Wir brauchen Trost

Predigt zu Jesaja 43,1 und Heidelberger Katechismus Frage 1


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Liebe Gemeinde,

wir Menschen brauchen Trost. „Der Säugling, schreiend in seiner Wiege – der Greis, im Sterben eine liebende Hand umklammernd: der zur Welt kommt und der aus dem Leben geht, beide brauchen Trost. Anfang und Ende lassen ahnen, dass das Trostbrauchen zum Menschsein überhaupt gehört.“ [1]

Es kann bei der Europameisterschaft nur eine Mannschaft gewinnen. Die anderen Mannschaften brauchen Trost. Ihr Traum vom Titel ist zerplatzt. „The Winner takes it all“ – der Sieger nimmt den Ruhm, das Glück, die Ehre, den Sieg. „The looser standing small“ – da Ruhm, Glück, Ehre und Sieg bereits vergeben sind, braucht der Verlierer eines: Er braucht Trost.

Das Buch des „zweiten Jesaja“, aus dem unser Predigttext stammt, beginnt mit den Worten: „Tröstet, tröstet mein Volk! Spricht eurer Gott“ (Jes 40,1). Was war passiert? Warum braucht Israel Trost?

Der Hintergrund ist Folgender: „Jerusalem wurde von babylonischen Truppen 586 v.Chr. erobert. Die Stadt wurde niedergebrannt, die Stadtmauern eingerissen, der Tempel ging in Flammen auf. Ein großer Teil der Bevölkerung wanderte in die Verbannung nach Babylon. Es gab keinen König mehr, keinen Tempel, keine heilige Stadt.“ [2] Israel schien verloren – "An den Strömen von Babel setzten wir uns nieder; ja, wir weinten, wenn wir an Zion dachten“ – so heißt es ergreifend in Psalm 137, einem Klagelied aus dieser Zeit. Viele von Ihnen werden diesen Psalm kennen, vielleicht in englischer Sprache als Song der Gruppe Boney M.: „By the rivers of Babylon, there we sat down; Yea, we wept, when we remembered Zion.“ Hier kommt die Sehnsucht nach Jerusalem, die Sehnsucht nach dem verlorenen Zuhause zum Ausdruck. Die Ströme von Babylon – das ist der Euphrat mit seinen Nebenflüssen. Hier sitzen die verzweifelten Israeliten und weinen, wenn sie an Zuhause denken.

Nicht wahr, liebe Gemeinde. Das kennen wir: Die Sehnsucht nach dem Zuhause, den Wunsch, nicht mehr in der Fremde sein zu müssen, sondern endlich, endlich wieder dort, wo wir hingehören, wo unsere Heimat ist, dort, wo es uns gut geht, wo wir gewollt sind. Heimweh ist etwas schrecklich. Es kann einem das Herz verreißen. Und bei Lichte betrachtet, stellen wir fest: Babylon – das sind doch nur allzu oft unsere eigenen Lebensumstände. Das ungewollte Leben in der Fremde, wo wir eigentlich gar nicht sein möchten, sondern wo wir hinein gezwungen wurden. Wir möchten am liebsten weglaufen, fliehen – zurück, endlich wieder nach Hause. Doch es geht nicht. Man lässt uns nicht. Wir werden festgehalten – gegen unseren eigenen Willen.

Im Psalm 137 heißt es weiter: „Als die Gottlosen uns als Gefangene verschleppten, verlangten sie von uns Lieder. Aber wie sollten wir die Lieder des Herrn singen in einem fremden Land?“ – „Then the wicked, carried us away in captivity, requiring from us a song. Now, how shall we sing the lord's song in a strange land?” Abgepresste Lieder, erzwungene Stimmung, Fröhlichkeit durch Nötigung – das ist jene Vergewaltigung der Seele, die das zutiefst trostbedürftige Israel in seiner Not zu Gott schreien lässt. Und Gott? Was tut Gott? Hat er die Ohren verstopft, auf Durchzug gestellt?

