljahr anknüpft (Lk 4,19). Weiter ist die Rede von Jesu besonderer Sendung zu den Armen (Mt 11,5; 25,40; Lk 4,18; 16,19-31; 18,18-27), von der Einsetzung der Armenpfleger in der christlichen Gemeinde (Apg 6), von der Selbstbezeichnung der Jerusalemer Urgemeinde als „die Armen“ (Gal 2,10) und von der Kollekte für die Armen (1 Kor 16; 2 Kor 8-9). Alle diese Notizen zeigen deutlich auf, dass Wirtschaftsfragen von den biblischen Texten benannt und kritisch im Sinne der Lebensdienlichkeit und der besonderen Aufmerksamkeit auf das Geschick des Armen reflektiert werden.
In der Urchristenheit standen die Finanzierung der Gemeinde, die Versorgung der Armen (Apg 6), der Finanzausgleich zwischen den Gemeinden (vgl. 2 Kor 8f.), der Umgang mit Sklaven und das Verhalten der Reichen gegenüber den Armen beim Abendmahl (vgl. 1 Kor 11,17-34) auf der Tagesordnung. Um des Evangeliums willen ging es nach Paulus bei diesen Herausforderungen um das Selbstverständnis der entstehenden Gemeinden. Verkündigung, Gemeinschaft, Gemeinde und Diakonie waren untrennbar miteinander verbunden. Diese biblische Sensibilität für wirtschaftliche Fragen griffen die Christen der ersten Jahrhunderte auf. So verstand sich etwa Johannes Chrysostomus als Anwalt der Armen, benannte die Barmherzigkeit als Kennzeichen der Menschlichkeit und erklärte, dass im Armen Jesus Christus selbst begegnet.[3]
Ein neuralgischer Punkt war die Zinsfrage. In aristotelischer Tradition und in Anknüpfung an das biblische Verbot des Wuchers war Christen das Zinsnehmen verboten. Bereits die entsprechenden biblischen Texte treten dafür ein, dass die Notlage der Armen für den wirtschaftlichen Gewinn der Reichen nicht ausgenutzt werden dürfe (vgl. Ex 22,25; Lk 19,23) – ein Anliegen, das in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Globalisierung und der mit ihr verbundenen Verschuldungskrise virulent bleibt.
3. Wirtschafts- und sozialethische Konzepte in der Reformation
In zahlreichen Städten des Spätmittelalters lebte ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung in Armut und war angewiesen auf Bettelei, die von der wohlhabenden Bevölkerung gefürchtet wurde. Nachdem sich in der Folgezeit die soziale Welt durch Geldwirtschaft und die Ausdifferenzierung der Stadtkultur tiefgreifend gewandelt hatte, ließen sich die sozialen Probleme nicht mehr mit den traditionellen Instrumentarien der evangelischen Räte – nämlich Klostereintritt, Almosen und gute Werke – lösen. Bettelei und Almosenvergabe unterlagen der humanistischen Kritik, die darin eine selbstverschuldete Abweichung von den frühbürgerlichen Tugenden Fleiß, Ordnung, Disziplin und Mäßigung sah. Außerdem gerieten Wirtschaftsgebaren und Armutsideal der Klöster in einen Gegensatz, mit dem die reformatorische Kritik abrechnete.
In der Reformation wuchs die Überzeugung, dass die Zuwendung zum Armen die Konsequenz der neuen Glaubensüberzeugung war, deren Betätigung in dankbarer Liebe sich vom Individuum hin zur Gemeinde verlagerte. Ferner schälte sich die Kontur dessen heraus, was der Antwortversuch des Calvinismus zur sozialen Frage werden sollte: Arbeit, bescheidener, sparsamer Lebensstil und Geschwisterlichkeit – Tugenden, die sich nun sukzessiv durchsetzten und die Armut jedenfalls in Teilen zu therapieren vermochten.
Mit seiner Kritik am mittelalterlich-monastischen Versuch, die soziale Frage zu lösen, stand Calvin durchaus in der Tradition Martin Luthers. Dieser hatte mit seiner Auffassung von der Gerechtigkeit Gottes die Werke ihres verdienstlichen Charakters entkleidet und die Armenfürsorge aus dem Bereich der Verdienste herausgelöst und der Glaubensexistenz zugeschlagen. Sein Ruf nach dem Ende der Bettelei in seiner Schrift an den Adel von 1520 sorgte dafür, dass die Einnahmen der Bettelmönche stagnierten und die Städte selbst soziale Verantwortung übernahmen.[4]
Die Armenpflege der Klöster wurde vielfach kommunalisiert oder in die Verantwortung der christlichen Gemeinde gelegt. Auch wurden die alten Bettelordnungen durch verbindliche Armenordnungen abgelöst. Ein Ergebnis dieser Neuordnungsprozesse war die Einrichtung der Wittenberger Beutelordnung von 1520/21 und der Leisniger Kastenordnung von 1523. Neben der Innovation blieb aber bei Luther ein konservativer Grundzug, indem er in der Leibeigenschaft des Feudalismus keinen Grund zur Armut erkannte. Ihre Aufhebung wäre kein evangelisches Ziel, vielmehr würde man durch die Abschaffung der Leibeigenschaft die christliche Freiheit profanisieren.[5]
Auch wenn Luther die Überzeugung vertrat, dass Gott für ihn ein Gott der Armen und nicht der Reichen sei, schien er doch weniger an die materielle denn an die geistliche Armut aus der Bergpredigt zu denken. Ein eigenes, vom Evangelium her profiliertes und den sozialen Umständen entsprechendes Instrumentarium in der Armenfrage hat Luther jedenfalls nicht geschaffen. Auf dem Weg zu einem geistlichen Diakonat in der Verantwortung der ganzen Gemeinde bedurfte es weiterer Impulse, um die Armut als Thema reformatorischer Ekklesiologie und Sozialethik zu entdecken.
Diese Impulse kamen aus der Schweiz und Oberdeutschland. Zwingli diagnostizierte die Armut u.a. als Folge des schweizerischen Söldnerwesens. Der oftmals freiwillig eingegangene Dienst in fremden Armeen würde das soziale und wirtschaftliche Gefüge des Landes zerstören, indem wehrkräftige Männer für unbestimmte Zeit abgezogen und mit erbärmlichem Sold zurückgeschickt würden. Aus seiner Kritik an der Monopolwirtschaft, der Währungspolitik, den hohen Steuern und dem Bodenzins erwuchs sein Aufruf zu einer grundlegenden Reformation von Kirche und Gesellschaft.[6]
Ein vergleichbares Verständnis für die Forderungen der Bauern brachte der junge Martin Bucer auf. Er legte sein Interesse an der Situation des Armen im „Gesprechsbiechlin“ von 1521 erzählend nieder, indem er einen Bauern seine Armut berichten und dessen Ursachen in der feudalen Ausbeutung benennen ließ.[7] Hier deutet sich an, was wenige Jahre später zur politischen Forderung werden sollte, als im Straßburg Katharina Zell, Wolfgang Capito und Bucer Erbarmen mit den Armen forderten. Praktische Konsequenz dieses Eintretens war u.a. die Maßnahme, die Stadttore Straßburgs für Flüchtlinge vom Land zu öffnen. Eine hervorgehobene Rolle in der Armenpflege spielte übrigens Katharina Zell als Hauptrepräsentantin eines neuen weiblichen Diakonats. Straßburg war zugleich der Ort, an dem die Wurzeln von Calvins Sozialethik lagen.
