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Biografien A bis Z
(1818 - 1898)
Im Februar 1863 wurde in Genf ein „Internationales Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege“ gegründet, um Henry Dunants Ideen zur Versorgung von Kriegsverletzten umzusetzen. Zu den Gründungsmitgliedern gehörte Louis Appia, ein reformierter Pfarrerssohn aus Frankfurt/M.
Bendix Balke, Pfarrer der Französisch-reformierte Gemeinde Frankfurt/M., erzählt von dem Sohn eines seiner Vorgängers:
Louis Paul Amédée Appia wurde am 13. Oktober 1818 in Hanau geboren. Schon in seinem ersten Lebensjahr zog seine Familie nach Frankfurt am Main. Sein Vater Paul Appia war Pfarrer und übernahm 1819 die Pfarrstelle der französisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt. Kindheit und Jugend in diesem Frankfurter Pfarrhaus blieben für das weitere Leben von Louis Appia prägend.
Sein humanitäres Engagement hat tiefe religiöse Wurzeln. In seinen Publikationen machte er immer wieder deutlich, dass sein evangelisch-reformierter Glaube, angeregt von der damaligen Erweckungsbewegung, den Hintergrund für seinen rastlosen Einsatz für Kriegsverletzte darstellte. Sein Leben lang verstand er sich als Arzt, doch im Alter von 72 Jahren schloss er noch ein Theologiestudium in Paris ab. „Die Quelle meiner Erleuchtung war der Unterricht im Wort Gottes, als einziger unfehlbarer Offenbarung. Ich finde dort alles, was ich brauche, um mich aufzuklären über die Bedingungen des Heils“ schrieb er in einem Lebensrückblick 1897. Gelebte Nächstenliebe als Kern des Christentums, wie es Louis Appia als Grundüberzeugung mit den anderen, ebenfalls vom Calvinismus geprägten Vätern des Roten Kreuzes teilte, verbanden sie mit großer Toleranz gegenüber anderen Glaubensformen: So billigten sie bereits 1876 die Verwendung des Roten Halbmondes als muslimisches Äquivalent zum Roten Kreuz.
Louis Appia wuchs in zwei Sprachen und in Beziehung zu drei Kulturräumen auf: Sein Vater stammte aus Torre Pellice in Norditalien. Er gehörte zu den Waldensern, einer vorreformatorischen Kirche aus dem 12. Jahrhundert, die zahlreiche Verfolgungen nur in zwei Alpentälern überleben konnte. Zum Theologiestudium kam Paul Appia nach Genf und heiratete dort Charlotte Develey, die aus christlicher Frömmigkeit heraus mit großer Hingabe Arme und Kranke versorgte. In der Familie und in der Gemeinde sprach Louis Appia Französisch, in der Schule und mit Freunden Deutsch. Die zweisprachige Erziehung trug sicherlich dazu bei, dass er bald auch Englisch und Italienisch fließend beherrschte und bis ins hohe Lebensalter Sprachen wie Japanisch und Chinesisch lernte, um besser zum Aufbau der entstehenden nationalen Rotkreuz-Gesellschaften beitragen zu können.
Louis Appia begegnete von klein auf herausragenden Gestalten aus Wirtschaft, Politik und Kultur, die sich zur Französisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt zählten. Die Gemeinde bestand aus Nachkommen von wallonischen und französischen Glaubensflüchtlingen, die als Kaufleute, Bankiers, Künstler und Gelehrte oft großen Erfolg hatten. Diplomaten der in Frankfurt residierenden Bundesversammlung des Deutschen Bundes gehörten zu den regelmäßigen Besuchern der Gottesdienste. Der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy wurde von Pfarrer Appia mit der Tochter eines früheren Pfarrers der Gemeinde getraut. In dieser illustren Umgebung erwarb Louis große Sicherheit im Umgang mit bekannten Persönlichkeiten, was ihm seine späteren Verhandlungen für das Rote Kreuz erleichterte.
