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(1818 - 1898)
Im Februar 1863 wurde in Genf ein „Internationales Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege“ gegründet, um Henry Dunants Ideen zur Versorgung von Kriegsverletzten umzusetzen. Zu den Gründungsmitgliedern gehörte Louis Appia, ein reformierter Pfarrerssohn aus Frankfurt/M.
Bendix Balke, Pfarrer der Französisch-reformierte Gemeinde Frankfurt/M., erzählt von dem Sohn eines seiner Vorgängers:
Louis Paul Amédée Appia wurde am 13. Oktober 1818 in Hanau geboren. Schon in seinem ersten Lebensjahr zog seine Familie nach Frankfurt am Main. Sein Vater Paul Appia war Pfarrer und übernahm 1819 die Pfarrstelle der französisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt. Kindheit und Jugend in diesem Frankfurter Pfarrhaus blieben für das weitere Leben von Louis Appia prägend.
Sein humanitäres Engagement hat tiefe religiöse Wurzeln. In seinen Publikationen machte er immer wieder deutlich, dass sein evangelisch-reformierter Glaube, angeregt von der damaligen Erweckungsbewegung, den Hintergrund für seinen rastlosen Einsatz für Kriegsverletzte darstellte. Sein Leben lang verstand er sich als Arzt, doch im Alter von 72 Jahren schloss er noch ein Theologiestudium in Paris ab. „Die Quelle meiner Erleuchtung war der Unterricht im Wort Gottes, als einziger unfehlbarer Offenbarung. Ich finde dort alles, was ich brauche, um mich aufzuklären über die Bedingungen des Heils“ schrieb er in einem Lebensrückblick 1897. Gelebte Nächstenliebe als Kern des Christentums, wie es Louis Appia als Grundüberzeugung mit den anderen, ebenfalls vom Calvinismus geprägten Vätern des Roten Kreuzes teilte, verbanden sie mit großer Toleranz gegenüber anderen Glaubensformen: So billigten sie bereits 1876 die Verwendung des Roten Halbmondes als muslimisches Äquivalent zum Roten Kreuz.
Louis Appia wuchs in zwei Sprachen und in Beziehung zu drei Kulturräumen auf: Sein Vater stammte aus Torre Pellice in Norditalien. Er gehörte zu den Waldensern, einer vorreformatorischen Kirche aus dem 12. Jahrhundert, die zahlreiche Verfolgungen nur in zwei Alpentälern überleben konnte. Zum Theologiestudium kam Paul Appia nach Genf und heiratete dort Charlotte Develey, die aus christlicher Frömmigkeit heraus mit großer Hingabe Arme und Kranke versorgte. In der Familie und in der Gemeinde sprach Louis Appia Französisch, in der Schule und mit Freunden Deutsch. Die zweisprachige Erziehung trug sicherlich dazu bei, dass er bald auch Englisch und Italienisch fließend beherrschte und bis ins hohe Lebensalter Sprachen wie Japanisch und Chinesisch lernte, um besser zum Aufbau der entstehenden nationalen Rotkreuz-Gesellschaften beitragen zu können.
Louis Appia begegnete von klein auf herausragenden Gestalten aus Wirtschaft, Politik und Kultur, die sich zur Französisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt zählten. Die Gemeinde bestand aus Nachkommen von wallonischen und französischen Glaubensflüchtlingen, die als Kaufleute, Bankiers, Künstler und Gelehrte oft großen Erfolg hatten. Diplomaten der in Frankfurt residierenden Bundesversammlung des Deutschen Bundes gehörten zu den regelmäßigen Besuchern der Gottesdienste. Der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy wurde von Pfarrer Appia mit der Tochter eines früheren Pfarrers der Gemeinde getraut. In dieser illustren Umgebung erwarb Louis große Sicherheit im Umgang mit bekannten Persönlichkeiten, was ihm seine späteren Verhandlungen für das Rote Kreuz erleichterte.
Louis Appia schloss das Gymnasium Francofurtanum (damals Frankfurts einziges Gymnasium) mit dem Abitur ab und ging im Alter von 18 Jahren nach Genf, um dort die Hochschulreife zu erlangen. Zwei Jahre später begann er an der Universität in Bonn und Heidelberg ein Medizinstudium und promovierte 1842, um anschließend als Arzt nach Frankfurt zurückzukehren. Als politisch aufgeweckter Mensch hatte er sich in Heidelberg einer Studentenverbindung angeschlossen, die Demokratie und nationale Erneuerung forderte.