4. Calvinismus und Kapitalismus
Große öffentliche Popularität besitzt die vom Soziologen Max Weber vertretene Auffassung, dass ein Zusammenhang zwischen Kapitalismus bzw. wirtschaftlichem Erfolg und Calvinismus bestehe.[8] Die angebliche innerweltliche Askese der Calvinisten trage gemeinsam mit der doppelten Prädestinationslehre zwangsläufig zum wirtschaftlichen Erfolg bei. Im Anschluss an Weber beschreibt Ernst Troeltsch Calvin als Typus, der mit seinem Denken die wirtschaftliche Entwicklung befördert habe.[9]
In zahlreichen Lexika wird die These von der inneren Konsequenz zwischen Calvinismus und moderner Geldwirtschaft oftmals kommentarlos rezipiert und in den Rang einer unwiderlegten Erkenntnis erhoben. Doch Webers Rückführung des Geistes des Kapitalismus auf die sogenannte calvinistische innerweltliche Askese und das Streben nach wirtschaftlichem Erfolg als Erwählungsgewissheit hält einer kritischen Prüfung nicht stand. Die Überlegungen, die Calvin zur Frage der wirtschaftlichen Gerechtigkeit und des Verhältnisses zwischen dem Armen und dem Reichen beigesteuert hat, sind keineswegs auf einen gleichsam entfesselten Kapitalismus ausgerichtet. Angesichts der populären Max-Weber-These, aber auch angesichts der wirtschaftsethischen Herausforderungen der Gegenwart bedarf es der Einsicht in Calvins theologische Argumentation, um zu einer begründeten Einschätzung des klassischen reformierten Beitrags zur Wirtschaft- und Sozialethik zu gelangen.
5. Calvins Überlegungen zu Armut und Reichtum am Beispiel seiner Deuteronomium-Predigten
Aufmerksam nimmt Calvin die sozialen Wirkungen der Wirtschaft in Genf wahr. „Fast alle, denen ihr Vermögen größere Ausgaben gestattet, haben an üppigem Glanz ihr Vergnügen“ – mit diesen Worten unterzieht er den kostspieligen Lebenswandel der Reichen einer Kritik und wirft ihnen vor, die christliche Freiheit zu pervertierten.[10]
Die Genfer Situation um 1555 ist bestimmt durch einen beginnenden ökonomischen Aufschwung, an dem die zugezogenen Flüchtlinge erheblichen Anteil haben. Die Negativseite dieses Aufschwungs sind zunehmende soziale Spannungen, Integrationsprobleme der zumeist armen Flüchtlinge, Wohnungsnot, mangelnde Absatzmöglichkeiten für das Handwerk, Geldmangel, Schuldenlast und inflationäre Tendenzen. Genf ist eine Stadt im Umbruch mit einer disparaten sozialen Struktur, die das Faktum der Armut weiter Bevölkerungsteile in sich schließt. Die Antwort des christlichen Glaubens ist gefordert.
Calvins wirtschaftsethische Überlegungen verdanken sich der theologischen Grundentscheidung, dass alle menschlichen Beziehungen und jegliche menschliche Tätigkeit unter der Herrschaft Gottes stehen, dem sich alles Zusammenleben und Tun verdankt. In christlicher Freiheit soll das individuelle und das kollektive Leben gestaltet werden, um darin Gott zu ehren und ihm Dankbarkeit entgegenzubringen. Diese Grundentscheidung hat besondere Relevanz für das Zusammenleben der Armen und der Reichen. Ausgehend von der Verpflichtung des Reichen, mit seinen ihm anvertrauten Gaben dem Armen zu helfen, versucht Calvin, das Leben des Armen und des Reichen unter Anleitung der Schrift zu durchdringen. Signifikant tritt seine theologische Reflexion von Armut und Reichtum in den Deuteronomium-Predigten der Jahre 1555/56 zutage.
1) Am umfassendsten bringt er die Armut in der Predigt über Deuteronomium 15,11-15 vom 30. Oktober 1555 zur Sprache, einem Text über das Erlassjahr und die Freilassung der Sklaven.[11] Ausgehend von der Erklärung, dass der biblische Satz „Arme habt ihr allezeit bei euch“ (Dtn 15,11) keinesfalls ein fatalistisches oder resignatives Armutsverständnis formuliere, macht Calvin auf folgenden Sachverhalt aufmerksam: Resignation angesichts der Existenz des Armen sei mehr als nur eine Nachlässigkeit.
In ihr manifestiere sich die Sünde der Lieblosigkeit, der Selbstimmunisierung vor der Armut und der Vermeidung der Begegnung mit dieser. Gott aber habe das Wort von der fortdauernden Armut darum sagen lassen, damit der Christ das Notwendige zum Kampf gegen die Armut wirklich tue statt über sie nur sophistisch zu räsonieren. Calvin entzieht das Faktum der Armut der romantisierenden Überhöhung und ruft zu ihrer Abschaffung auf. Doch wie ist das Wort von der bleibenden Realität der Armut zu verstehen?
Calvin deutet es nicht als Fortschreibung des Status quo, sondern theologisch als Hinweis auf ein den menschlichen Erklärungen und Theorien entzogenes Geheimnis Gottes. Dieses Geheimnis, das in der Existenz des Armen offenbar wird, will als Faktum wahrgenommen werden, das sich letztlich der Entschlüsselung entzieht. Es handelt sich, so spitzt Calvin zu, um ein Geheimnis, das nicht deprimieren und lähmen, sondern dem Glauben entgegenführen will.
Calvin sucht nach einem theologisch gangbaren Weg, nicht den Armen und seine Armut an sich, sondern den Armen in seiner Beziehung zu Gott und in seiner Beziehung zum Reichen zu verorten. Er gelangt zu folgender Verhältnisbestimmung: Als Herr des Armen und zugleich des Reichen will Gott den Reichen prüfen. Da dieser seinen Reichtum von Gott selbst erhalten habe, müsse er sich davor hüten, seinen Reichtum als Machtinstrument gegen seinen Nächsten einzusetzen.
Die Prüfung des Reichen hat noch eine weitere konstruktive Seite: Der Reiche soll erkennen, dass Gott im Armen seine Freigebigkeit und Liebe zum Armen herausfordert. Umgekehrt wird aber auch der Arme einer Prüfung unterzogen, indem er in Geduld sein Geschick meistern und nicht durch Raub oder Betrug lindern soll. Der Gedanke der göttlichen Pädagogik umfasst somit beide, den Armen und den Reichen. Doch jenseits aller Deutungsversuche bleibt die Armut ein Geheimnis, das sich in Calvins Erklärung zu einem herausfordernden Thema der rechten Gottesverehrung, also des praktischen Christentums, wandelt.
Gott schickt den Armen als Boten seiner selbst, damit der Reiche gleichsam Gott in die Hand gibt, was er dem Armen zuwendet. Der theologische Gewinn dieser Deutung liegt auf der Hand. Der Arme und der Reiche werden in präziser Weise aufeinander bezogen: Der Reiche bedarf existentiell des Armen. Sein Dasein ist für den Reichen mehr als nur eine materielle Herausforderung. Die Armut ruft den Reichen und die ganze christliche Gemeinde zur Deutung der eigenen Existenz im Angesicht Gottes auf.
