Was ist Reformierten heilig?

Zwischen Norm und Praxis ist Vielfalt


In der Johannes a Lasco Bibliothek - www.jalb.de

Ein subjektiver und selektiver Rückblick auf die Emder Tagung: Erinnert. Verdrängt. Verehrt. Was ist Reformierten heilig? Von Barbara Schenck, Rinteln

Von Historikern für Historiker war das Thema der 10. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des Reformierten Protestantismus geplant. Doch bei der Ausführung in Emden Anfang der Woche blieben Dozierende und Diskutierende nicht in Entdeckungen vergangener Zeiten stecken. Die Brücke in die Gegenwart wurde stets geschlagen und lebhaft diskutiert, sei’s zum Thema „Märtyrer“ oder „Bekenntnis“ oder „Wirtschaftsethik“.
Wer vor Emden gedacht hatte, einige Pfeiler spezieller reformierter „Heiligkeit“ stünden unhinterfragt im Raum, wurde eines Besseren belehrt von den rund 50 angereisten UniversitätsdozentInnen und HobbyhistorikerInnen aus Nord-, Süd-, West- und Ostdeutschland, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich und Ungarn sowie aus Singapur.

Märtyrer – „Heilmittel für Schwachgläubige“

Irene Dingel, Professorin für Kirchen- und Dogmengeschichte in Mainz machte den Aufschlag zu Lehrern und Märtyrern als „Heilige“. Reformierte Autoren setzten die Tradition der Märtyrerbücher fort. Der Drucker und Verleger Jean Crespin (1520–1572) schrieb ein Buch der heiligen Märtyrer, zu denen er etwa Jan Hus (1369–1415) zählte. Der Genfer Rat beschied allerdings, die Wörter „heilig“ und „Märtyrer“ sollten im Druck vermieden werden. Johannes Calvin selbst habe keine derartigen Bedenken gehabt, so Dingel. „Er bezeichnete Zeitzeugen als heilige Märtyrer“. Publiziert wurde das Buch als „Sammelband über mehrere Personen, die im Namen unseres Herrn Jesus Christus den Tod erlitten“. Der Verfasser Crespin solidarisierte sich mit den „Märtyrern“ als „wahre Botschafter Gottes in unserer Zeit“. Die memoria an sie sei für Crespin ein „Heilmittel für Schwachgläubige“ gewesen, so Dingel.
Später wurden auch Geschichten von Märtyrern veröffentlicht, die nicht den Tod erlitten hatten, etwa in der „Kurzen Geschichte der französischen Märtyrer der Reformationszeit“ von Simon Goulart (1543–1628). Die Märtyrer waren nun nicht mehr nur Trost für Verfolgte, sondern auch Anleitung zu einem heiligen, mit dem Evangelium übereinstimmenden, tugendhaften Leben.
Zur Frage nach „Sakralisierungstendenzen in der Gegenwart“ betrachtete Dingel die biografische Aufarbeitung des Lebens von Johannes Calvin, der nicht wie Martin Luther von Zeitzeugen als Prophet stilisiert wurde. Im Gegenteil: Ein „sexueller Sonderling“ und „ruheloser Diktator“ sei er gewesen, polemisierten katholische Gegner der Reformation und schufen so ein bis heute präsentes Bild des Reformators. Theodor Beza (1519–1605) hingegen schilderte seinen Vorgänger in Genf als „Exempel für aufrichtigen und kompromisslosen Einsatz für Doktrina“. Calvin wurde zum Modell für Selbstverleugnung und Kreuztragen, ja verkörperte eine „Art christliches Heldentum“ und wurde im 19. Jahrhundert „emblematische Figur“ auch für die gesellschaftliche Kultur. Im 19. und 20. Jahrhundert stieg Calvin auf zum „überlebensgroßen Apostel der Moderne“, das Reformiertentum zu einem „Beitrag zur Entwicklung des Toleranzgedankens“. Dingels Fazit: Der historischen Person werde das zugeschrieben, was uns heute wichtig sei. In Selbstzeugnissen habe Calvin für sich Bescheidenheit, Sanftmut und Milde reklamiert. Im Calvinjubiläum 2009 wurde dies hervorgehoben. Das sei Reformierten heute heilig, betonte Dingel: Ihre „Heiligen“ ihrem Selbstbild zu überlassen. Das Anliegen der Gegenwart sei die „innerweltliche Heiligung christlicher Werte“.

