Schleiermacher heute

Interview mit Pfarrer Dr. Matthias Loerbroks, Berlin


Zum 180. Todestag des Theologen Friedrich Schleiermacher am 12. Februar sprach reformiert-info mit Pfarrer Matthias Loerbroks über das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit und die Problematik einer Theologie, die nach den Katastrophen der beiden Weltkriege an die glanzvolle Linie von Schleiermacher zu Harnack anknüpfen will, als sei nichts geschehen.

reformiert-info: Als Pfarrer in der Berliner Friedrichstadt gehörst du zu den Nachfolgern des Pfarrers Schleiermacher, der seit 1809 an der Dreifaltigkeitskirche predigte. Die Dreifaltigkeitskirche wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, aber ein Schleiermacherhaus gibt es noch in der heutigen Kirchengemeinde in der Friedrichstadt. Wie gegenwärtig ist Schleiermacher in eurer Gemeinde?

Loerbroks: Ich glaube, viele in der Gemeinde wissen zwar, dass Schleiermacher berühmt ist, aber nicht genau, wofür eigentlich. Das hat sich aber inzwischen ein bisschen geändert. Zum einen habe ich vor vielen Jahren mit einem Kreis Interessierter seine Reden über die Religion in Auszügen gelesen und besprochen. Zum anderen versuchen wir dem großen und verpflichtenden Erbe dadurch gerecht zu werden, dass wir unser schönes Haus mindestens einmal im Monat für die Stadt öffnen, indem wir einen Salon betreiben, den wir „bei Schleiermacher“ nennen: Kammermusik, Lesungen (Christa Wolf, Volker Braun, Adolf Muschg, F.C. Delius, Rolf Hochhuth waren schon da), Politik (Angela Merkel, Wolfgang Thierse, Hans Ulrich Klose, Klaus Wowereit haben uns besucht), Theologie. Und manchmal geht es dabei auch um Schleiermacher selbst: im letzten Jahr hat Andreas Pangritz über die Schleiermachervorlesung von Friedrich-Wilhelm Marquardt, seine erste Vorlesung als Professor an der FU, berichtet, die er aus Marquardts Nachlass herausgegen hat.
Schleiermacher hat ja nicht nur in den Reden von 1799, sondern sein ganzes Leben lang an einer Überwindung der Grenze zwischen Kirche und Nichtkirche, zwischen Kirche und Kultur, Kirche und Gesellschaft gearbeitet. Und er hat in seiner ersten Berliner Zeit, als er noch nicht hier Pfarrer war, sondern, ein paar Meter nördlich, Krankenhausseelsorger in der Charité, von den Salons in unserer Gegend profitiert. Daran knüpfen wir ein bisschen an.

Schlechthinnige Abhängigkeit: das Gefühl, Teil zu sein eines großen Ganzen

Berühmt wurde Schleiermachers Diktum vom »Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit«. Was ist damit gemeint?

Loerbroks: Mit diesem Wort klingt er uns heute besonders fremd, weil wir mit Abhängigkeit Negatives verbinden. Ob wir von Drogenabhängigen oder von abhängig Beschäftigten reden – wir meinen das Gegenteil von Freiheit, von Emanzipation, Selbständigkeit. Anders Schleiermacher. Er hatte schon in den Reden behauptet, Gott sei für die Religion längst nicht so wichtig, wie ihre Anhänger und Gegner meinen. Religion ist vor allem Gefühl, Sinn und Geschmack fürs Unendliche – und dies Gefühl ist Mittel der Wahrnehmung, der Erkenntnis. Da ist er lebhafter Teilnehmer der Frühromantik, ihrem Erleben des Universums um uns herum und in uns. Universum, die Menschheit sind für ihn Stoff der Religion. Das Bewusstsein schlechthinniger, also grundsätzlicher, nicht bloß hier und da zufällig auftretender Abhängigkeit ist dieses Gefühl: Teil zu sein eines großen Ganzen, eines faszinierenden Gewimmels, verschmolzen zu sein mit dem Universum, mit der Gattung Mensch. Abhängigkeit ist darum für Schleiermacher nicht eine Einschränkung, die es – Austritt aus selbstverschuldeter Unmündigkeit – zu überwinden gilt, sondern Leben in ganzer Fülle. Ein Echo davon höre ich, wenn Tillich sagt, Gott ist das, was mich unbedingt (schlechthinnig) angeht; oder, noch etwas seltsamer bei Herbert Braun: das Woher meines Umgetriebenseins. Leo Baeck sprach später, auch in der Auseinandersetzung mit Harnack, der ja – Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott – zur Schleiermacherfamilie gehörte, von romantischer Religion, meinte das nicht nur historisch, auch systematisch: Religion, die ihr Zentrum nicht außen, extra nos – in der Geschichte, in der Bibel, in Israel, in Jesus Christus – hat, sondern innen, in nobis.