Vordergründig kann kritisch eingewandt werden, dass sich hinter dieser theologischen Denkfigur Spuren einer sozialkonservativen Bestätigung von ungerechten Verhältnissen verberge, deren Änderung nicht intendiert sei, sondern durch die religiöse Überhöhung der Armut sanktioniert werde. Tatsächlich warnt Calvin vor der revolutionären Befreiung aus der Armut.[12] Aber er benennt auch praktische Konsequenzen: Anstelle der Bettelei sollen Spitäler, Waisenhäuser mit Kinderunterricht und Armenhäuser errichtet werden, was übrigens in Genf schon seit 1535 geschah. Das geistlich gestaltete Diakonat, verstanden als Verwaltung von Spenden und als direkte Hilfe, unterstreicht Calvins Impulse zur Bekämpfung und Überwindung der Armut.[13]
Ohne Diaconia gibt es nach diesem Verständnis keine Ecclesia. Doch auch mit der besten Armenordnung und den entsprechenden Institutionen ist die Frage der Armut noch nicht gelöst. Calvin schärft ein, dass die christliche Gemeinde den Armen nicht als Armen an sich, sondern als ihren Armen zu erkennen habe: „Es hat einen Grund, dass unser Herr sagt: Dein Armer, dein Bedürftiger, der im Lande weilt. (...) Es sind unsere Armen (...) Unser Herr ist’s, der sie uns darbietet.“[14] Es bleibt ein Stachel im Fleisch der christlichen Gemeinde, dass der Arme und der Reiche einander begegnen, als von Gott Verbundene und aneinander Gebundene Gemeinschaft haben und durch ihre Existenz Gott ehren sollen. Da beide einander bedürfen, ist die Beseitigung ihres Gegensatzes oberstes Gebot. Es gilt ferner zu verhindern, das Thema Armut so zu objektivieren, dass ein Gemeinwesen nach Armut und Reichtum klassifiziert und die Person des Armen verschwiegen, marginalisiert und dem Reichen gleichsam entzogen wird. Begegnung, Kommunikation, Empfangen und Geben, Teilgeben und Teilhaben – das sind die Dimensionen, in denen sich das Leben aller vor Gott vollziehen soll, damit „beide Gott preisen, wenn der Reiche hat, Gutes zu tun, und der Arme dafür dankt“.[15]
Der Arme und der Reiche in je ihren eigenen Möglichkeiten bilden einen lebendigen Organismus, in dem ihre Communio geradezu als „geistliches Wunder“[16] erscheint. Im Hintergrund dieses Modells steht die Erkenntnis, dass alle Güter als Gottes Gaben nicht der freien Verfügung anheim gestellt sind, sondern anvertrautes Eigentum sind, um dem Nächsten daran zum gemeinsamen Nutzen Teil zu geben.[17] Communio und Humanitas bezeichnen neben der Ehre Gottes den zweiten Brennpunkt von Calvins sozialethischen Predigten. Calvins Impuls zielt auf die Existenz des Armen und des Reichen in ihrer Communio und Humanität vor Gott – ein Impuls, der den Reichen fragen lässt: „Was, wenn ich jetzt in Not wäre?“ Calvins Antwort: „Wir sollen menschlich sein.“[18] Der Mensch ist hier gedacht als humanes und kommunitäres Wesen.
2) In seiner Predigt über Deuteronomium 24,14-18 vom 10. Februar 1556 knüpft Calvin an den Gedanken der Humanität an.[19] Er widmet sich der konkreten Situation des Umgangs mit Armen in ihren Arbeitsverhältnissen, ergreift für diejenigen Partei, denen der Lohn vorenthalten wird, und begründet theologisch das Recht auf gerechte Entlohnung, da Gott die Rücksicht auf die Not jedes Einzelnen geboten habe. Die Goldene Regel aufgreifend heißt es, dass sich der Reiche in den Armen hineinversetzen und sein Verhältnis zum Armen in Billigkeit ordnen soll.
Das sozialethische Problem ist eine Herausforderung für den Glauben und steht im Horizont der Gerechtigkeit vor Gott: „Die Schreie der Armen (müssen) wohl zum Himmel steigen, und denken wir nicht, vor Gott unschuldig gefunden zu werden.“[20] Weil Gott die Sache der Armen zu seiner Sache macht, würde der Reiche gegen Gott selbst rebellieren, wenn er das Recht des Armen missachtet und seine Humanität nicht betätigt. Das Erbarmen mit dem Armen soll somit zum Kennzeichen der Humanität des Reichen werden.
3) Sachlich analog ist die Predigt über Deuteronomium 24,19-22 vom 11. Februar 1556 gestaltet.[21] Fünf Aspekte hebt Calvin hervor. Erstens: Gott hat den Reichen die Güter anvertraut, um ihnen durch ihren Wohlstand die Möglichkeit zu geben, den Nächsten in Armut daran teilhaben zu lassen. Der Arme und der Reiche werden im engen gegenseitigen Bezug als aufeinander verwiesene und weder vor Gott noch in der christlichen Gemeinde getrennte Personen verstanden. Der Grund für diese Bezogenheit liegt darin, dass sich aller Reichtum Gott verdankt und darum zum Nutzen des anderen einzusetzen ist. Gottes Bund mit den Menschen zielt auf die menschliche Humanität in der gegenseitigen Fürsorgepflicht.
Zweitens: Die empfangenen Gaben schließen den Reichen mit Gott als ihrem Geber zu einem Bund zusammen, der von der Dankbarkeit bestimmt ist. Dieses Gottesrecht schließt die Praxis einer humanen Ordnung ein, die für den Armen und für den Reichen Konsequenzen hat: für den Armen, dass er sich nicht gewaltsam die Güter aneignen darf; für den Reichen, dass er zur Teilgabe seiner Güter verpflichtet ist. Gottesrecht und menschliche Ordnung rücken in einen Zusammenhang, der sich gegen jeden Moralismus sperrt und die Existenz des Armen und des Reichen als gegenseitige verheißungsvolle Aufgabe beschreibt.
Drittens: Der Reiche lebt mit seinen spezifischen Gefährdungen der Habgier, des Geizes, der Selbstherrlichkeit und des mangelnden Dankes gegenüber Gott. Diese Gefährdungen werden von Calvin als Sünde enttarnt und ihnen das Empfangen des Lebensnotwendigen als Segen aus Gottes Hand gegenübergestellt.
Viertens: Die im Gedanken der Gottesebenbildlichkeit gründende Gemeinschaft von Armen und Reichen in der Gemeinde Christi zielt auf eine Communio Sanctorum, die noch nicht verwirklicht ist. In dieses Bild von Gegenwartsanalyse und Zukunftsvision wird die Kategorie der Erinnerung eingetragen: Ägypten, die Armut der Israeliten und der Exodus werden zum Erinnerungsbild für Bedürftigkeit und Armut, aber auch für Rettung und die Verheißung von Land und Besitz. Innerhalb des biblischen Kontextes von Ägypten, Exodus, Sinaibund und Landnahme, in dem sich Gott den Menschen zusagt und verpflichtet, sollen sich der Reiche als Beschenkter und der Arme als Geretteter wiedererkennen.
Fünftens: Der letzte Grund für Nächstenliebe und Humanität liegt in der gemeinsamen menschlichen Grundsituation der elementaren Bedürftigkeit. Gemeinsam stehen alle vor Gott als Bedürftige, denen das in Jesus Christus eröffnete neue Leben zugesagt wird. Wahre Humanität wird von der Menschlichkeit Gottes her ermöglicht.
Deutlich schält sich Calvins sozialethischer Grundgedanke heraus: Einerseits fordert Gottes Menschlichkeit die Humanität des Menschen heraus. Andererseits werden die Menschen ungeachtet ihres ökonomischen Status vor Gott als in einem grundlegendem Sinn Bedürftige identifiziert. Wahre Humanität ist eine Humanität der Bedürftigkeit. Sie beruht auf dem verkündigten Wort von der Menschwerdung und Menschlichkeit Gottes und ist darin eine Humanität, die primär im Evangelium gründet und nicht im moralischen Appell.
