'Wir haben keine Flüchtlingskrise - wir haben eine Solidaritätskrise'

Interview mit Balázs Ódor und Dóra Kanizsai-Nagy zur Flüchtlingshilfe der Reformierten Kirche in Ungarn

Balázs Ódor, Leiter der Ökumeneabteilung der Reformierten Kirche in Ungarn, und Dóra Kanizsai-Nagy, Mitbegründerin der Flüchtlingsorganisation Kalunba und Leiterin der Abteilung für die Flüchtlingsintegration bei der Diakonie der Reformierten Kirche in Ungarn © Reformierte Kirche in Ungarn

Seit Jahren unterstützt die Reformierte Kirche in Ungarn mit der Organisation Kalunba Integrationsprojekte in der Flüchtlingsarbeit. Ein Großteil der Projekte wird finanziert über EU-Fördermittel aus dem sogenannten AMIF (Asyl-, Migrations- und Integrationsfond). Zum Juli 2018 ist ein Großteil der finanziellen Mittel weggebrochen. Es geht um Fördermittel in Millionenhöhe.

Noch im Dezember 2017 fand eine reguläre öffentliche Ausschreibung der Mittel in Ungarn statt. Im Januar 2018 wurde bekannt, dass innerhalb von einem Jahr angeblich rund 1300 neue Flüchtlinge in Ungarn "heimlich" Schutz gefunden hatten. Kurz darauf zog die ungarische Regierung die Ausschreibung zurück. Seit Juli 2018 besteht deshalb in der Flüchtlingsarbeit in Ungarn eine enorme Finanzierungslücke: Es geht um Fördermittel von insgesamt über einer Million Euro. Die Reformierte Kirche bittet in diesen Tagen deshalb in einem schriftlichen Hilferuf ihre europäischen Partner um Unterstützung. Wie kam es dazu? Wie steht es um die aktuelle Situation der Flüchtlingsarbeit in Ungarn? Wir sprachen mit Balázs Ódor, Leiter der Ökumeneabteilung der Reformierten Kirche in Ungarn, sowie Dóra Kanizsai-Nagy, Mitbegründerin der Flüchtlingsorganisation Kalunba und Leiterin der Abteilung für die Flüchtlingsintegration bei der Diakonie der Reformierten Kirche in Ungarn.

reformiert-info.de: Im Januar 2018 wurde eine erneute Ausschreibung der AMIF-Fördermittel abgesagt. Wie hat die Reformierte Kirche in Ungarn darauf reagiert?

Balázs Ódor: Die Entscheidung hat uns schwer getroffen. Seit Januar 2018 fragten wir mehrmals bei der ungarischen Regierung an, wie es um die Zukunft von AMIF steht. Bislang haben wir keine klare Antwort bekommen. Was zeigt, dass unsere Einflussmöglichkeiten offenbar begrenzt sind. Ab Juli 2018 liefen so die Gelder für mehrere Projekte in der Flüchtlingshilfe aus. Ob und wann sich daran etwas ändern wird, wissen wir nicht.

Dóra Kanizsai: Wir haben trotzdem große Hoffnung, dass es Ende des Jahres zu einer erneuten Ausschreibung von AMIF kommt. Die ungarische Regierung hatte ab 2015 immer wieder betont, keine Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Der Widerruf folgte kurz nach Veröffentlichung der Flüchtlingszahlen für 2017. Wir hoffen deshalb, dass es sich um eine vorübergehende politische Entscheidung handelt. Im Mai haben wir uns bereits an unsere Partner in Deutschland und Schweiz gewandt und um Unterstützung gebeten. Wir erhalten seitdem von vielen positive Rückmeldung.

Welche von der Ungarischen Reformierter Kirche unterstützen Projekte sind vom Wegfall der Fördermittel betroffen?

Dóra Kanizsai: Betroffen sind Schulprojekte wie Sprachunterricht. Aber auch Projekte in der Arbeitsintegration sowie Wohnungsprojekte. Bis Juni 2018 konnten wir beispielsweise mit dem Projekt „Netovább” 200 Flüchtlingen Unterkunft in 15 Wohnungen finanzieren. Dazu kam noch Integrationsarbeit für 180 Flüchtlinge. Projekte wie diese mussten mit Ende Juni 2018 einstellen. Trotzdem gibt es immer noch viele Helfer, auch Ehrenamtliche, die uns in unserer Arbeit in dieser schwierigen Situation unterstützen.

Wie würden Sie die Arbeitsbedingungen der Flüchtlingshilfe derzeit in Ungarn beschreiben?

Balázs Ódor: Migration ist momentan ein heikles Thema in Ungarn. Oft wird nicht mehr unterschieden zwischen anerkannten Geflüchteten - und Migration allgemein. Für Flüchtlinge gibt es in Ungarn beispielsweise keine Sondersozialleistungen. Die Reformierte Kirche ist deshalb sehr entschlossen, die Arbeit für das eigene Flüchtlingshilfeprogramm weiterhin zu sichern.

Dóra Kanizsai: Seit den Anschlägen von Paris vergeht kaum ein Tag, an dem die Bewohner Ungarns nicht mit Anti-Migrationspropaganda konfrontiert werden. In Form von Postern, Anzeigen in Zeitungen, Radio und Facebook, wendet sich die Regierung massiv gegen Einwanderung. Die Tatsache, dass Kalunba immer noch weiter Flüchtlingshilfe betreibt, hat deshalb eine hoch symbolische Bedeutung.