Was trägt Schleiermachers Theologie bei zur aktuellen Debatte um die Wiederkehr der Religion, Religion jenseits der Konfession und die Erkenntnis, dass viele Religionslose glücklich sind?

Loerbroks: Diese Debatte um eine Wiederkehr der Religion war ja von Anfang an höchst ambivalent. Sie entzündete sich ja, wenn ich das richtig mitgekriegt habe, an den Massenmorden vom 11. September 2001, an denen doch gerade das entsetzliche Gewaltpotential von Religion deutlich wurde und damit das Problem der Gottesbemächtigung. Es wäre doch leicht vorstellbar gewesen, dass daraufhin die theologische Religionskritik Barths und Bonhoeffers in ihrer aktuellen Relevanz wiederentdeckt worden wäre. Ich kann mich erinnern, dass ich genau das tat – am Sonntag nach diesen Morden war Jakobs Traum von der Himmelsleiter Predigttext. Stattdessen aber war unsere Kirche auf makabre Weise beglückt darüber, dass die Prognose vom Absterben der Religion sich als falsch erwiesen hatte, und begann, sich als Aufzeigerin und Deuterin religiöser Phänomene zu betätigen. Ich habe das nicht so richtig verstanden, registriere aber natürlich, dass bei diesem Tun auf Schleiermacher sich berufen wird, aber vielleicht nicht immer ganz zu Recht. Zum einen bin ich mir nicht sicher, ob wir im Gespräch mit nichtkirchlichen Zeitgenossen sein Niveau haben – der gute Vorsatz, nicht bloß innerkirchlich, sondern auch nach außen zu kommunizieren, reicht da nicht. Schleiermacher war es besser als uns heute gelungen, den Nerv und die Seelen seiner Zeitgenossen zu treffen. Zum anderen hat er ihnen, bei aller betonten Zugehörigkeit zu ihnen, nicht nach dem Mund geredet. Dem aufstrebenden, sich emanzipierenden Bürgertum ausgerechnet mit dem Stichwort Abhängigkeit zu kommen, war doch schon damals eine geniale Frechheit.

Widerstand gegen einen Glauben, der mit der Barbarei geht

Können wir von Schleiermachers »Frechheit« etwas lernen?

Ja, wir können da von Schleiermacher lernen. Zum einen scheint mir sein Widerstand dagegen, dass die Kultur mit dem Unglauben geht, der Glaube aber mit der Barbarei, höchst aktuell zu sein, viel weniger klar aber ist, wie dieser Widerstand heute theologisch zu praktizieren ist, zumal nach jenem fürchterlichen Umschlag von Kultur, Aufklärung, Zivilisation in Barbarei, für den Auschwitz steht. Zum anderen könnte seine scharfe Unterscheidung dessen, was er Religion nennt, von Moral einerseits, Metaphysik andererseits unsere Kirche daran hindern, ihre Wichtigkeit und Nützlichkeit durch ihre Beiträge zur Wertediskussion und Werteerziehung (ein Begriff, den der Pädagoge Hartmut von Hentig einen Pleonasmus nennt) erweisen zu wollen.