6. Calvins Stellung zu Geld, Eigentum und Zins
Wenn Calvin die Sprache auf Eigentum und Geld bringt, geht er von einer wichtigen Voraussetzung aus: Eigentum heißt, dass etwas Gott gehört. So verhält es sich schon mit den Menschen selbst. Sie gehören Gott und sind mitsamt ihren je persönlichen Gaben und ihrem Besitz Gottes Eigentum. Von hier aus bezieht Calvin Stellung zum materiellen Eigentum. In Genf redet man über Geld. Wirtschaftliche Fragen werden nicht tabuisiert, sondern sind ein Thema, das die Menschen angeht.
Geld und Besitz stehen bei Calvin nicht unter negativem Vorzeichen. Vielmehr zeichnet sich seine Haltung durch eine Nüchternheit aus, in der Geld und Eigentum weder verklärt noch verdammt werden. Er behält beides im Blick: die oftmals verzweifelte Situation des Armen und die Logik des Marktes, zu der auch eine maßvolle Zinswirtschaft gehört. Und er erteilt der mittelalterlichen Lösung des Mönchtums, dass die selbstgewählte Besitzlosigkeit einen besonderen Vorzug bei Gott erwirke, eine Absage. Das wird deutlich in seiner Auslegung der Perikope vom reichen Jüngling (Mt 19,16-26 parr.), auf die sich regelmäßig die mittelalterliche Mönchstheologie berief.[22]
Calvin schlägt einen neuen Weg der Wirtschaftsethik ein, indem er betont: Christus fordert keineswegs prinzipiell zum Verkauf aller Güter auf – dies kann gar der Eitelkeit Vorschub leisten –, sondern will bewahrt wissen, was Gott den Menschen in die Hand gegeben hat. Darum ruft Calvin den Menschen dazu auf, „Gottes Gaben ohne Gewissensbedenken … zu gebrauchen”.[23] Er erklärt sogar, dass Güter und Reichtümer dem Gebrauch der Menschen überlassen sind und es nirgends untersagt ist, neuen Besitz zu erwerben. Allerdings gibt er auch Regeln für den Gebrauch der Freiheit, indem er davor warnt, die christliche Freiheit durch frivolen Luxus, Verschwendung der anvertrauten Güter oder Gier zu verderben.[24]
Damit macht er auf die Sozialverträglichkeit der Freiheit aufmerksam: Weder hemmungsloser Gebrauch der Freiheit noch der unbedachte Verzicht auf sie vertragen sich mit ihrem christlichen Verständnis. Freiheit ist nach Calvin gebundene Freiheit – gebunden durch den Willen des Befreiers und darum auch gebunden an den anderen Menschen. Freiheit darf nach Calvin nie gegen andere Menschen, sondern soll nach dem Maßstab der Liebe zu ihren Gunsten gebraucht werden – es ist die Rede vom „Maßhalten in der Freiheit“.[25]
Geld, Besitz und Reichtum sind also keine Hindernisse für den Eingang ins Gottesreich. Vielmehr steht dieses den Armen und den Reichen offen. Und Eigentum ist insofern für sich genommen zunächst einmal unproblematisch, als er letztlich eine Gabe Gottes ist. So kann Calvin auch die Vorzüge des Besitzes loben und etwa die Schönheit von Kleidung oder die Wirkung von Kosmetika hervorheben. Freude an diesen Gaben Gottes, nicht aber Argwohn bestimmt seine Ansicht. Reichtum einfach wegzuwerfen ist noch keine besondere Leistung.
Die Liebe aber, zu der der kluge Umgang mit den Gaben, die Freigebigkeit und die Großzügigkeit gehören, ist der Maßstab für den Gebrauch von Besitz und Geld. Calvin mahnt in seiner Genesis-Auslegung: „Hüten wir uns, dass nicht der Reichtum uns beschwere und hinderlich werde auf dem Weg zum Himmelreich!“[26] Zur Liebe als Maßstab für den Umgang mit Geld und Besitz tritt die Dankbarkeit hinzu: Die Gaben sollen mit Dank empfangen und eingesetzt werden. Und in der Auslegung des Gleichnisses vom reichen Kornbauern schreibt Calvin: „Darum haben es alle nötig, sich selbst wach zu machen, damit sie sich nicht aufgrund ihres Reichtums für glücklich halten.“[27] Damit ein Leben gelingt, bedarf es noch anderer Güter als des wirtschaftlichen Wohlergehens. Damit warnt Calvin davor, sein Vertrauen auf irdische Dinge zu setzen und dabei den Geber der Gaben zu übersehen.
Schließlich bricht Calvin mit dem seit der Antike verbreiteten Satz, dass Geld kein Geld erzeuge. Er hält es für sinnvoll, Geld als Startkapital für Unternehmer zur Verfügung zu stellen und eine Wirtschaftsförderung durch Kredite zu ermöglichen. Auf diese Weise fördert er die Integration qualifizierter Kleinunternehmer und Kaufleute, die z.T. als mittellose Flüchtlinge nach Genf gekommen waren. Diese Maßnahmen berühren sich mit der Frage des Zinsnehmens.
Der von Calvin ausgehende reformierte Weg in der Zinsfrage zielt einerseits auf eine Regelung gegen die weit verbreiteten und ungerechten Wucherzinsen und muss andererseits die biblische Stellung zum Zinsnehmen (vgl. Lk 6,34) beachten. Calvin bestreitet, dass die Bibel ein totales Zinsverbot fordert, und tritt dafür ein, dass Geld ebenso wie anderer Besitz Gewinn bringen dürfen. Zinsen können sogar ein ökonomischer Anreiz sein, Geld produktiv anzulegen. Vor allem aber fordert Calvin den gerechten Umgang mit dem Zinsnehmen ein: Nur wer wirtschaftlich dazu imstande ist, muss Zinsen zahlen; von Armen hingegen soll kein Zins genommen werden. Darüber zu wachen und die Zinshöhe festzulegen ist Aufgabe des Staates.
Zusammenfassend lässt sich erstens feststellen, dass sich Eigentum als gute Gabe Gottes seinem Segen verdankt und in freier Verantwortung genossen, eingesetzt und weitergegeben werden darf. Dies soll nach dem Maßstab der Liebe und in der Haltung der Dankbarkeit für das anvertraute Eigentum geschehen. Die gegenseitige Mitteilung der Gaben in der Gemeinde beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Eine Zwangsenteignung würde diesem Denken, das ausdrücklich das Eigentumsrecht vertritt, zutiefst widersprechen. Auch wenn zweitens die Unterschiede zwischen Besitzenden und Armen bestehen bleiben, soll aber ihr Gegensatz überwunden werden.
Das heißt konkret: Habgier, Verachtung des Armen und ein frivoles Protzen mit Luxus widersprechen dem Prinzip der Liebe, nach dem der Besitz gebraucht werden soll. So streitet Calvin gegen jede Praxis, die dem ärmsten Teil der Bevölkerung schaden könnte. Ihm liegt am Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichem Aufschwung und sozialer Gerechtigkeit. Drittens bedürfen wirtschaftliche Regelungen wie das Zinsnehmen der gerechten Ausgestaltung, um ihre Legitimität zu wahren. Die legitime und keineswegs gottlose Geldwirtschaft muss mit dem biblischen Gebot der Sorge für den wirtschaftlich Schwachen in Einklang gebracht werden.
7. Praktische Wirkungen von Calvins Wirtschafts- und Sozialethik
„Wir gehören nicht uns selbst, sondern Gott[28] – in dieser Sentenz lässt sich Calvins Wirtschafts- und Sozialethik prägnant zusammenfassen. Die in Arme und Reiche differenzierte christliche Gemeinde bekennt den lebendigen Gott als ihren Herrn, von dessen Verheißung beide leben und dem sie verpflichtet sind.
