Es ist genug für alle da

Predigt zu Mt 15,21-28


© Brot für die Welt

Liebe Gemeinde,

„es ist genug für alle da“ – das ist das Evangelium des heutigen Sonntags. „Es ist genug für alle da“ – diesen Slogan hatte Brot für die Welt vor einigen Jahren gewählt, um darauf aufmerksam zu machen, dass Nahrung und Rohstoffe, Wohnung und Teilhabe auf unserer Erde ungerecht verteilt sind. „Es ist genug für alle da“ – darauf laufen zwei wunderbare biblische Geschichten hinaus, die ganz nahe beieinander im Matthäusevangelium stehen. Die Geschichte von der Speisung der 5.000 im 14. Kapitel und die von der Speisung der 4.000 im 15. Kapitel.

Wenn man sich vorstellt, dass der Evangelist Matthäus die vielen Geschichten gesammelt hat, die Menschen von Jesus erzählten, um sie dann in eine für ihn sinnvolle Reihenfolge zu bringen, dann fragt man sich schon, warum er eine ganz ähnliche Geschichte zweimal erzählt. Vergesslichkeit kann es nicht sein… Und dann so nahe beieinander. Da steckt mehr dahinter.

„Es ist genug für alle da“ – das ist ja ein tröstlicher Satz für die, die zu wenig haben. Die sich um das tägliche Brot sorgen. Die am Morgen nicht wissen, was sie ihren Kindern zu essen geben werden und wo sie am Abend zur Ruhe kommen und schlafen können. „Es ist genug für alle da“ - ein tröstlicher Satz für die Menschen damals im 1. Jahrhundert, die mit Jesus gelebt haben oder später in seiner Gemeinde aus dem Wort Gottes und der Erinnerung an den Auferstandenen Kraft geschöpft haben.

„Es ist genug für alle da“ – das gilt auch für uns heute, in unserem reichen Land. Aber wenn ich an den alten Herrn denke, der sich bei uns regelmäßig einen Gutschein holen muss, um bei EDEKA Lebensmittel einzukaufen, oder die große Familie, die keine angemessene Wohnung findet, oder den sportlichen und bewegungshungrigen jungen Flüchtling, der eine Möglichkeit hätte, in einem Fußballverein mitzuspielen, wenn ihm jemand die Straßenbahnfahrkarte bezahlt – dann merke ich, wie ungerecht so manches verteilt und geregelt ist.

„Es ist genug für alle da“ – zwischen den 5.000, die satt werden, und den 4.000, die genauso satt werden, steht unser heutiger Predigttext. Und auch er könnte die Überschrift haben „Es ist genug für alle da“.

Mt 15, 21 – 28 (Neue Zürcher Bibel)

„21Und Jesus ging von dort weg und zog sich in die Gegend von Tyrus und Sidon zurück.
22Und da kam eine kanaanäische Frau aus jenem Gebiet und schrie: Hab Erbarmen mit mir, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem Dämon furchtbar gequält.
23Er aber antwortete ihr mit keinem Wort. Da traten seine Jünger zu ihm und baten: Stell sie zufrieden, denn sie schreit hinter uns her!
24Er antwortete: Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.
25Doch sie kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir!
26Er antwortete: Es ist nicht recht, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden hinzuwerfen.
27Sie sagte: Stimmt, denn die Hunde fressen ja ohnehin von den Brotbrocken, die vom Tisch ihrer Herren fallen.
28Darauf antwortete ihr Jesus: Frau, dein Glaube ist groß! Dir geschehe, wie du willst. Und von Stund an war ihre Tochter geheilt.“

Ich möchte diese Frau gerne kennenlernen. Ihr Engagement beeindruckt mich, vielleicht auch ihre Verzweiflung. Alles zu tun, damit die Tochter wieder gesund wird. Keine Mühe scheuen. Sich lächerlich machen. In der Öffentlichkeit. Hartnäckig dran bleiben. Nicht aufgeben.