Die Unruhen in der Schweiz 1847 veranlassten Louis Appia nach Genf zu reisen. Ein Jahr später half er, Verwundete bei den Auseinandersetzungen der Februarrevolution in Paris und der Märzrevolution in Frankfurt zu versorgen. Da neben der Medizin auch militärische Auseinandersetzungen eine große Faszination auf ihn ausübten, galt sein spezielles Interesse fortan der Militärmedizin und der Verbesserung der Versorgung von Kriegsopfern.
Aus seinen Erfahrungen mit Schlachtfeldern entwickelte er unter anderem ein Gerät zur Ruhigstellung eines gebrochenen Arms oder Beines während des Transports. Darüber hinaus verfasste er Abhandlungen über die chirurgische Versorgung von Kriegsverletzungen.
1849, nach dem Tod des Vaters und nach der politischen Restauration, verließ Louis Appia mit seiner Mutter und anderen Verwandten Deutschland und ließ sich als praktischer Arzt und Militärarzt in Genf nieder, wo er später die Schweizer Staatsbürgerschaft annahm. 1853 heiratete er Anne Caroline Lassere und hatte mit ihr zwei Söhne und zwei Töchter. Sein Sohn Adolphe Appia wurde später als Architekt und Bühnenbildner bekannt.
In dem Arzt Theodor Maunoir fand Louis Appia in den ersten Genfer Jahren einen Mentor und väterlicher Freund. Sie verband die gleiche Sorge um die „modernen“ Formen der Kriegsführung (Krimkrieg 1853-56 mit hunderttausenden Verletzten und Toten), denen das überkommene Lazarettwesen nicht gewachsen war. Die Briefe seines Bruders Georg, der Pfarrer in Italien wurde, ließen Louis Appia 1859 im italienischen Befreiungskrieg ärztliche Hilfe leisten, so auch in der Schlacht von Solferino, deren Zeuge ebenfalls der zufällig anwesende Genfer Kaufmann Henry Dunant wurde. Dessen drei Jahre später erschienener Erlebnisbericht "Eine Erinnerung an Solferino" wurde zum Appell für die Pflege der Verwundeten und löste eine weltweite Bewegung aus.
Louis Appia und Henry Dunant gründeten, zusammen mit dem Rechtsanwalt Gustav Moynier, dem General Wilhelm Dufour und dem erwähnten Arzt Theodor Maunoir im Frühjahr 1863 das „Fünfer-Komitee“, den Vorläufer des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.
Appia setzte sich bei der ersten Genfer Konferenz dafür ein, dass Mediziner und Pflegepersonal durch ein weißes Armband für alle Kriegsbeteiligte geschützt wurden. Historisch nicht eindeutig belegbar bleibt, ob nun Louis Appia oder General Dufour vorschlugen, das Rote Kreuz als Umkehrung der Schweizer Landesflagge zum Erkennungszeichen der neuen Bewegung zu machen.
Auf jeden Fall war Louis Appia der erste, der dieses Abzeichen trug: Im deutsch-dänischen Krieg von 1864 war Appia als Beobachter des Komitees auf Seiten von Preußen tätig, so wie sein niederländischer Kollege van de Velde auf dänischer Seite. Er brachte den Generälen und Offizieren die Beschlüsse der ersten Genfer Konferenz näher und leistete praktische ärztliche Hilfe. Seine Erfahrungen schrieb er in einem umfangreichen Bericht nieder. Noch im gleichen Jahr entstand die erste Genfer Konvention, der Grundpfeiler des humanitären Völkerrechts.
Zwei Jahre später, im Juni 1866, engagierte Appia sich erneut ohne Rücksicht auf die eigene Person im Rahmen der italienischen Befreiungskriege und behandelte auch Anführer Garibaldi nach einer Beinverletzung.