Die Frage des Verhältnisses vom Armen und Reichen im Bund mit Gott musste sich praktisch-institutionell bewähren. Statt ihrer offenen oder schleichenden Divergenz gewann im reformierten Protestantismus der Gedanke der Humanitas und der Communio von Menschen Gestalt, die in unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Kontexten leben.[29] So sind aus Calvins wirtschafts- und sozialethischen Überlegungen konkrete Wirkungen hervorgegangen.
In Genf wurden neben frühneuzeitlichen Maßnahmen der sozialen Gerechtigkeit u.a. die Hilfe für Glaubensflüchtlinge auf der Durchreise etabliert. Die Genfer Kirchenordnung von 1561, die sich ausdrücklich als „aus dem Evangelium Jesu Christi abgeleitet“ verstand, beschrieb das Amt der Diakonen als den vierten Stand zur Leitung der Kirche und wies diesen die Aufgaben der Güterverwaltung und der Sorge für die Kranken und Armen zu.[30]
Exemplarisch soll der Blick auf die Maßnahmen des humanistischen Adeligen und späteren ostfriesischen Superintendenten Johannes a Lasco gelenkt werden. Dieser beklagte als Schande, in Emden keine geordnete Armenfürsorge durchsetzen zu können und entschloss sich 1549, nach London überzusiedeln. Eingesetzt als Superintendent der Gemeinden protestantischer Glaubensflüchtlinge, verfasste er mit der Londoner Kirchenordnung sein theologisches Hauptwerk, das weit über London hinaus auf den Protestantismus wirkte.[31]
Calvins Humanitas- und Communio-Gedanke wurde bei ihm weiter profiliert, indem er die Gemeindediakonie fortentwickelte. Er richtete ein „Amt der Tische für die Bedürftigen“, ein Diakonenamt, ein, um die Not zu lindern. Den Reichen wurde empfohlen, in christlicher Liebe gerne und reichlich zu geben, zumal ihr Besitz Gottes Eigentum sei. Die Armen wurden aufgefordert, die Gaben ohne Scham und mit gutem Gewissen wie aus Gottes eigener Hand dankbar zu empfangen. Der bei Calvin beschriebene gemeinsame Dienst des Armen und des Reichen bekam hier einen institutionellen Charakter: Beide ehrten Gott durch ihre Freigebigkeit bzw. durch ihre gelinderte Not und Dankbarkeit.
Für das theologische Verständnis der Armenfürsorge war das Gebet bei der Einführung der Diakone bedeutsam: „Herr Jesu Christe, der du uns dich selbst in uns armen und unsere armen in dir selbst eigentlich befohlen hast, daß man ein besondere Sorge derselbigen in deiner gemeine tragen sol ...“ Der folgende Satz mündet in den Wunsch: „..., auf daß sie (sc. die Diakone) deiner armen unter uns gottseliglich und treulich dienen.“[32] Die Armenfürsorge wurde in der Hinwendung Jesu Christi zu den Armen begründet, als Akt der Nachfolge Jesu Christi motiviert und zum gemeinsamen Dienst der Gemeinde erklärt.
Dem entsprach die liturgisch festgelegte Mahnung am Ende jedes Gottesdienstes, der Armen zu gedenken und füreinander zu beten – eine Aufforderung, die die Verpflichtung der ganzen Gemeinde zur Barmherzigkeit zum Ausdruck brachte und auf die Gemeindediakonie zielte. Wieder in Emden angekommen, richtete Johannes a Lasco eine „Diakonie der Fremdlingen-Armen“ gemäß dem Londoner Vorbild ein; andere Institutionen für Sieche, Waise und durchreisende Arme kamen hinzu. In der Emder Kirchenordnung von 1571 findet sich die Maßgabe, dass sich die Gemeinden nicht leichtherzig von den armen Flüchtlingen entlasten sollen, indem sie diese in andere Gemeinden wegloben. All dies sind Beispiele für den Stellenwert, der der Sorge für die wirtschaftlich Schwachen und sozial Entwurzelten eingeräumt wurde.[33]
8. Impulse aus der ökumenischen Diskussion
Es ist das unbestreitbare Verdienst des Katholizismus, der Frage der Armut im II. Vaticanum und in den Sozialenzykliken einen besonderen Stellenwert beigemessen zu haben. Die Öffnung der römischen Kirche zur Welt, die unter dem Leitbegriff des Aggiornamento stand, hat nicht zuletzt in Mittel- und Südamerika Impulse für die Wahrnehmung der sozialen Problematik als Herausforderung für Kirche und Theologie gesetzt. So wird im Dekret über das Laienapostolat „Apostolicam actuositatem“ (1965) der Auftrag der Kirche, Armut, Leid und Not in allen Formen zu bekämpfen, als verpflichtendes karitatives Handeln und Zeugnis gegenüber der Welt beschrieben.[34] Ähnliches gilt auch für die Konstitution „Gaudium et spes“ (1965).[35]
Die konziliaren Impulse standen im Zusammenhang mit der Befreiungstheologie, die u.a. in den Werken von Leonardo und Clodovis Boff und Gustavo Gutiérrez ihren Niederschlag fand. Diese beschreiben die Notwendigkeit, die soziale Realität wahrzunehmen, die Praxis der Theologie kritisch zu reflektieren und Jesus Christus, der sich mit den Armen und Elenden identifiziert, als Befreier der conditio humana zu verstehen. Die Christuswirklichkeit und die Wirklichkeit der Armen sind die eine Wirklichkeit, der die Nachfolge gilt. Als sozialethische Perspektiven werden beide, die strukturelle Veränderung und die unmittelbare Hilfstätigkeit, benannt.
Im Vordergrund aber steht die theologische Frage: Was bedeutet die Existenz der Armen für das Sein und Handeln der Kirche? Gutiérrez fordert: „Nur wenn die Kirche die Armut (...) zurückweist und arm wird, um gegen sie zu protestieren, wird sie in der Lage sein, das zu predigen, was ihr eigen ist, (...) die Offenheit (...) gegenüber der von Gott verheißenen Zukunft.“[36] Die Früchte dieser theologischen Bemühungen liegen in den Dokumenten der Bischofskonferenzen von Medellin (1968) und Puebla (1979) vor.
Das Dokument von Medellin verknüpft die Armutsthematik mit Gerechtigkeit und Frieden, so dass der „Hunger und Durst“ nach Gerechtigkeit und Frieden nicht mehr nur das Fürsorgehandeln aktivieren, sondern strukturelle Veränderungen im sozialen Gefüge nach sich ziehen soll. Die vielfältige Armut der Menschen wird zum Leiden Christi in Beziehung gesetzt. Wie Christus sich arm gemacht habe, so sei auch die Kirche dazu berufen, als arme Kirche zu existieren. Daran hat das Dokument von Puebla[38] angeknüpft. In ihm wird der Abgrund zwischen Reichen und Armen als Sünde gekennzeichnet und eine Umkehr hin zur Selbstidentifizierung mit dem armen Christus und mit den Armen angemahnt.
Explizit wird von der „vorrangigen Option für die Armen“ gesprochen und diese christologisch von der Inkarnation und Armut Christi sowie seiner Hinwendung zu den Armen her begründet. Was aber versteht das Dokument konkret unter der „vorrangigen Option für die Armen“? Intendiert ist mehr als nur die Betätigung christlicher Nächstenliebe. Im Blick ist das Streben nach einer umfassenden Gerechtigkeit, die dem Problem der Armut an die Wurzel greift. Die Pointe der „vorrangigen Option für die Armen“ besteht darin, die Armut zum integralen Bestandteil der Christusverkündigung zu machen sowie Glaube und Gerechtigkeit unlösbar aneinander zu binden.