Louis Appia schloss das Gymnasium Francofurtanum (damals Frankfurts einziges Gymnasium) mit dem Abitur ab und ging im Alter von 18 Jahren nach Genf, um dort die Hochschulreife zu erlangen. Zwei Jahre später begann er an der Universität in Bonn und Heidelberg ein Medizinstudium und promovierte 1842, um anschließend als Arzt nach Frankfurt zurückzukehren. Als politisch aufgeweckter Mensch hatte er sich in Heidelberg einer Studentenverbindung angeschlossen, die Demokratie und nationale Erneuerung forderte.
Die Unruhen in der Schweiz 1847 veranlassten Louis Appia nach Genf zu reisen. Ein Jahr später half er, Verwundete bei den Auseinandersetzungen der Februarrevolution in Paris und der Märzrevolution in Frankfurt zu versorgen. Da neben der Medizin auch militärische Auseinandersetzungen eine große Faszination auf ihn ausübten, galt sein spezielles Interesse fortan der Militärmedizin und der Verbesserung der Versorgung von Kriegsopfern.
Aus seinen Erfahrungen mit Schlachtfeldern entwickelte er unter anderem ein Gerät zur Ruhigstellung eines gebrochenen Arms oder Beines während des Transports. Darüber hinaus verfasste er Abhandlungen über die chirurgische Versorgung von Kriegsverletzungen.
1849, nach dem Tod des Vaters und nach der politischen Restauration, verließ Louis Appia mit seiner Mutter und anderen Verwandten Deutschland und ließ sich als praktischer Arzt und Militärarzt in Genf nieder, wo er später die Schweizer Staatsbürgerschaft annahm. 1853 heiratete er Anne Caroline Lassere und hatte mit ihr zwei Söhne und zwei Töchter. Sein Sohn Adolphe Appia wurde später als Architekt und Bühnenbildner bekannt.
In dem Arzt Theodor Maunoir fand Louis Appia in den ersten Genfer Jahren einen Mentor und väterlicher Freund. Sie verband die gleiche Sorge um die „modernen“ Formen der Kriegsführung (Krimkrieg 1853-56 mit hunderttausenden Verletzten und Toten), denen das überkommene Lazarettwesen nicht gewachsen war. Die Briefe seines Bruders Georg, der Pfarrer in Italien wurde, ließen Louis Appia 1859 im italienischen Befreiungskrieg ärztliche Hilfe leisten, so auch in der Schlacht von Solferino, deren Zeuge ebenfalls der zufällig anwesende Genfer Kaufmann Henry Dunant wurde. Dessen drei Jahre später erschienener Erlebnisbericht "Eine Erinnerung an Solferino" wurde zum Appell für die Pflege der Verwundeten und löste eine weltweite Bewegung aus.
Louis Appia und Henry Dunant gründeten, zusammen mit dem Rechtsanwalt Gustav Moynier, dem General Wilhelm Dufour und dem erwähnten Arzt Theodor Maunoir im Frühjahr 1863 das „Fünfer-Komitee“, den Vorläufer des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.
Appia setzte sich bei der ersten Genfer Konferenz dafür ein, dass Mediziner und Pflegepersonal durch ein weißes Armband für alle Kriegsbeteiligte geschützt wurden. Historisch nicht eindeutig belegbar bleibt, ob nun Louis Appia oder General Dufour vorschlugen, das Rote Kreuz als Umkehrung der Schweizer Landesflagge zum Erkennungszeichen der neuen Bewegung zu machen.
Auf jeden Fall war Louis Appia der erste, der dieses Abzeichen trug: Im deutsch-dänischen Krieg von 1864 war Appia als Beobachter des Komitees auf Seiten von Preußen tätig, so wie sein niederländischer Kollege van de Velde auf dänischer Seite. Er brachte den Generälen und Offizieren die Beschlüsse der ersten Genfer Konferenz näher und leistete praktische ärztliche Hilfe. Seine Erfahrungen schrieb er in einem umfangreichen Bericht nieder. Noch im gleichen Jahr entstand die erste Genfer Konvention, der Grundpfeiler des humanitären Völkerrechts.
Zwei Jahre später, im Juni 1866, engagierte Appia sich erneut ohne Rücksicht auf die eigene Person im Rahmen der italienischen Befreiungskriege und behandelte auch Anführer Garibaldi nach einer Beinverletzung.