Ebenso war Appia im deutsch-französischen Krieg 1870/71 unter dem Schutz der Rotkreuz-Armbinde tätig. Nach dem Ausschluss Dunants 1867 wurde Appia bis 1870 sein Nachfolger als Sekretär des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Er war ein unermüdlicher Förderer und Propagandist der Idee des Roten Kreuzes. Im Oktober 1872 reiste er nach Ägypten und verhandelte mit dem ägyptischen Vizekönig Ismail Pascha, um die Gründung einer ersten außereuropäischen Rotkreuz-Organisation zu ermöglichen. Er unterstützte darüber hinaus Clara Barton brieflich beim Aufbau des US-amerikanischen Roten Kreuzes.
Louis Appia verfasste zahlreiche Publikationen. Auf vielen Konferenzen engagierte er sich für die Prinzipien des Roten Kreuzes und verhalf ihnen zum Durchbruch. Appia trat dafür ein, dass über den Einsatz im Krieg hinaus die nationalen Hilfsgesellschaften bei Naturkatastrophen und Epidemien Beistand leisten sollten. In Kriegszeiten erwartete er vom Roten Kreuz auch Hilfe bei der Versorgung von Flüchtlingen und Gefangenen. Der sonst so ruhige und zurückhaltende Appia konnte bei diesen Themen leidenschaftliches Engagement zeigen, womit er auch im Leitungskreis des Roten Kreuzes manchmal aneckte.
Bis 1892 nahm Louis Appia an den Rotkreuz-Konferenzen teil. Er starb am 1. März 1898 im Alter von fast 80 Jahren in Genf. In seiner Geburtsstadt Hanau und seinem Sterbeort Genf sind Straßen nach ihm benannt.
Gedenkstein an den Düppeler Schanzen (Schleswig) zur Erinnerung an Louis Appia und Charles van de Velde als erste IKRK-Beobachter 1864
Die 1789 erbaute Französisch-reformierte Kirche am Frankfurter Goetheplatz, 1944 zerstört.
Pfr. Bendix Balke, Französisch-reformierte Gemeinde Frankfurt/M., Januar 2014
Martin Bucer
(1491-1551)
Bucer, Martin (eigentlich Butzer; 1491-1551), * als Sohn eines Küblers und einer Hebamme in Schlettstadt im Elsaß, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Wohl weil sein Vater aus Straßburg stammte, zogen eine Eltern zehn Jahre später um besseren Verdienstes willen dorthin. Ihren Sohn ließen sie beim Großvater in Schlettstadt zurück. Dort besuchte er die Lateinschule und verschrieb sich frühzeitig dem humanistischen Ideal. Die Schlettstädter Dominikaner überredeten den 15jährigen, ihrem Orden beizutreten, um bei den Studien zu bleiben, »und ist an mir«, schreibt B., »das Sprichwort wahr geworden: die Verzweiflung macht einen Münch«.
Statt seiner Klassiker mußte er nun die Ordenstheologie studieren. Erst zehn Jahre später durfte er in den Heidelberger Konvent übersiedeln und die Universität besuchen. B. erwarb den Magistergrad und lernte bei Brenz das Griechische. Die Begegnung mit Luther bei der Heidelberger Disputation (April 1518) gewann ihn für die neue Theologie. Wie bisher auf Erasmus, so setzte er seine Hoffnung auf Luther. Als ihm humanistische Freunde dazu verhalfen, päpstlichen Dispens vom Ordensgelübde zu erhalten, wurde B. Weltpriester. Auf der Ebernburg fiel ihm der Auftrag zu, Luther Sickingens und des Kaiserlichen Beichtvaters Glapion Anerbieten zu überbringen, bei ihm statt in Worms zu verhandeln. Luther lehnte den Vorschlag ab. Ob B. in dieser Zeit mit dem »New Karsthans« und einem anderen Dialog publizistisch hervortrat, bleibt fraglich.
Der Kaplan, der am pfälzischen Hof und bei Sickingen gewesen war, wagte es 1522 als einer der ersten Priester, ehelich zu werden. B. heiratete Elisabeth Silbereisen, die 12 Jahre Nonne im Kloster Lobenfeld gewesen war. Nach Sickingens Niederlage verließ B. sein Amt in Landstuhl, um nach Wittenberg zu gehen. Zuvor wollte er seine Frau nach Straßburg bringen. In Weißenburg bat ihn der Stadtpfarrer, als Prediger zu bleiben. B. gewann zwar dort die Gemeinde, wurde aber durch den Bischof von Speyer gebannt. Heimlich mußte er die Stadt verlassen und kam nach Straßburg. In seiner »Verantwortung auf das Schreiben des Bischofs seiner Person halben« teilt er dem Rat mit, er sei in sein Vaterland gekommen, eine Zeitlang zu verweilen. Weiter sagt er: »Da ich etwas in Predigen und Lehren gelernt habe, das in göttlicher Schrift nicht ausgedruckt steht«, wollte er mit seinen Gaben der Stadt dienen.