In dreifacher Hinsicht werden durch die Dokumente von Medellin und Puebla der ökumenischen Diskussion Aufgaben gestellt, indem erstens die Analyse struktureller Armut angemahnt, zweitens die Verknüpfung der Armenthematik mit der Gerechtigkeitsfrage eingefordert wird und drittens die „vorrangige Option für die Armen“ eine christologische Begründung findet.
9. Linien einer gegenwärtigen reformierten Wirtschafts- und Sozialethik
Zwar haben sich die Kirchen in Deutschland dem Diskurs über die „vorrangige Option für die Armen“ gestellt, bleiben aber in ihrer theologischen Argumentation gelegentlich unscharf. Im gewiss verdienstvollen gemeinsamen Wort der Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (1997) wird die „vorrangige Option für die Armen“ durch die Menschenwürde, die in der Gottesebenbildlichkeit verankert ist, und durch das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe motiviert.
Die Argumentation wird jedoch sogleich für kirchliches Agieren funktionalisiert. Die Option für die Armen wird vage zum „verpflichtenden Kriterium des Handelns“ ermäßigt; sie bestehe darin, „Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen“. Der besondere Beitrag der Kirchen sei das Eintreten für das Leitbild gesellschaftlicher Verantwortung.[39] So scharf die soziale Analyse im Einzelnen ist, sie bleibt an der entscheidenden Stelle, an der es erforderlich ist, die Formel von der „vorrangigen Option für die Armen“ theologisch mit Leben zu füllen, blass.
Wiederum ist ein Blick über die Grenzen hilfreich. Die im Reformierten Weltbund zusammengeschlossenen reformierten Kirchen haben spätestens seit ihrer Generalversammlung 1997 in Debrecen/Ungarn das Thema des gerechten Wirtschaftens auf ihre Tagesordnung gesetzt und wirken an einer ökumenisch verantworteten Urteilsbildung zur globalen Wirtschaft mit: „Heute rufen wir alle Mitgliedskirchen des Reformierten Weltbunds auf allen Ebenen zu einem verbindlichen Prozess der wachsenden Erkenntnis, der Aufklärung und des Bekennens (processus confessionis) bezüglich wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung auf.“[40]
Unter dem Motto „Sprengt die Ketten der Ungerechtigkeit“ wird der Zusammenhang von Armut, Gerechtigkeit und Ökonomie theologisch reflektiert und erklärt: „Wir gehören nicht uns selbst. Wir wissen, dass wir in Jesus Christus teuer erkauft sind. Wir wollen niemanden von oben herab behandeln, ausschließen, noch die Gaben irgendeiner Person ... ignorieren. Wir erklären unsere Solidarität mit den Armen und mit allen, die leiden, unterdrückt oder ausgeschlossen werden.“[41] Dieser Prozess wurde weitergeführt und auf der folgenden Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Accra/Ghana 2004 vertieft mit dem Ergebnis, dass ein „Bekenntnis des Glaubens angesichts von wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung“ (= „Accra Confession“) das gegenwärtige System der Weltwirtschaft und die Dominanz des „Imperium“ einer harschen Kritik aussetzt.[42]
In diesen Prozessen zeichnet sich als reformierte Grundaussage ab, dass die Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses und der Verkündigung des Gottes, der mit den Verlierern der globalisierten Wirtschaft solidarisch ist, auf dem Spiel stehen. Zwei Folgerungen legt die Debatte gegenwärtig nahe: Erstens ist eine Grundausrichtung an dem, was von den Reichen im Interesse der Armen zu tun ist, deutlich zu erkennen. Dies verbindet sich mit der Überlegung der „vorrangigen Option für die Armen“, die in der besonderen Hinwendung Gottes zu den wirtschaftlich Schwachen gründet. Darin greift die ökumenische Diskussion ein Anliegen auf, das die biblischen Texte ebenso prägt wie Calvins Achtsamkeit für ein humanes Wirtschaften. Zweitens wächst das Bewusstsein dafür, dass Entscheidungen in der Gemeinde reifen müssen und dass ökonomische Prozesse die Gemeinden keinesfalls spalten dürfen.
Das Wirtschaftsleben mitzugestalten und zugleich ein kritisches Bewusstsein für seine Gefahren zu entwickeln, bestimmt folglich die Positionierung des reformierten Protestantismus. Artur Rich, der 1992 verstorbene reformierte Zürcher Wirtschaftsethiker, tritt für eine Ethik der Humanität aus Glauben, Hoffnung und Liebe im Horizont des Reiches Gottes ein.[43] Von hier aus bestimmt er die ethische Dimension des Wirtschaftslebens. Einem Ökonomismus, der die Wirtschaftswelt als System eigengesetzlicher Prozesse betrachtet, stellt er eine Ethik der Ökonomie entgegen, die klarstellt, dass die Wirtschaft um des Menschen willen und nicht der Mensch um der Wirtschaft willen da ist.
Die Frage nach dem Menschengerechten wird damit zur grundlegenden Frage der Wirtschaftsethik. Das Menschengerechte ist durch zwei Grundwerte bestimmt, nämlich durch Freiheit einerseits und durch Solidarität andererseits. Aus christlicher Sicht bestimmt Rich die Lebensdienlichkeit als fundamentalen Zweck jeglichen Wirtschaftens. Konkret bedeutet dies, dass im Wirtschaftsleben mehrere Zwecke gelten und zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen, ohne dass einer dieser Zwecke absolut gesetzt werden dürfe. Es sind dies der humane, der soziale und der ökologische Zweck des Wirtschaftens.
Ausgehend von dieser Sicht bilden Menschengerechtigkeit, ökonomische Sachgerechtigkeit und Umweltgerechtigkeit das Dreieck einer ethisch verantwortbaren Wirtschaft. Entscheidend ist, dass die christliche Sozialethik die vorgegebene Wirtschaftsform nicht lediglich hinzunehmen, sondern als Aufgabe der aktiven Weltgestaltung im Sinne der Menschenwürde und Nächstenliebe anzunehmen hat. Dabei müssen Theologie und Kirche die sich heute vollziehenden ökonomischen und sozialen Veränderungen in den Industriegesellschaften zur Kenntnis nehmen und kompetent auswerten. Dies geschieht im Rahmen eines christlichen Freiheitsverständnisses, das nicht nur auf die individuelle Freiheit zielt, sondern auch auf Prozesse der Solidarisierung.
Ein zentrales theologisches Anliegen besteht darin, vom Evangelium her danach zu fragen, was in der Welt zu wollen und zu wünschen ist. Das gilt auch für die Frage des gerechten Wirtschaftens. Christinnen und Christen, die sich zur evangelischen Freiheit berufen wissen, werden in Sachen des gerechten Wirtschaftens eine nachdenklich fragende und zugleich pragmatisch konzentrierte Grundhaltung einnehmen, in der die Marktwirtschaft weder verteufelt noch vergötzt wird. Sie werden danach fragen, was es für die Gestaltung der globalen Wirtschaft bedeutet, wenn sie Gott als den Mensch gewordenen Schöpfer und Erhalter allen Lebens bekennen. Sie werden auch danach fragen, was es für den Umgang mit Armen und Reichen bedeutet, wenn sie Gott als den Gott der Gerechtigkeit bekennen. Sie werden die Wirtschaft als „Ökonomie für den Menschen“[44] gestalten. Und sie werden in all ihrem Tun dem gemeinsam auf das geschriebene und verkündigte Wort Gottes hören und von ihm her die Zeichen der Zeit deuten.