Wer sich in der Bibel ein bisschen auskennt, der weiß, dass es schon immer den Gegensatz gibt zwischen Israel und Kanaan. Kanaan, das Land, in dem Milch und Honig fließen, Kanaan, die Region, in der Gottes Volk sich ansiedelt, nach dem es aus Ägypten, aus der Knechtschaft, geflohen ist. Entkommen vor den Schergen des Pharao. Kanaan, der Landstrich, der dem Volk Israel Zuflucht und Heimat geboten hat, zwischen den dort Ansässigen – für viele Jahrhunderte.

Und doch war man verschieden – lebte nebeneinander mit unterschiedlichen Religionen und Gottesvorstellungen. Beäugte sich, war neidisch aufeinander, vertrug sich an manchen Orten und zu manchen Zeiten, dann auch wieder nicht. Und so erklärt sich hier die Schärfe des Konfliktes:
Jesus, der Sohn Israels, Gottes Zeichen für seine Treue zu seinem erwählten Volk und die Frau aus der Region, das oft als heidnisch bezeichnet wird. Wie reagiert Jesus?

Wie eine deutsche Behörde. Prüft erstmal die Zuständigkeit. Bin ich zuständig, bin ich angesprochen – oder kann ich auf andere verweisen, die Frage von mir weisen, abschieben? Es ist alles geregelt, erfahren wir, wenn wir uns versuchen schlau zu machen, was mit den vielen Flüchtlingen geschieht, die zu uns nach Europa oder auch in unser Land und in unsere Stadt gekommen sind. Und dann erleben wir, dass die Anforderungen der Realität nicht mit den Regelungen und Zuständigkeiten übereinstimmen.

Was kümmert es jemand, der die weite Reise aus Sierra Leone über Marokko und dann das Mittelmeer zu uns genommen hat, ob er sich bei uns – und seinen letzten vielleicht 300 Reisekilometern bis zum Bruder oder zur Mutter – legal oder illegal bewegt? Wir haben davon gehört, bei der Lesung am Freitagabend, hier im Gemeindezentrum. Was hilft es Menschen, die aus zerbombten Städten geflohen sind, sich täglich ums Überleben kümmern mussten und Erstaunliches erreicht haben, wenn man ihre beruflichen Hintergründe nicht beachtet und sie zur monatelangen Untätigkeit zwingt?

Ich kann mich noch an eine ganz eindrückliche Begegnung erinnern, als ich in der HEAE in Schwalbach als Flüchtlingspfarrerin gearbeitet habe. Alle 14 Tage haben wir zu einem Gottesdienst eingeladen – über alle Sprach- und Konfessionsgrenzen hinweg. Mussten Lieder finden, die alle mitsingen oder zumindest anhören wollten. Und Bibeltexte, die für möglichst viele etwas bedeuten – und in unterschiedlichen Sprachen vorgelesen werden konnten. Da sprach mich ein Mann an, ein armenischer Christ aus dem Iran, der mit seiner muslimischen Frau und dem gemeinsamen kleinen Sohn geflohen war. Als Familie konnten sie dort nicht leben – er hatte die falsche Religion.

Arzt, Röntgenfacharzt war er – und als ich ihm über das weitere Asylverfahren erklärte, er werde in den nächsten Tagen auf TB geröntgt, da wollte er sofort den Kollegen unterstützen, mit seiner Kompetenz und seinen Erfahrungen. Das ist ja so einfach nicht möglich… Und als wir dann im Gottesdienst Bibeln in unterschiedlichen Sprachen anboten, fand er schnell eine in seiner Muttersprache. Armenisch. Und hatte schnell Tränen in den Augen. Die ganze Härte, die er in den letzten Wochen auf der Flucht zeigen musste, fiel von ihm ab. Er weinte. Erinnerte mich an ein Kind, das nur in den Armen seiner Mutter Trost finden kann.