Ebenso war Appia im deutsch-französischen Krieg 1870/71 unter dem Schutz der Rotkreuz-Armbinde tätig. Nach dem Ausschluss Dunants 1867 wurde Appia bis 1870 sein Nachfolger als Sekretär des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Er war ein unermüdlicher Förderer und Propagandist der Idee des Roten Kreuzes. Im Oktober 1872 reiste er nach Ägypten und verhandelte mit dem ägyptischen Vizekönig Ismail Pascha, um die Gründung einer ersten außereuropäischen Rotkreuz-Organisation zu ermöglichen. Er unterstützte darüber hinaus Clara Barton brieflich beim Aufbau des US-amerikanischen Roten Kreuzes.
Louis Appia verfasste zahlreiche Publikationen. Auf vielen Konferenzen engagierte er sich für die Prinzipien des Roten Kreuzes und verhalf ihnen zum Durchbruch. Appia trat dafür ein, dass über den Einsatz im Krieg hinaus die nationalen Hilfsgesellschaften bei Naturkatastrophen und Epidemien Beistand leisten sollten. In Kriegszeiten erwartete er vom Roten Kreuz auch Hilfe bei der Versorgung von Flüchtlingen und Gefangenen. Der sonst so ruhige und zurückhaltende Appia konnte bei diesen Themen leidenschaftliches Engagement zeigen, womit er auch im Leitungskreis des Roten Kreuzes manchmal aneckte.
Bis 1892 nahm Louis Appia an den Rotkreuz-Konferenzen teil. Er starb am 1. März 1898 im Alter von fast 80 Jahren in Genf. In seiner Geburtsstadt Hanau und seinem Sterbeort Genf sind Straßen nach ihm benannt.
Gedenkstein an den Düppeler Schanzen (Schleswig) zur Erinnerung an Louis Appia und Charles van de Velde als erste IKRK-Beobachter 1864
Die 1789 erbaute Französisch-reformierte Kirche am Frankfurter Goetheplatz, 1944 zerstört.
Pfr. Bendix Balke, Französisch-reformierte Gemeinde Frankfurt/M., Januar 2014
Fürchtet euch nicht!
Karl Barth zur Weihnacht
Die Fleischwerdung des Wortes
Fürchtet euch nicht!
Erwägungen zum Christfest
Die Fleischwerdung des Wortes
Johannes 1,14: Und das Wort ward Fleisch und nahm Herberge unter uns und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als die eines Einziggeborenen seines Vaters, der voll Gnade und Wahrheit ist.
„Unter ‚Wort‘ versteht der Evangelist, woher er den merkwürdigen Begriff (Logos) auch gehabt haben mag, nach dem ganzen Zusammenhang unzweideutig eine faktisch und konkret an die in dieser Welt lebenden Menschen ergangene, ergehende und von ihm selbst vernommene göttliche Anrede. Kein erkenntnistheoretisches und kein metaphysisches Prinzip. Nicht ‚den Sinn‘ und nicht ‚die Kraft‘ und nicht (wie Faust ‚getrost‘ schreibt) ‚die Tat‘, sondern (obwohl Faust ‚das Wort so hoch unmöglich schätzen‘ kann) wirklich das Wort, aber nicht das Wort im allgemeinen, nicht die Idee des Wortes, sondern das bestimmte, wenn auch unvergleichliche, für den Evangelisten mit derselben Gewissheit wie seine eigene Existenz geschehene und geschehende und mit der Selbstevidenz eines Axioms überzeugende Ereignis der Rede Gottes.
Gott hat geredet und redet noch. Alle Erkenntnistheorie und Metaphysik, alles, was man von Gott als Sinn und Kraft und Tat wissen und sagen mag, ist darin aufgehoben und erledigt, dass Gott geredet hat und noch redet. Gott! Was er unter solcher Gottesrede versteht, hat der Evangelist in den unserem Text vorangehenden Versen klar gemacht: Ein Wort, das dort gedacht und gesprochen ist, wo Gott selber ist, im ewigen ‚Anfang‘ aller Dinge, ein Wort, das vorbehaltlos Gottes eigene Art, Natur und Wesen hat, das ohne alle Gleichnisrede sein Wort ist. Als solches das Wort, durch das alles geworden ist – und das das ‚Leben‘, die Erlösung in sich trägt, deren ‚Licht‘ der Offenbarung den Menschen leuchtet auch in ihrer Finsternis. Nicht erkannt von der Welt, nicht aufgenommen da, wo es ursprüngliches Heimatrecht, ja Herrenrecht hat, ist es doch kräftig, doch siegreich, schafft es sich selber seine Hörer, seine Empfänger, seine Gläubigen, weil es dieses, weil es Gottes Wort ist.