Junge Menschen gewinnen

Transformationen waren auch das Thema von John Exalto, Professor in Amsterdam. Er entfaltete die pädagogische Absicht hinter dem Wandel des Märtyrerideals zur asketischen Frömmigkeit im 17. Jahrhundert am Beispiel des Testaments der Abigail Gerbrants (1582–1600). Das 1604 zum ersten Mal publizierte Buch schildert das einfache Leben einer jungen, früh verstorbenen Frau, geprägt von Glaube, Bekenntnis, Gehorsam den Eltern gegenüber, Gebet, Bibellese, Psalmengesang und wohltätiger Nächstenliebe.
Das schnell populär gewordene – und 2010 nochmals im Nachdruck erschienene – Buch sollte die Bildung der reformierten Kirche auf lokaler Ebene fördern. Die Gesellschaft in den Niederlande um 1600 war relativ jung und in ihrer konfessionellen Entscheidung noch offen. So mussten die jungen Erwachsenen mit einem „leuchtenden“ Beispiel an Tugend für die eigene Kirchengemeinde gewonnen werden.

„Christ zwischen zwei Stühlen“: Jean Hotman

Um 1600 habe es keineswegs bereits festgezogene Linien zwischen den Konfessionen gegeben, auch wenn die etablierten Kirchen sich darum bemüht hätten, betonte auch Mona Garloff, Historikerin in Stuttgart.
Für ihre Dissertation über den französischen Gelehrten und Diplomaten Jean Hotman (1552–1636) erhielt Garloff den auf der Tagung verliehenen J.F. Gerhard Goeters-Preis der Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus (reformiert-info berichtete).
Jean Hotman, so erinnerte Marius J. Lange van Ravenswaay, Vorsitzender der Gesellschaft, in seiner Laudatio, sei als „Christ zwischen zwei Stühlen“ bekannt gewesen. Der Sohn eines berühmten calvinistischen Rechtsanwaltes engagierte sich für die Reunion der reformierten und der römisch-katholischen Kirche Frankreichs in einer gallikanischen Nationalkirche.

Gott heiligt!

In all der Rede über Heiliges musste das Selbstverständliche hin und wieder extra betont werden: „Die Reformatoren hatten kein Problem mit Heiligen als Beispiel, aber als Miterlöser Christi“, so Herman Selderhuis. Oder: Nicht die Person eines Märtyrers galt als heilig, sondern allenfalls seine Taten. Oder, noch deutlicher, wie Raphaela Meyer zu Hörste-Bührer, Hannover, in ihrer These zur Erinnerung in der Religionskritik Karl Barths festhielt: Nicht Menschen heiligen, sondern Gott:
„Erinnerung ist dann – und nur dann – heilig, wenn sie von Gott geheiligt wird, und so die Erinnerung an ihn selbst und sein Tun ist. Sobald sie aber zum Selbstwert wird, steht sie in der Gefahr, zum Götzendienst zu werden.“

Bekenntnis erinnern und aktualisieren

Anhand des Heidelberger Katechismus (HK) in Indonesien zeigte Frederike von Oorschot, wie der HK als Bekenntnis im Laufe seiner Geschichte nach der Unabhängigkeit des Staates als postkoloniales Relikt vergessen wurde, in seinem Jubiläumsjahr 2013 wieder erinnert und mit einem Anhang aktualisiert wurde.

Ihrem Vortrag voran stelle Oorschot als Merkmal reformierter Bekenntnisse die Aussage von Georg Plasger und Matthias Freudenberg, diese seien „prinzipiell überbietbar, d.h. revidierbar“. An diesem Punkt wandte Albert de Lange ein, in der Protestantischen Kirche in den Niederlanden (PKN) gebe es durchaus einen „Kanon“ an Bekenntnissen und man sei sehr vorsichtig, „modernes Zeug“ als Bekenntnis anzuerkennen.
Das, was den einen lieb und teuer ist an der eigenen konfessionellen Identität, ja gar als „Norm“ proklamiert wird, ist für andere unter Verweis auf die gemeine Wirklichkeit schlicht Wunschdenken.

Vom Kultort zum Kulturort

Ein ganz anderes Beispiel, das Anlass bietet für die Frage nach der „reformierten Heiligkeit“, zeigte der Medienpädagoge Andreas Mertin  an Hand der wechselvollen Geschichte der Zürcher Wasserkirche.
Die über der Hinrichtungsstätte der beiden christlichen Stadtheiligen Felix und Regula vermutlich im 10. Jahrhundert errichtete Kirche wurde schnell zur Pilgerkirche auf dem Weg nach Santiago de Compostela, nach dem Bildersturm um 1540 eine Markthalle, im 17. Jahrhundert öffentliche Bibliothek und Kunstmuseum. Als „Tempel der Weisheit und Wissenschaft“ hatte die Wasserkirche bis ins 20. Jahrhundert Bestand.