In Zells Hause begann er die Schrift auszulegen, gewann die Zuneigung der Bürger und konnte bald auch im Münster predigen und seine ersten Schriften im Druck erscheinen lassen. Als B. 1524 zum Pfarrer von St. Aurelien von den Gärtnern vor der Stadt gewählt wurde, stand er im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit den Altgläubigen, als deren Sprecher der Franziskaner Th. Murner und der Augustiner K. Treger hervorgetreten waren. Ihr literarischer Kampf ist viel beachtet worden. Gleichzeitig legte B. den Grund für die Neugestaltung des Gottesdienstes. Immer stärker rückte er in den Vordergrund und wurde zum Sprecher der Straßburger Kirche. Im Abendmahlsstreit ( Abendmahl: II, 3a) und in der Auseinandersetzung mit den Schwärmern und Täufern steht B. in der ersten Reihe der oberdeutschen Theologen.
Als Straßburg zur evangelischen Stadt wurde, mußte entschieden werden, in welchem Geiste die Neuordnung erfolgen sollte. Die Verbindung mit Basel und Zürich ließ eine gemeinsame Auffassung erstreben. B. ließ zwar Zwinglis Einfluß zu, gab aber seine eigene Auffassung nicht auf. Inzwischen hatte sich unter dem milden Regiment in Straßburg das Täufertum gesammelt und suchte sein Gemeindeideal zu verwirklichen. B. erkannte die Gefahr, die der Kirche von dieser Seite drohte. Auf sein unaufhörliches Drängen hin ist vom Rat eine Entscheidung herbeigeführt worden. Um den Gemeindeaufbau besser leiten zu können, wurde das Amt der Kirchspielpfleger eingeführt. Auf der Synode von 1533 wurden die 16 Artikel und »unser augsburgisches Bekenntnis«, d. h. die Confessio Tetrapolitana, als Lehrgrundlage festgelegt. Demselben Zweck dienten die Versuche zur Einführung der Konfirmation.
Die kirchlichen Kämpfe hatten B. zum Organisator des Kirchenwesens werden lassen. Gedanken, die er dem Rat hinsichtlich des Aufbaus der Kirche in zahlreichen Gutachten vorgetragen hatte, faßte er 1538 in seiner maßgebenden Schrift »Von der waren Seelsorge und vom rechten Hirtendienst« zusammen. Die innerkirchlichen Kämpfe hatten B. nicht nur die Kirchenverfassung straffer aufbauen, sondern auch seine theologischen Ansichten stärker ausprägen lassen. Im Gegensatz zum schwärmerischen Geistprinzip betonte er mit Nachdruck Amt, Wort und Sakrament. In seiner Abendmahlsauffassung berührte er sich mit dem jungen Luther. Wenn er unter dem Eindruck des Honiusbriefes eine Zeitlang eine andere Richtung einschlug, so sollte seine Theologie doch die Brücke zwischen Wittenberg und Oberdeutschland schlagen.
Seit der Speyerer Protestation stand B.s Aufgabe fest. Das Marburger Religionsgespräch hatte ihn enttäuscht und zugleich in seinem tiefsten Anliegen bestärkt. Seine unermüdliche Einigungsarbeit begann auf dem Reichstag von Augsburg 1530. Die von ihm und Capito dort in Eile entworfene Confessio Tetrapolitana ist dafür nicht eigentlich kennzeichnend; sie ist nur Ausdruck der Straßburger Haltung. Als B. im Einvernehmen mit den ev. Fürsten zu Luther auf die Coburg ritt, erfüllte sich seine Hoffnung, die im Abendmahlsstreit entzweiten Theologen wieder zusammenzubringen.