... es ‚ward Fleisch‘. Es ‚war da als Fleisch‘, so muss man sofort interpretieren, um alle verkehrten Vorstellungen, die sich aus dem deutschen Begriff ‚Werden‘ hier einstellen könnten, auszuschließen. Keine Verwandlung, sondern ein unbegreifliches Zugleichsein meint Johannes. Ohne aufzuhören, jenes ewige göttliche Subjekt zu sein, ist das Wort da in der Zeit: konkret, kontingent, gegenständlich, erkennbar als ein Gegenüber des Menschen. Als ein wirkliches, also als ein menschliches Gegenüber; denn nur der Mensch kann dem Menschen wirklich gegenüberstehen.
Das ist die Wirklichkeit der Offenbarung nach dem allgemeinsten Sinn unseres Textes: die Gottesrede, von der das Evangelium Zeugnis ablegt, ist (ohne irgend einen Abstrich an ihrer Majestät und Autorität, sondern so gerade majestätisch und autoritativ!) ein Mensch. Umgekehrt ausgedrückt: der Mensch, von dem das Evangelium berichtet, ist – nicht das ‚Symbol‘, nicht die ‚Erscheinung‘ der Gottesrede an den Menschen, nicht ihre höchstmögliche Ausprägung im Relativen, sondern ist selbst die Gottesrede, die eine, einzige, die erste und letzte. Dieses ‚ist‘ ist das Weihnachtsevangelium.
Aber der Begriff ‚Fleisch‘ sagt mehr als bloß ‚Mensch‘ und Fleischwerdung mehr als Menschwerdung. ‚Fleisch‘ (Sarx) heißt im Neuen Testament nicht die menschliche Natur im allgemeinen und Idealen, sondern konkret: die Menschennatur, in der ich mich vorfinde, die Natur ‚Adams‘, die Natur, die dem Menschen unter dem Zeichen seines Sündenfalls, im Gebiet der ‚Finsternis‘, in seinem prinzipiellen Widerspruch gegen Gott und mit sich selbst eigen ist. Es heißt nicht: das Wort ward ein Edelmensch, ein Heros, eine ‚Persönlichkeit‘, sondern es heißt: ‚in unendlicher Gnade vereinigt es sich mit den Unflätigen und Gemeinen‘ (Calvin, Institutio II 13,2). ...
Nicht als von weitem strahlender König, Held oder Weiser tritt der Mensch, der die Gottesrede ist, der ‚Finsternis‘ der anderen gegenüber, sondern – ‚das Licht scheint in der Finsternis‘ – als gewöhnlicher Mensch den gewöhnlichen Menschen. Das ist die Unbegreiflichkeit, daran liegt aber auch die Wirklichkeit der Offenbarung, das unterscheidet das Weihnachtsevangelium von allen wehmütig-optimistischen Träumereien: das Wort Gottes ist da, wo wir selbst sind: nicht, wo wir vielleicht gerne wären, nicht auf einer der Höhen, die wir bei einigem Glück und gutem Willen gelegentlich wohl erklettern können, sondern da, wo wir uns, ob König oder Bettler, tatsächlich vorfinden: in der Zerrissenheit, in der wir (dem Tode entgegen!) erscheinen im ‚Fleische‘. ... Er [die Knechtsgestalt in Philipper 2,2] begegnet dem Rätsel unserer ‚Finsternis‘ auf seinem eigenen Boden. ...
Man beachte an diesem entscheidenden Satz: ‚Das Wort ward Fleisch‘ unseres Textes noch Folgendes. Einmal: Man darf das souveräne Übergewicht der ersten über die zweite Seite dieser Gleichung nicht übersehen. Das ‚Wort‘ ist Subjekt, das ‚Fleisch‘ ist Prädikat, und dabei bleibt es. Das Wort ist die Person, die hier Mensch ist. (Nicht ist es etwa eine menschliche Person, die hier das Wort ist!) Das Wort redet, das Wort handelt, das Wort offenbart, im Fleische, als Fleisch, aber das Wort, nicht das Fleisch als solches. ...