10. Freiheit, Gerechtigkeit und Koinonia als theologische Orientierungen
Wie lässt sich die in die ökumenischen Diskussion eingeführte Formel von der „vorrangigen Option für die Armen“ so weiterentwickeln, dass sie nicht zur rhetorischen Stereotype verkommt, sondern ihr theologisches Potenzial zur Geltung bringen kann? Im Anschluss an Calvin sollen nun drei theologische Orientierungen vorgestellt werden. Diese Orientierungen sind von der Überzeugung getragen, dass die Frage des gerechten Wirtschaftens der Vergewisserung durch und der Orientierung am Evangelium als der guten Botschaft von der Befreiung, Gerechtigkeit und Gemeinschaft Gottes bedarf, aus der die Aufgabe der menschlichen Gestaltung von Gerechtigkeit folgt. Es geht dabei um theologische Reflexionen statt um theologievergessenen Pragmatismus, um reformierte Nüchternheit statt um unverbindliche Normativität und eilfertigen Appell.
Als erste Orientierung sei die Gabe der Freiheit genannt. Gemeinsam mit Israel erinnert der christliche Glaube an den Exodus als das Grundgeschehen des befreienden Handelns Gottes. Im Exodus wendet sich Gott seinem armen und in Unfreiheit geknechteten Volk zu, erwählt es zum Volk seines Eigentums und verpflichtet es zur Bundestreue. Diese besteht u.a. darin, das Recht der Armen zu achten – eine Verpflichtung, die ausdrücklich mit der Erinnerung an Gottes befreiende Tat im Exodus begründet wird – und des Armen für immer zu gedenken. Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments beginnt Jesus sein Werk in Aufnahme von Jes 61,1f. als Verwirklichung des Jubeljahres, also der Heilszeit, in der es gilt, den Armen das Evangelium zu verkündigen und den Unterdrückten ihre Befreiung anzusagen.
Wie die Freiheit zum Inbegriff der Sendung Jesu wird, so findet die geschenkte Freiheit ihr Ziel in der Bewährung der Freiheit und im tätigen Dienst der Liebe. Das Erbarmen und die Gemeinschaft mit dem Armen sind im Geschenk der Freiheit als einer Gabe begründet. Die Gabe der in Jesus Christus beschlossenen Freiheit erinnert beide, Arme und Reiche, an die elementare Bedürftigkeit menschlichen Lebens. Im Horizont geschenkter Freiheit eröffnet sich für den christlichen Glauben die Verheißung und Verpflichtung, an Gottes Freiheit zu partizipieren und sich in ihr zu bewähren.
Die Ausrichtung der freien Gnade Gottes, mit der nach der 6. Barmer These[45] die christliche Gemeinde als Ganze beauftragt ist, schließt die Entwicklung einer Kultur der Freiheit und des Erbarmens ein, die dem Armen gegenüber weder vom Paternalismus der Objektivierung des Armen noch vom legalistischen Gestus des moralischen Appells bestimmt ist. Vielmehr wird in einer Kultur der Freiheit und des Erbarmens die Erinnerung wachgehalten, dass die ganze Schöpfung und damit das Menschsein in seinen sozialen Differenzierungen der endgültigen Freiheit entgegengeführt werden.
So ist der befreite und sich seiner Befreiung erinnernde Mensch exzentrisch, auf Gott und seinen Mitmenschen bezogen. Christliche Freiheit kommt von Gott her und geht auf Gottes Ebenbild, den Mitmenschen in der Ganzheit seiner Personalität, über. In dieser Konsequenz umfasst die christliche Freiheitsbotschaft das Einstehen des Reichen für den Armen und umgekehrt des Armen für den Reichen. Die christliche Freiheit verlangt aber auch nach einer ihr entsprechenden politischen Freiheit, ohne die eine Linderung der Not des Armen auf Dauer undenkbar ist.
Als zweite Orientierung sei die Gabe der Gerechtigkeit genannt. Wie die Freiheit, so ist auch die Gerechtigkeit nach christlich-jüdischem Verständnis zunächst ein Attribut von Gottes Sein und Handeln. In den Psalmen wird diese Gerechtigkeit als universal und ewig gerühmt. In seiner Gerechtigkeit befähigt Gott sein Volk zum Tun des Guten mit der Zielgabe, dass die menschliche Gerechtigkeit, besonders im Zusammenleben mit den Armen und des Erbarmens Würdigen, der göttlichen entspreche. An diese Gerechtigkeit zu erinnern, ist nach der 5. Barmer These[46] der Auftrag der ganzen christlichen Gemeinde.
Jesus tritt als armer Mensch in die Menschengeschichte ein, setzt sich als Ausdruck seiner neuen Gerechtigkeit der Armut aus, identifiziert sich mit den Armen, preist sie selig und verheißt ihnen das Reich Gottes. Diese Armen sind freilich nicht nur die Mittellosen, sondern im umfassenden Sinn die Unterdrückten, Elenden und Erniedrigten. In diesen Armen und Elenden begegnet Jesus Christus seiner Gemeinde. Die Armut wird damit geradezu zur materiellen Bestimmung von Gottes Ankunft in der Welt – mit der Konsequenz, dass er sich stellvertretend für uns als Opfer am Kreuz darstellt als der Christus für die Reichen und für die Armen.
Die Pointe von Jesu Zuwendung zu den Armen liegt in der paulinischen Paradoxie, dass er als Reicher um seiner Gemeinde willen arm wurde, um diese durch seine Armut reich zu machen. Mit dieser Wendung ist die ganze christliche Gemeinde aus Armen und Reichen auf ihre Bedürftigkeit der Gnade Christi angesprochen. Armut und Reichtum werden in dieser umfassenden Bedeutung zu Kennzeichen der christlichen Gemeinde – ein Sachverhalt, der Konsequenzen für das Kirchenverständnis, aber auch für das Verhältnis von materieller Armut und materiellem Reichtum hat.
Damit korrespondiert die Wahrnehmung der Persönlichkeit des Armen und des Reichen statt der Reduktion beider auf ihre materielle Situation. Indem die christliche Gemeinde von der Gerechtigkeit Gottes her lebt und sie zum Kennzeichen ihrer Existenz erhebt, lässt sie sich ansprechen sowohl auf ihre elementare Armut (zu denken ist an ihre Schuld) als auch auf ihren Reichtum (zu denken ist an die ihr zugesagte Vergebung). Gerechtigkeit als Attribut göttlichen Seins und Handelns deckt menschliche Ungerechtigkeit auf und impliziert eine Kultur der menschlichen Wahrhaftigkeit, auch in ökonomischer Hinsicht.
Als dritte Orientierung sei die Gabe der Koinonia genannt. Der christliche Glaube bekennt die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, Menschen in ihren vielfältigen Differenzierungen zur Gemeinde Jesu Christi zu versammeln. Als heiliges Volk, als Volk des Eigentums und als wanderndes Gottesvolk ist die Kirche berufen, als Zeugin der Wirklichkeit Gottes zu existieren. Auf dieser Basis lebt die Kirche in der Differenzierung von Armen und Reichen.
Die gemeinsame Bezogenheit auf ihren Herrn und die daraus resultierende Bezogenheit aufeinander gehen den sozialen Differenzierungen sachlich voraus. Insbesondere die reformierte Theologie hat für diese doppelte Bezogenheit den biblischen Begriff des Bundes geprägt, um zur Geltung zu bringen, dass die Gabe der Koinonia nicht nur auf Diakonia, sondern auch auf Konvivenz zielt. Der Arme ist nicht das Objekt der Diakonie des Reichen, sondern sein Partner und Gegenüber. Mit der Gabe der Koinonia und der Existenz als Leib Christi ist Armen wie Reichen ein gegenseitiger Dienst aufgetragen.