Die theologische und praktische Annäherung wurde ermöglicht. Jahre seines Lebens opferte B. dieser Aufgabe, seine oberdeutschen Freunde mit Luther zu vereinigen. Trotz Zwinglis Widerspruch blieb B. bei seinem Vorhaben. Schien nach Zwinglis Tode der Weg zur Einigung frei, so war doch für viele Schweizer der Standpunkt Zwinglis unaufgebbar. Immerhin hat B. weitgehende Verständigung erzielt und wachsenden Einfluß gewonnen. Magistrate oberdeutscher Reichsstädte wie Ulm, Memmingen und Augsburg ersuchten ihn, ihr Kirchenwesen zu ordnen.
Die Wirkung seiner Arbeit ist bei der Gewinnung Württembergs bemerkbar geworden. B.s Beziehungen zum Landgrafen Philipp von Hessen sind dadurch noch fester geworden. Auf dessen Veranlassung kamen B. und Melanchthon Weihnachten 1534 in Kassel zusammen, um über die Verständigungsmöglichkeiten weiter zu verhandeln. In seinen Formulierungen kam B. dem lutherischen Verständnis weit entgegen. Ein von B. entworfenes Bekenntnis rückte bald die Einigung in nahe Sicht. Im Mai 1536 wurde unter stattlicher Beteiligung oberdeutscher Theologen die Konkordie in Wittenberg vollzogen. Damit war B.s Aufgabe noch nicht beendet. In den folgenden Jahren bemühte er sich unaufhörlich um die Gewinnung der Schweizer. Schließlich scheiterten die Verhandlungen an Bullingers Widerstreben; so blieb der Konkordie der volle Erfolg versagt.
Als B. 1538 vom Landgrafen nach Hessen berufen wurde, sollte er nicht nur Kirchenordnungen aufstellen und durch Einführung des Ältestenamtes und der Konfirmation Einfluß auf das kirchliche Leben nehmen, sondern darüber hinaus an den großen kirchenpolitischen Aufgaben beteiligt werden. Beim Religionsgespräch in Leipzig und erst recht bei den bedeutsamen, von der kaiserlichen Politik bestimmten Verhandlungen in Worms und Regensburg 1541 steht B. im Mittelpunkt theologischer Bemühungen um Verständigung und kirchliche Einheit.
In Worms zur Abfassung einer neuen Einigungsschrift herangezogen, die unter dem Namen des »Regensburger Buches« bekannt werden sollte, hat B. die von Gropper entworfene Schrift gebilligt und meinte, eine Übereinstimmung in der Rechtfertigungslehre gefunden zu haben. In zahlreichen Berichten und Schriften hat er sich aus Überzeugung für den Vergleich eingesetzt. Es konnte nicht ausbleiben, daß er darüber in den eigenen Reihen viele Gegner bekam. Aber er hatte auch Freunde gewonnen. Als Erzbischof Hermann von Wied auf Grund des Regensburger Abschieds die Reformation im Erzstift Köln durchführen wollte, berief er B. im Dez. 1542 nach Bonn. Die von B. verfaßte »Kölner Reformation«, an der auch Melanchthon einige Abschnitte geschrieben hat, sollte als Grundlage der Neuordnung dienen. Die politische Lage ließ es aber zu keinem Erfolg mehr kommen.
Von Geldern aus schlug Karl V. zu und machte die Reformation des Erzstiftes zunichte. Äußerlich hielt B. an der Vergleichspolitik fest. In Regensburg 1546 mußte er noch mit spanischen Theologen verhandeln. B.s Name war inzwischen auch jenseits der Reichsgrenzen bekannt geworden. Staatsmänner und Vertreter der Kirchen wandten sich an ihn um Rat. Seine Korrespondenz sowie Gutachten und Traktate nahmen einen großen Umfang an. Einige seiner Schriften wurden ins Englische, andere ins Tschechische übersetzt. Als der Ausgang des Schmalkaldischen Krieges eine neue Lage geschaffen hatte, mußte auch Straßburg sich dem Kaiser unterwerfen.