‚Das Wort ward Fleisch‘ bedeutet eine nicht aufzulösende Gleichsetzung des Ungleichen, ein Rätsel, entsprechend dem Rätsel der ‚Finsternis‘, der das Wort im Fleisch begegnet. Das fleischgewordene Wort ist ‚wahrer Gott und wahrer Mensch‘, nicht das eine oder das andere und nicht ein höheres Drittes. Die Einheit seiner Offenbarung ist keine synthetische, sondern eine dialektische Einheit: sie muss immer wieder erfragt werden, und sie muss sich als Antwort immer wieder ergeben.
Endlich: Die Fleischwerdung des Wortes ist eine Handlung Gottes an dem Menschen, dem er sich offenbart. Sie ist als Problem nicht eindeutig. Es gibt die Möglichkeit des Ärgernisses. Es gibt ohne die Handlung Gottes in ihr sogar nur die Möglichkeit des Ärgernisses, nur die Möglichkeit, Christus als der Zöllner und Sünder Geselle anzusehen und als Gotteslästerer ans Kreuz zu schlagen. Wer Ohren hat, zu hören, der hört. ‚Der Geist macht lebendig, das Fleisch ist nichts nütze‘, lesen wir bei Johannes an späterer Stelle (6,63). – Offenbarung bleibt Offenbarung, Zerreißen des Geheimnisses Gottes, so könnten wir diese Erläuterungen zusammenfassen. Oder: Ohne das Kreuz von Golgatha ist auch an der Krippe zu Bethlehem das Evangelium nicht zu hören. ...“
Aus einer „Weihnachtsbetrachtung“ in den "Münchner Neuesten Nachrichten" 1926
Fürchtet euch nicht!
„‚Fürchtet euch nicht!‘ So der Engel in der Christnacht zu den Hirten auf dem Felde nach der Weihnachtsgeschichte Ev. Lukas 2. ...
Aber wer fürchtet sich denn, sodass dieser tröstliche Befehl oder dieser befohlene Trost am Platze wäre? ... Wer denkt denn an Furcht, wenn er den Seinigen die Lichter anzündet? Und mit welcher Kraft und Überzeugung dann: ‚Fürchtet euch nicht!‘? ...
Machen die Theologen nicht weithin den Eindruck, die Furchtlosesten unter allen zu sein? Und darum vielleicht nicht eben die Kompetentesten und Mächtigsten, den anderen jenen Befehl und Trost mitzuteilen? ...
Man könnte darauf antworten wollen, dass wir Menschen doch alle, und die scheinbar Fröhlichsten und Sichersten am meisten, im verborgenen eine große Furcht in uns tragen. ... Und so fürchten wir uns: der eine vor dem, was sein Nächster, auf den er angewiesen und in dessen Hände er gegeben ist, ihm bereiten und versagen könnte, der andere vor dem Alt- und Einsamwerden, der andere vor dem Schicksal, das ihm in den Sternen vorbehalten sein möchte, der andere vor dunklen Gewalten, die er in seinem Kopf und Herzen mächtig fühlt, und also vor sich selber, der andere vor dem drückenden Geheimnis des Lebens, wie es ihn aus den Augen jedes Tieres und aus seinen eigenen hungrigen Augen im Spiegel anschaut, und wir alle vor der Pforte des Todes, die unerbittlich irgendwo auf uns wartet.
... Aber wie unsere Weihnachtsfeiern ohne Furcht unter einem gewissen Ausweichen vor aller Furcht vor sich zu gehen scheinen, so scheint die Lebensfurcht, die wir alle irgendwie als unser böses Geheimnis kennen, in einer Tiefe ihren Ort zu haben, in der sie von allen Weihnachtsfeiern unberührt bleibt. ...
