Freiheit, die ich nicht meine

Einspruch! - Mittwochs-Kolumne von Georg Rieger


Dass die Bürger der DDR am 9. November 1989 in die Freiheit entlassen wurden, ist zwar irgendwie richtig aber auch ein billiges Klischee. Denn es verkennt, was wirkliche Freiheit sein will.

Ich bin am Samstag zu einer Mauerfall-Party eingeladen. Mittags bin ich noch in Dresden bei der diesjährigen UEK-Synode und fahre dann nach Nürnberg zum Feiern mit den befreundeten „Ossis“. Den ehemaligen Grenzübergang werde ich nachmittags passieren ohne ihn zu bemerken. Denn die Spuren der einstigen Grenze sind so gut wie beseitigt.

Was ist das eigentlich für eine Freiheit, die da erkämpft beziehungsweise ja eben nicht erkämpft, sondern friedlich abgerungen wurde am 9. November 1989? Dieser historische Augenblick, in dem die Bürger der DDR von ihrer eigenen Staatsführung in den Westen entlassen wurden, ist inzwischen mehrfach verfilmt und hat immer auch etwas Komisches, ja Dilettantisches. Dass ein Staatsapparat, der mit immensem Aufwand seine Bürger bespitzelt hat, so sang- und klanglos abtreten musste, gehört schon zu den politischen Weltwundern.

Und doch war es nicht die Freiheit, die mit dem Mauerfall erlangt wurde, sondern nur eine Freiheit. Eine ganz wesentliche, denn die Freiheit, frei heraus zu reden und zu reisen, ist unbestreitbar ein hohes Gut. Und auch am Wohlstand teilhaben zu dürfen, ist eine Freiheit.

Und was ist diese Freiheit wert, wenn die Mauer erst einmal gefallen ist? Ich möchte behaupten, dass viele Menschen im Westen wesentlich unfreier waren (und sind) als andere im Osten. Und dass sich Manche bis heute nicht freier fühlen als vor dem Mauerfall hat auch nicht nur etwas mit Undankbarkeit oder einer verqueren Weltsicht zu tun. Für manche war die Freiheit eben nicht der Anfang, sondern das Ende einer beschützten Existenz.

Freiheit ist einfach auch anstrengend, denn sie erfordert ständig in Bewegung zu bleiben und nicht nur an die eigenen Bedürfnisse zu denken. Für den „Apostel der Freiheit“ John Stuart Mill (1806-1873) ist Freiheit das Glück all jener, die ihre Freiräume „auf das Glück der anderen, auf die Verbesserung der Menschheit“ richten.* Das ist so ziemlich das glatte Gegenteil von dem, was uns sogenannte Liberale als Freiheitsideal vorgaukeln und was einzig und alleine auf die Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen zielt.

In Wahrheit meint die Freiheit immer die Freiheit des Anderen mit und ist ein Wert, der in der Gesellschaft ständig diskutiert werden muss. Wie steht es denn zum Beispiel um die Freiheit der Menschen, die aus welchen Gründen auch immer an unsere Grenzen kommen? Gelten für die andere Freiheits-Maßstäbe?

Sicherlich braucht der Mensch immer auch ein gewisses Maß an Abhängigkeit und Sicherheit. Eine totale Freiheit kann es gar nicht geben und soll es auch nicht geben. Ich werde zum Beispiel mit dem Auto nach Dresden fahren, weil ich wegen des Streiks der Bahn fürchte, nicht rechtzeitig zur Huldigung der Freiheit wieder in Nürnberg zu sein.

*) Quelle: brandeins, Heft 1 Januar 2011, Seite 51