Jesus – nicht zuständig. „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt“. Jesus argumentiert: „Es ist nicht recht, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden hinzuwerfen.“ Jesus hat nicht mit der Schlagfertigkeit der Frau gerechnet. Sie widerspricht nicht – sie stimmt ihm zu. Das entwaffnet. Taktisch klug meldet sie sich zu Wort. Sie greift sein Bild auf:

27Sie sagte: Stimmt, denn die Hunde fressen ja ohnehin von den Brotbrocken, die vom Tisch ihrer Herren fallen.

„Es ist genug für alle da“. Genug für die Kinder. Genug für die Hunde. Kein Grund zum Neid, kein Grund, sich abzugrenzen und abzuschotten. Keine Notwendigkeit, nicht zuständig zu sein. Als der Evangelist Matthäus die vielen Geschichten aufgeschrieben hat, die er von Jesus kannte, da hat er sich gefragt, ob Jesus nur zum jüdischen Volk oder zur ganzen Menschheit gesandt wurde.

Gottes Treue gilt Israel, seinem auserwählten Volk. Und sie gilt den Menschen aus der Völkerwelt, aus Kanaan, aus dem römischen Reich, aus allen Regionen. Die Juden sind und bleiben Gottes Kinder. Aber die kanaanäische Frau erweitert den Horizont Jesu. „Es ist genug für alle da“ – Gottes Heil kennt keine Grenzen. Die Fülle des Heils kann Israel sättigen und darüber hinaus auch für die Heiden reichen. Die Treue Gottes an seinem Volk schließt sein Heilshandeln an den Menschen aus der Völkerwelt nicht aus.

„Lobt Gott den Herrn, Ihr Heiden all…
dass er euch auch erwählet hat
und mitgeteilet sein Gnad in Christus seinem Sohne.“

– so haben wir zu Beginn gesungen. Und das ist das, was Jesus Glauben nennt. Das Vertrauen darauf, dass Gottes Heil keine Grenzen kennt, das bezeichnet Jesus als Glaube. Dieser schlagfertigen, hartnäckigen, sich um ihre kranke Tochter sorgenden Frau antwortet er: „Dein Glaube ist groß!“

„Es ist genug für alle da“ – Brot und Heil. Satt werden an Leib und Seele. Geheilt werden von den Dämonen, die uns umgeben. Die uns einflüstern, wir würden zu kurz kommen. Wir hätten Anlass zum Neid. Zur Konkurrenz. Zur Zwietracht. Zur Abschottung und zum Wegsehen. Unser Kirchenpräsident hat vor kurzem gesagt:

„Die Tatsache, dass so viele Flüchtlinge zu uns kommen, ist ein Zeichen, dass wir eine starke und attraktive Gesellschaft sind. Ein schlechter Ratgeber ist Angst. Man muss keine Angst davor haben, dass eine Gesellschaft sich weiter entwickelt. Vom christlichen Glauben aus ist uns so viel gegeben, was uns zuversichtlich sein lässt. Allein die Worte 'vertraut auf Gottes Geist' regen an, kraftvoll, liebevoll und besonnen zu handeln. Besonnen zu sein heißt, dass man die Dinge, die man macht, klug miteinander tut." (Kirchenpräsident Volker Jung)“

Wir können von der Klugheit der kanaanäischen Frau lernen, die sich schlagfertig und entwaffnend für ihre kranke Tochter einsetzt. Wir können von der Klugheit des Evangelisten Matthäus lernen, der unseren Predigttext ganz bewusst an diese Stelle in seinem Evangelium gesetzt hat. Ob 5.000, ob 4.000 oder nur ein einziges Mädchen:

„Es ist genug für alle da!“

Amen

Und der Friede Gottes, der alles übersteigt, was unsere Vernunft sich vorstellen kann, der möge unsere Herzen bewahren in allen Begegnungen, die uns zum Leben führen. Amen

Gehalten am 27. September 2015 – DA-Eberstadt-Süd


Pfr. Mechthild Gunkel