Angesichts dieses Sachverhaltes dürfte dies zu bedenken sein: das Sichfürchten, dem die Weihnachtsgeschichte ihr triumphierendes ‚Fürchtet euch nicht!‘ gegenüberstellt, ist gar nicht die uns allen nur zu wohl bekannte Lebensfurcht. Nicht um der finsteren Nacht willen haben die Hirten von Bethlehem sich so sehr gefürchtet, sondern weil der Engel des Herrn zu ihnen sprach ... Oder wenn sie sich auch um der finsteren Nacht willen gefürchtet haben sollten, so wurde doch diese kleine Furcht alsbald verschlungen von der großen Furcht ... vor der Offenbarung Gottes. ...
Bloße Lebensfurcht, wie tief und stark sie auch sei, ist die Furcht des Kindes in der Nacht. Sie ist nicht sinnvoll, denn sie ist nicht Respekt, sondern Aufregung. ... wir können uns gegen sie wehren, wenigstens ein bisschen, wir können uns über sie hinweg trösten. Weihnacht gerade scheint neben Fasching und anderen programmgemäß frohen Tagen weithin als eine Aufforderung, sich über seine und die allgemeine Lebensfurcht ein bisschen hinwegzutrösten, verstanden zu sein. Die andere, die große Furcht, die Furcht vor der Verantwortung unseres kurzen Lebens, vor dem ewigen Gott ... diese Furcht ist nicht durch die Nacht erzeugt, sondern durch den Engel des Herrn in der Nacht. ‚Die Klarheit des Herrn leuchtete um sie.‘ Hier ist es ... der Mühe wert, sich zu fürchten. Hier geht es auf Herz und Nieren ... Hier gibt es aber auch kein Entrinnen, kein Sich-hin-wegtrösten. ...
Der Furcht Gottes, in die uns die Offenbarung treiben müsste, steht das ‚Fürchtet euch nicht!‘ sinnvoll gegenüber. ... Derselbe Engel, vor dem sie [die Hirten] sich fürchteten mit großer Furcht, gab den Befehl und den Trost ... Derselbe Engel verkündete die große Freude. Die große Freude – ‚Euch ist heute der Heiland geboren!‘ – war die Verneinung der großen Furcht. Aber nur als Verneinung der großen Furcht, nur als Aufhebung der Furcht vor Gott durch das ewige Erbarmen Gottes, nur als Vergebung für solche, die sich nicht selbst rechtfertigen können, war sie die große Freude. Die furchtlose Weihnachtsfeier muss die unweihnachtliche Furcht neben sich haben. Aus diesem Zirkel gibt es kein Entkommen. Aber warum sollte es kein Zerbrechen dieses Zirkels geben: Weihnacht in der Furcht des Herrn und darum Freiheit von der Furcht vor Gott und darein eingeschlossen Freiheit auch von der anderen Furcht, der uns nur zu bekannten Lebensfurcht? ...“
Aus einer "Weihnachtsbetrachtung" in den "Münchner Neuesten Nachrichten" 1929
Erwägungen zum Christfest
„Christliche Weihnacht ist teilweise noch bis tief in die neuere Zeit hinein ohne unser ganzes weihnachtliches Drum und Dran gefeiert worden und könnte jederzeit wieder ohne das gefeiert werden. Ich sage nicht, dass das geschehen müsste. Aber wer etwa auf die Grenze der allgemeinen Weihnachtsfreude stoßen sollte, wer etwa heimlich seufzte, dass er nicht wisse, wie er eigentlich sinnvoll, ehrlich und wirklich Weihnacht feiern solle, dem wäre in Erinnerung zu rufen: Es gibt irgendwo jenseits des Ganzen dieser allgemeinen Weihnachtsfreude und nicht bedingt durch den Apparat und dessen Erfolg oder Nicht-Erfolg auch noch eine andere Weihnacht. ...
Ich will aber auf dies hinaus: das Weihnachtsfest ist das Christfest. Ist es das, dann mag es – um dies gleich vorwegzunehmen – gut und gerne in den uns allen lieben, überkommenen Formen und Gestalten gefeiert werden, ohne dass wir uns über deren ursprünglich heidnisches Wesen graue Haare wachsen zu lassen brauchen ... Das Christfest wäre die Rechtfertigung des Weihnachtsfestes in der ganzen – weltlichen und christlichen! – Problematik, von der es umgeben ist. ...