B. wurde nach Augsburg entsandt, lehnte aber das »Interim« entschieden ab. Heimlich verließ er den Reichstag und schrieb in Straßburg den »Summarischen Vergriff der christlichen Religion, die man zu Straßburg in die 28 jar gelert«. Karl V. war entrüstet und verlangte seine Entfernung. Unter diesem Druck faßte der Rat den Beschluß, B. »abzufertigen«. Obwohl er Rufe nach Wittenberg, Kopenhagen und Genf hatte, zog B. um der größeren Wirkungsmöglichkeit England vor, wo ihn Erzbischof Cranmer mit hohen Ehren aufnahm.
Als kgl. Lektor der Hl. Schrift erhielt B. in Cambridge eine einflußreiche Stellung. Durch seine Gutachten zum Common Prayer Book und durch sein Eduard VI. gewidmetes Werk »De regno Christi« leistete er der englischen Kirche wertvolle Dienste ( Anglikanische Kirche: I, 1). Es fehlte aber auch hier nicht an Widerspruch und an theologischen Kämpfen. Durch ungewohnte Lebensverhältnisse und durch Krankheit wurde B. in seiner Arbeit behindert. Trotz aller Fürsorge von Angehörigen und Freunden ist er am 28.2.1551 in Cambridge gestorben und wurde dort mit großen Ehren beigesetzt. Die Gegenreformation sah freilich in ihm noch im Tode ihren Gegner. Unter der blutigen Maria wurde ihm der Ketzerprozeß gemacht. Seine Gebeine und Schriften wurden 1556 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Erst im Zeitalter Elisabeths ist sein Ansehen wieder hergestellt worden.
B. hat einen eigenen Typus der reformatorischen Theologie ausgeprägt. Mit Recht hat O. Ritschl von ihm geurteilt: »An theologischer Originalität war er Calvin überlegen, Melanchthon und Zwingli vielleicht ebenbürtig« (III, 125). Wenn seine Theologie sich nicht so ausgewirkt hat, wie sie es wohl verdient hätte, so lag es teils an ihm selbst, teils an der für ihn ungünstigen Lage. Der Theologe B. ist unter Luthers Einfluß gewachsen. Luthers Geist ist aus seiner Theologie nicht fortzudenken. Auf der anderen Seite ist er trotz der äußeren Trennung auch mit Erasmus fest verbunden. Gerade in seiner Schriftauslegung, die einen großen und bedeutsamen Teil seines Werkes darstellt, zeigt sich B. von Erasmus abhängig. In der Betonung des Gesetzes, der Verbindung von Glauben und Werken und ihrer Einwirkung auf seine Rechtfertigungslehre zeigt sich sein erasmisches Erbe.
Aufs Ganze gesehen prägt sich aber in seinen Kommentaren der reformatorische Zug deutlich aus. Durch sie hat B. in starkem Maße gewirkt und fruchtbare Anregungen vermittelt. Mit dem Vernehmen des Wortes beginnt für B. das Wirken des Hl. Geistes am Menschen, das zur Rechtfertigung vor Gott führt. Auf das Wirken des Hl. Geistes legt B. besonderen Nachdruck. Das war auch Luther in Wittenberg aufgefallen. Seine Ausdrucksweise erinnert bisweilen an die der Täufer. Der Geist erleuchtet die Menschen, die das Wort hören, und führt sie zueinander. Der Geist weckt in ihnen die Überzeugung und vermittelt ihnen die Gewißheit.
In Luthers Sinn betont B. die Heiligung als Ausdruck der Dankbarkeit gegen Gott. Neben Wort und Sakrament ist der Geist konstitutiv für die Kirche. Da B. Gesetz und Evangelium nicht im Gegensatz sieht, macht er für den Kirchenbegriff den at. Bundesgedanken geltend. Er kann daher als Vertreter der Föderaltheologie bezeichnet werden. Nach seiner Deutung finden sich in der Kirche die Erwählten zusammen, um das Reich Gottes zu verwirklichen. Zu den notae ecclesiae rechnet B. daher neben Wort und Sakrament auch die Kirchenzucht. In der Sakramentslehre hat er bei einem gewissen Spiritualismus doch immer an der Realpräsenz festgehalten.
Quelle:
Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Auflage, Bd. 1, S. 1454ff.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlicht.
R. Stupperich
Theologisch-exegetische Erkenntnisse, die eine Toleranz gegenüber Juden hätten begründen können, wurden in der Reformationszeit von antijüdischen Vorurteilen überlagert.