Bild: Blick in die Bürgerbibliothek. Stich von Johann Melchior Füssli, Neujahrsblatt der Bürgerbibliothek, 1719.

1943 wurde sie wieder Gotteshaus, die barocken Balustraden für Bücherregale und Bildergalerien wurden entfernt, der Zugang zum Stein der Hinrichtung freigelegt. Das Ursprüngliche galt mehr als die hinzugefügte Architektur, obwohl gerade Balustraden nicht untypisch für reformierte Kirchen sind.
Mertin beantwortete die anfangs gestellte Frage nach dem typisch Reformierten: Wir sollten einen reformierten Umgang mit den „Zutaten“ pflegen, so wie die Evangelisten als Schriftsteller auf besondere Weise mit den überlieferten Mythen umgingen.
Die gar köstlichen „Zutaten“ des folgenden Mahls beim Empfang der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau nutzten die Teilnehmenden ganz in diesem Sinne: Inmitten der Passions- und Fastenzeit genossen sie Speis und Trank, ohne die Gespräche zur „heiligen“ Sache zu unterbrechen.

Zeitgemäßes Gedenken

Mit der Andacht von Achim Detmers, Generalsekretär des Reformierten Bundes, am 17. März, dem 45. Todestag von Günther Dehn (1882–1970) wurde das historische Forschen zum zeitgemäßen Gedenken an einen Theologen, der früh Widerstand leistete gegen den „modernen Nationalismus“. Bereits 1928 sprach Dehn sich gegen eine Charakterisierung des Soldatentodes als christlichen Opfertod aus, denn Soldaten hätten selbst töten wollen.

Verdrängt: Kirchenzucht

Das Thema Kirchenzucht darf wohl nicht fehlen, wenn verdrängter reformierter Tradition gedacht wird. Judith Becker zeigte in Ihrem Vortrag deutliche Sympathie für Calvins Verständnis der Kirche als ecclesia permixta, in der die einzelnen Menschen nicht erkennen können, wer heilig sei und wer nicht und in der Kirchenzucht, quasi als geschwisterlicher Ratschlag, lediglich als Mittel diene, um Ordnung, Friede und öffentliches Ansehen in der Kirchengemeinde zu wahren.

Erinnert: Zwinglis Sozialethik

Als ein Beispiel für das, was der Erinnerung für wert geachtet wird, nannte Marco Hofheinz, Professor in Hannover, Zwinglis Ausführungen zur Sozialethik. Die Dialektik von menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit übernahm Arthur Rich, der bedeutendste Wirtschaftsethiker des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Rich wollte „eine am Absoluten orientierte Ethik für die Welt des Relativen“ entwickeln, die „das zur Geltung zu bringen bemüht ist, was Gott im Kommen seines Reiches will“, so Hofheinz.

Verehrt? Der „Kirchenvater des 20. Jahrhunderts“

Reformierte Erinnerungsnarrative im 20. Jahrhundert erkundete Hans-Georg Ulrichs, Studierendenpfarrer in Heidelberg. Namentlich nannte er
1) „Wuppertal“, also Elberfeld plus Barmen, mit Deutschlands größter reformierter Gemeinde um die Wende vom 19. aufs 20. Jh. und Ort der theologischen Erklärung von 1934,
2) „Karl Barth“, den wichtigsten Lehrer in der Bekennenden Kirche und laut Kornelis Heiko Miskotte der „Kirchenvater des 20. Jahrhunderts“, sowie
3) den „status confessionis“, der in der Erklärung zur Friedensverantwortung 1982 proklamiert wurde.
Ulrichs Resümee nach – auch kritischer Beleuchtung, wie diese „Narrative“ stilisiert wurden: Als „Kontinuitätsgefühl“ habe sich die Meinung durchgehalten, man müsse „sich verteidigen und gegen eine institutionell dominante, eine falsch lehrende oder eine ungerecht handelnde Majorität ankämpfen“. Die – objektiv nicht unbedingt gegebene – Position der Schwäche sei zu eigener Stärke umgemodelt worden. So sei aus dem „Minoritätsbewusstsein“ der Reformierten ein stolzes „Wir sind anders“ geworden – höchste Zeit also, selbstkritisch eine Konfessionsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu schreiben.

Das Buch zur Tagung mit Vorträgen und Kurzreferaten wird demnächst beim Neukirchener Verlag in der Reihe „Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus“ erscheinen, herausgegeben von Thomas Kuhn und Nicola Stricker – selbstverständlich samt all der zahlreichen, in diesem Artikel unerwähnten Beiträge.

Barbara Schenck, 20. März 2015