Welche Schritte sind nötig, um die Flüchtlingsarbeit trotzdem aufrecht zu erhalten?

Dóra Kanizsai: Wir erhalten zwar Spenden, Wir versuchen auch durch Vermietung einzelner Wohnungen Geld zu sammeln. Das genügt aber bei weitem nicht. Der Großteil unserer Finanzierung stammt aus EU-Fördergeldern. Wir benötigen zuverlässige und langfristige Mittel.

Balázs Ódor: Mit Partnern in Deutschland und der Schweiz konnten wir in der Vergangenheit glücklicherweise schon zusammenarbeiten. Derzeit stehen wir mit unseren Partnern in Verhandlungen zu Sonderzuschüssen. In diesen Tagen planen wir außerdem einen Kreditvertrag abzuschließen, mit dem wir einen Cash-Flow von 50.-60.000 Euro zusichern könnten. Wir hoffen bis September so insgesamt unser Finanzierungsziel von 120.000 Euro zu erreichen. Damit wäre für ein halbes Jahr zumindest ein minimaler Aufwand in der Flüchtlingsarbeit gesichert.

Wie sieht dieser minimale Aufwand aus?

Dóra Kanizsai: Noch bis Ende Juni beschäftigten wir 18 Mitarbeiter. Die Hälfte Personals musste gehen. Sprach- und Weiterbildungsprogramme bestehen weiterhin. Ein paar Wohnungen können wir weiterhin finanzieren, fünf können wir voraussichtlich an neu hinzugekommene Flüchtlingsfamilien vermitteln. Am dringendsten werden allerdings Hilfen im Alltag benötigt. Für Flüchtlinge ist es oft einfacher, wenn sie jemand zu Ämtern, ins Krankenhaus oder auch zu Bewerbungsgesprächen begleitet. Nicht nur wegen sprachlicher Hürden. Häufig mangelt es auch an Vertrauen. Vermieter überlassen zum Beispiel Flüchtlingen oft nur ungern eine Wohnung, selbst dann, wenn diese eigentlich über ausreichend Einkünfte verfügen. Da bedarf es oft der Aufklärungsarbeit unserer Mitarbeiter, um sie von der finanziellen Absicherung durch uns zu überzeugen. Nur so aber können wir Flüchtlingen überhaupt Integrationsmöglichkeiten verschaffen.

Wie schätzen Sie die Perspektiven zur Integration von Flüchtlingen in Ungarn ein?

Balázs Ódor: Anerkannte Geflüchtete hätten eigentlich gute Chancen in Ungarn, könnten relativ leicht in den Arbeitsmarkt integriert werden. Dazu braucht es allerdings Förderquellen. Anders als in Deutschland gibt es kaum Sprachkurse. Nur wenige NGOs arbeiten mit Geflüchteten. Wenn wir Geflüchtete überzeugen wollen, dass es in Ungarn Lebensperspektiven gibt, dann müssen wir handeln und ihnen auch sagen warum.

Dóra Kanizsai: Viele Flüchtlinge würden nach dem was sie hier in den letzten Wochen erlebt haben am liebsten in den Westen ziehen. Wir erklären ihnen deshalb immer wieder, warum es sich trotzdem lohnt in Ungarn zu bleiben. Denn dafür gibt es auch viele gute Beispiele: Das Wohnungsprogramm startete ungefähr vor einem Jahr. Die meisten früheren Bewohner haben einen Job gefunden, können sich selbst eine Wohnung finanzieren. Sie sind also bereits gut integriert.

Welche Wünsche haben Sie an Ihre europäischen Partner?


Kollektenempfehlung: Flüchtlingsarbeit in Ungarn

Die Menschen, die sich in Ungarn für Flüchtlinge einsetzen, brauchen unsere Solidarität. Als Kollekte empfehlen wir Ihnen die Projekte der Kalunba Non-Profit GmbH in Budapest, der diakonischen Hilfsorganisation der Flüchtlingsarbeit der Reformierten Kirche in Ungarn. Der Reformierte Bund hat dazu ein Spendenkonto eingerichtet. Mehr dazu erfahren Sie hier.
 

Balázs Ódor: Wir sehen, wie die Niederlassung von Geflüchteten in Europa immer wieder innenpolitisch instrumentalisiert wird. Zur Begründung berufen sich einige Politiker auf vermeintlich christliche Werte. Das alles tut Europa nicht gut und macht es auch nicht stärker. Im Gegenteil: Europa wird damit geschwächt. Aufgabe der Kirchen ist es gemeinsam eine klare gemeinsame Stimme zu finden. Das biblische Gebot der Solidarität und Nächstenliebe kennt keine Grenzen, ist voraussetzungslos und bezieht sich auf jeden Menschen. In Europa gibt es keine Flüchtlingskrise - sondern eine Solidaritätskrise.

Dóra Kanizsai: Wir sind eine christliche Gemeinschaft – ohne stereotypische Grenzen. Finanzielle Hilfe ist deshalb zwar sehr wichtig für uns. Ebenso wichtig ist uns aber auch die emotionale Unterstützung. Wir laden unsere Partner deshalb auch herzlich ein uns in Budapest zu besuchen, unsere Arbeit zu sehen und den Wert der Flüchtlingshilfe schätzen zu lernen. All das hilft uns, der Flüchtlingsarbeit mehr an Legitimation zu verschaffen.

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