An der Frage, ob wir an der Weihnacht das Christfest feiern, würde es sich wohl entscheiden, ob wir es ... überhaupt verstehen, Feste zu feiern. Feiern heißt ja eigentlich einfach: ruhen. Ein richtiges Fest müsste ein Triumph der Ruhe sein. Die wirkliche Ruhe, die wir nötig haben und nach der wir uns eigentlich alle sehnen, ist aber keineswegs die Ruhe von unserer äußeren Arbeit. Die Mühsal, von der wir eigentlich ruhen möchten, von der ruhen zu dürfen das wahre Fest wäre, ist die Mühsal der schon erwähnten Flucht, auf der wir alle uns ein wenig dauernd befinden: unserer Flucht vor uns selbst und vor den Mitmenschen, die ebenso dran sind wie wir selbst. ...
Es müsste ja die Ruhe des richtigen, des sinnvoll, ehrlich und wirklich zu feiernden Festes darin bestehen, dass uns die Flucht vor uns selbst und vor den anderen unmöglich und überflüssig gemacht würde. Unmöglich dadurch, dass wir genötigt würden, uns selbst (ob wir uns gefallen oder nicht) und so auch den anderen (auch ihnen, ob sie uns gefallen oder nicht) ins Gesicht zu sehen und standzuhalten. Unweigerlich müssten wir vor die Notwendigkeit gestellt sein, uns mit beiden: mit dem Gesicht im Spiegel und mit den vielen anderen Gesichtern zufrieden zu geben als mit der Gestalt unserer Existenz, neben der es keine andere gibt.
Und überflüssig müsste uns die Flucht dadurch gemacht sein, dass wir uns vor uns selbst und vor dem Nächsten (trotz alles dessen, was nach beiden Seiten mit Recht zu klagen ist) nicht mehr fürchten müssten, sondern unerschrocken und fröhlich als die, die wir sind, mit den anderen, wie sie sind, leben dürften – einfach leben, ohne uns selbst etwas einzubilden, ohne den anderen etwas vorzumachen. Die ganzen hastigen und krampfhaften Bewegungen, mit denen wir uns jetzt zu helfen versuchen, müssten unnötig geworden sein. So könnte es Ruhe geben.
Nun, diese Ruhe können und werden wir uns nicht verschaffen. ... Wir werden bis an unser Lebensende weder mit uns selbst noch mit unserem Nächsten auch nur ‚fertig werden‘, geschweige denn ins Reine kommen. ... Die Ruhe könnte nur als Gnade, als die göttliche Rechtfertigung unseres Lebens zu uns kommen. Eben dies ist das Christfest. Es besteht als Nativitas Domini [Geburt des Herrn] schlechterdings darin, dass die Gnade zu uns kommt, die – ‚Friede auf Erden unter den Menschen des Wohlgefallens‘ [Lukas 2,14] – die Ruhe ist. Was heißt Christfest feiern? Eben dies glauben: ‚Euch – dir (für dich selbst und deinen Nächsten) – ist heute der Heiland geboren!‘ [Lukas 2,11]. Glauben aber würde heißen: eben dies annehmen als geschehene und vollendete Entscheidung über uns. Und nun wird es doch wohl nicht an dem sein, dass wir uns gestehen müssen, dass wir zuguterletzt vor dem Schöpfer des Himmels und der Erde, vor Jesus Christus, und das heißt: vor der Gnade, vor der einzigen möglichen Rechfertigung des Weihnachtsfestes und unseres ganzen Lebens auf der Flucht sind?! Nun, wenn dem so wäre, so brauchte es – man darf das auch dem gefrorensten ‚Christen‘ auf den Kopf zusagen – morgen nicht mehr so zu sein.“
Aus: Karl Barth, Predigten 1935-1953, hrsg. von Hartmut Spieker und Hinrich Stoevesandt, Karl Barth-Gesamtausgabe I. Predigten, Zürich 1996, Zitate S. 406-410
Literatur:
Karl Barth, Weihnacht, München 1934
Karl Barth, Predigten 1935-1953, hrsg. von Hartmut Spieker und Hinrich Stoevesandt, Karl Barth-Gesamtausgabe I. Predigten, Zürich 1996