In Anknüpfung an Calvin ist dieser Dienst zu allererst die im gemeinsamen Hören auf das Evangelium gewonnene Erinnerung an den Gott, der um der Menschen willen arm wurde. Hier stellt sich die Gemeinde, um mit der 3. Barmer These[47] zu reden, als Koinonia dar, in der Jesus Christus gegenwärtig handelt. Die Pointe liegt darin, dass der Arme und der Reiche aufeinander bezogen bleiben. Der Arme wird schon durch seine Existenz zu „deinem Armen“ und leistet dem Reichen den Dienst der Erinnerung an Gottes umfassendes Erbarmen. In dieser geschenkten Koinonia, einer Communio Sanctorum, gilt es, eine Kultur sowohl der gottesdienstlichen Akklamation als auch der gegenseitigen Kommunikation zu entwickeln. Denn die liturgische, kommunikative und soziale Gestalt der Kirche ist Teil ihres Zeugnisses, mit dem sie den Zusammenhang von verkündigter Wahrheit und gelebter Existenzform öffentlich darstellt.
Im Widerspruch gegen Unfreiheit, Ungerechtigkeit und Beziehungslosigkeit liefert die Erinnerung an die Freiheit, Gerechtigkeit und Koinonia als Gaben des dreieinigen Gottes einen entscheidenden Impuls. Dieser liegt in einer konsequenten Selbstbestimmung der Kirchen als Gemeinschaft der Bedürftigen und auf Erbarmen Wartenden. Es war Dietrich Bonhoeffer, der die Ortlosigkeit der Kirche, überall sein zu wollen und darum nirgends zu sein, beklagt hat.[48]
Um ihre Ortlosigkeit, deren Exponent auch der kirchliche und ökumenische Verlautbarungsaktionismus ist, zu überwinden, bedarf es der konkreten Ortsbestimmung für die Kirchen. Diese dürfte darin bestehen, sich ihrer eigenen Bedürftigkeit zu erinnern und darin dem Evangelium an Arme und Reiche Raum zu lassen. Es geht letztlich um die Frage, wofür Kirche und Theologie einstehen. Die vorgelegten Anregungen verstehen sich als Plädoyer für eine Theologia bzw. Ecclesia Viatorum, die sich ihres Ortes bewusst wird und dies in ökumenischer Zeitgenossenschaft zur Geltung bringt.
11. Geld und gute Worte
Die Reformierten widmen dem konkreten Leben der Menschen ein besonderes Augenmerk. Die Fragen nach dem Menschen und seinem Leben, nach der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, nach Geld und den wirtschaftlich-sozialen Lebensumständen sind von Anfang an Fragen, die das Gottesverhältnis und damit das Bekenntnis zu Gott berühren.
Vom Bekenntnis zum dreieinigen Gott und im Gespräch mit der Bibel haben die reformierten Reformatoren das Thema des Wirtschaftens und der sozialen Verhältnisse aufgenommen. Sie begannen in ihrem Nachdenken beim guten Wort – beim Evangelium und beim Gebot Gottes –, um nun ihrerseits gute Worte zu reden. Wer darum weiß, dass er sein Leben und auch seine Güter Gott verdankt, wird frei vom Zwang, nur auf sich selbst und den eigenen Besitz bezogen zu sein. Der andere Mensch kommt als Mensch Gottes in den Blick. Gemeinsam stehen Menschen als Bedürftige vor dem ewigreichen Gott, der sich ihnen schenkt.
Ausgewählte Literatur
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Fussnoten
[1] K. Barth: Die Theologie Calvins. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1922, hg. v. H. Scholl, Karl Barth-Gesamtausgabe, Abt. II, Zürich 1993, 123.
[2] Ebd., 121; ebd., 122: „Der Calvinismus ist der geschichtliche Erfolg der Reformation, weil er ihr Ethos ist.“
[3] Johannes Chrysostomus: Homilie 79 zu Mt 25,31-26,5, in: BKV2, Johannes Chrysostomus Bd. 4, Kempten/München 1916, 95-109.
[4] M. Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation. Von des christlichen Standes Besserung (1520), WA 6,404-469.
[5] M. Luther: Ermahnung zum Frieden auf die Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben (1525), WA 18, 326f.
[6] U. Zwingli: Wer Ursache zum Aufruhr gibt (1524), in: Huldrych Zwingli Schriften, Bd. 1, hg. v. T. Brunnschweiler, Zürich 1995, 353.355f.
[7] M. Bucer: Gesprechsbiechlin neüw Karsthans, in: Martin Bucers Deutsche Schriften, Bd. 1: Frühschriften 1520-1524, hg. v. R. Stupperich, Gütersloh/Paris 1960, 406-444.
[8] M. Weber: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 91988.
[9] E. Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Ges. Schriften, Bd. 1, Tübingen 1912, 706.709.
[10] Inst. III,19,9.
[11] CO 27,336-349.
[12] Inst. IV,3,3.
[13] Vgl. Calvins Genfer Kirchenordnung von 1561, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 2, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 1997, 256-259.
[14] CO 27,342.
[15] Ebd.
[16] G.W. Locher: Der Eigentumsbegriff als Problem evangelischer Theologie, Zürich 1962, 38.
[17] Inst. IV,1,3, wo Calvin erklärt: Wenn der Glaube lebendig ist, dass Gott der gemeinsame Vater und Christus das gemeinsame Haupt ist, sei es eine Selbstverständlichkeit, dass sie gegenseitig den Besitz mitteilen; vgl. auch Inst. III,7,5.
[18] CO 27,347f.
[19] CO 28,187-198.
[20] CO 28,190.
[21] CO 28,198-211.
[22] CO 45,539f.
[23] Inst. III,19,8
[24]Inst. III,19,9.
[25]Inst. III,19,10-14, hier bes. Inst. III,19,12
[26]Zu Gen 13,1, in: CO 23,189.
[27] Zu Lk 12,16ff., in: CO 45,385.
[29] Inst. III,7,5.
[30] Genfer Kirchenordnung von 1561, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 2, a.a.O., 239 (Zitat) und 256-259.
[31] Johannes a Lasco: Forma ac ratio tota ecclesiastici Ministerii, in peregrinorum, potissimum vero Germanorum Ecclesia instituta (1555), in der verkürzten dt. Fassung (Microns Ordinancien) in: E. Sehling (Hg.): Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 7, II.1, Tübingen 1963, 579-667.
[32] Ebd., 597.
[33] Art. 45, in: Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in dt. Übers., hg. v. Paul Jacobs, Neukirchen 1949, 258.
[34] Art. 8, in: K. Rahner/H. Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium, Freiburg 21967, 398f.
[35] Art. 1.63.69, in: K. Rahner/H. Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium, a.a.O., 449.517f.524-526.
[36] G. Gutiérrez: Theologie der Befreiung, München/Mainz 1973, 285.
[37] DH 4480-4496, hier bes. DH 4493-4496 zur „Armut in der Kirche“.
[38] DH 4610-4635, hier bes. DH 4632-4634 zur „Option für die Armen“.
[39] Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, hg. v. Kirchenamt der EKD, Hannover 1997, 44f.
[40] Die Erklärung von Debrecen, in: Update 7 (1997).
[41] Ebd.
[42] In: die-reformierten.upd@te 5 (2004), Nr. 3, 22-27.
[43] A. Rich: Wirtschaftsethik, Bd. 1: Grundlagen in theologischer Perspektive. Bd. 2: Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft in sozialethischer Sicht, Gütersloh 41991/21992.
[44] Vgl. A. Sen: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 1999.
[45] In: Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. G. Plasger/M. Freudenberg, Göttingen 2005, 244.
[46] Ebd.
[47] In: Reformierte Bekenntnisschriften, a.a.O., 243.
[48] D. Bonhoeffer: Vorlesung „Das Wesen der Kirche“ (Mitschrift), in: Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 11, hg. v. E. Amelung/Ch. Strohm, Gütersloh 1994, 239-303.
Matthias Freudenberg