Die theologische und kirchliche Debatte klingt zur Zeit ein bisschen so, als sei der Bruch, den der Theologe Karl Barth im ersten Weltkrieg vollzog und dann ausarbeitete, als sei insbesondere seine Religionskritik eine zeitbedingte Übertreibung gewesen, die wir nun endlich hinter uns gelassen haben, um wieder an der großen und glanzvollen Linie von Schleiermacher zu Harnack anknüpfen zu können, als wäre nichts geschehen. Angesichts des Weltgeschehens, dessen Zeugen und Mitmacher wir sind, scheint mir das sträflich naiv. Wir werden ja in diesem Jahr oft an den ersten Weltkrieg erinnern und erinnert werden. Vielleicht wird das auch unsere Augen für die theologische Situation jetzt öffnen.

Dass Menschen ohne eine Bindung an den Gott Israels glücklich sein können, umgekehrt aber Menschen mit solcher Bindung höchst unglücklich; dass also die zahlreichen biblischen Seligpreisungen keine analytischen, sondern synthetische Sätze sind, scheint mir kein neues Phänomen zu sein – siehe etwa Psalm 73, dem die Jahreslosung entnommen ist.

Inwiefern war Schleiermacher ein reformierter Theologe?

Loerbroks: Seine Forderung nach klarer Trennung zwischen Staat und Kirche, die er sein Leben lang durchhielt, entstammt reformiertem Erbe, überhaupt seine Arbeiten zur Kirchenverfassung. Die starke Betonung von Geselligkeit, also Gemeinschaft, in der Religion möglicherweise auch, aber sicher spielt da auch sein Herrnhuter Erbe – kein Christentum ohne Gemeinschaft! – mit und natürlich auch die Frühromantik, die Welt der Salons. In dieser Frühzeit, der Zeit der Reden und der Salons, hat er einen wunderschönen und sehr frechen Text geschrieben: Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen*. In diesem Katechismus werden auch die Zehn Gebote aktualisiert und zwar nach reformierter Zählung – also Extragebot fürs Bilderverbot –, die wohl auch die biblische ist.

Theologe der Union zwischen Lutheranern und Reformierten

Aber Schleiermacher war auch ein leidenschaftlicher und phantasievoller Theologe der Union zwischen Lutheranern und Reformierten. Er war enttäuscht darüber, dass bei der preußischen Union Theologie so gar keine Rolle spielte, weil sich die Hohenzollern dafür nicht interessierten, hat aber hie in der Dreifaltigkeitsgemeinde mit seinem Kollegen Marheineke – Kollege in der Gemeinde und an der Universität – einen inhaltlichen Unionsvertrag geschlossen. Der spätere Berliner Theologe, der Barth- und Lutherschüler Helmut Gollwitzer, hat ja ebenfalls an diesem Thema gearbeitet, nicht nur wegen seiner beiden Lehrer, sondern vor allem provoziert durch ganz überflüssige und schädliche Trennungen im Kirchenkampf. In einer Zeit, in der weiten Teilen der Öffentlichkeit schon der Unterschied zwischen katholisch und evangelisch nicht mehr recht klar ist – und sogar die Gollwitzerschülerin Antja Vollmer ihn für überwindbar hält –, scheint es mir lohnend, an einer solchen Theologie der Union weiterzuarbeiten.

Vielen Dank für das Gespräch.

*Abgedruckt in einem Essay über Schleiermachers Idee zu einem Katechismus von Juliane Jacobi, im PDF S. 18ff., im Text S. 172ff.

Pfarrer Dr. Matthias Loerbroks, Jg. 1956. Studium der Theologie in Tübingen und Berlin. 1996 Promotion bei Friedrich Wilhelm Marquardt. Seit 1998 Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde in der Friedrichstadt, Berlin.

Februar 2014

zum 180. Todestag von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (21.11. 1768 - 12.02. 1834)

von Gudrun Kuhn, Nürnberg