Nein, Gott lässt mitten unter den Verbannten in Babylon einen Mann aufstehen, einen zweiten Propheten wie den ersten Jesaja, mehr als 100 Jahre zuvor. Und dieser zweite Jesaja nimmt das ganze Volk in den Arm und ruft ihm im Namen Gottes zu: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Das, liebe Gemeinde, das ist die Wende. [3]

Hier ist jedes Wort wichtig. Und es spielt keine Rolle, ob der Zuspruch damals an die Gefangenen Israels erging oder heute an uns, die Kirche, in Gestalt der hier in Hagenburg versammelten Gemeinde. Vor unseren Augen und Ohren ereignet sich im Lautwerden dieses Rufes „Fürchte dich nicht!“ etwas Ungeheures. Die Alten, auch in den Israel umgebenden Religionen, wussten es. Wenn dieser Zuruf ergeht, dann weiß der in der Falle der Angst Sitzenden, der in langer Spannung Wartende und der in seinem Geängstetsein zu Gott Flehende, dass er erhört ist. Hört er dieses „Fürchte dich nicht!“, kommt er nicht mehr auf den Gedanken, es sei bloß eine Mahnung zur Furchtlosigkeit. Da wird schon durch die angewandte Form des Heilszuspruchs klar, wer hier das Wort ergreift. Es ist die andere Stimme, die sich meldet, noch bevor die bedrückten Menschen ihr Leid geklagt haben. Gott selbst stellt die Wende in Aussicht. Ja, was die Flehenden vernehmen, ist schon die Wende, das Hervortreten ihres Gottes, das Wegnehmen der Furcht.

Nun darf sich auch der unzweifelhaft persönliche Klang dieses Heilszuspruchs entfalten. Er wird ja als Wort dessen, der uns geschaffen hat und der als Schöpfer der Welt Herr alles Geschehenden ist, zugerufen. Dieser Schöpfer und Herr hat in Jesus Christus seine Arme weit ausgebreitet und sich sein Volk geschaffen. Und wir gehören dazu. Wir gehören dazu, seit er uns bei unserer Taufe mit seiner Wertschätzung zuvorkam und uns in die Arme nahm:

Ich habe dich erlöst – ich habe dich herausgeholt aus allen Umklammerungen, die Du Dir selbst oder die Dir andere gegeben haben. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen – ich habe dich, ein Staubkorn im Getriebe der Weltgeschichte und im Geschiebe der Massen, ich habe dich aus der Anonymität zur Person, aus der Vereinzelung in die Gemeinde und aus der Bedeutungslosigkeit zum Wert gerufen. Du bist mein – du bist nicht einmal errettet und dann wieder ausgesetzt und allein. Nein, du bist in allen Höhen und Tiefen, durch die du gehst, wohin du dich auch entfernst, in jeder Sekunde in meiner Nähe und ich bin bei dir. Ja, mehr noch: Du gehörst nicht mehr dir selbst, in deinen Ängsten und Sorgen, in deiner Trostlosigkeit und Trostbedürftigkeit. Nein, du gehörst mir! Ich habe dich von dir selbst erlöst: Du bist mein!

Wo immer Menschen diese Zusage ganz persönlich als zu ihnen gesprochen aufnahmen, bejahten sie auch, dass es wichtiger ist, in den elementaren Bedrohungen des Leben einen zu haben, der zu ihnen sagt „Fürchte dich nicht!“, als dass die vor ihnen liegende Wegstrecke glatt und gesichert verläuft.

Wir Menschen brauchen Trost – so haben wir am Anfang gesagt. Und es dürfet nun deutlich geworden sein, worin der „einzige Trost im Leben und im Sterben“ besteht, nämlich in dem „Du bist mein!“ Gottes. In der Frage 1 des Heidelberger Katechismus heißt es geradezu unüberbietbar:

„Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?

Dass ich mit Leib und Seele
im Leben und im Sterben nicht mir,
sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehre.

Er hat mit seinem teuren Blut
für alle meine Sünden vollkommen bezahlt
und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst;
und er bewahrt mich so
dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel
kein Haar von meinem Haupt kann fallen
ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.

Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist
des ewigen Lebens gewiss
und von Herzen willig und bereit,
ihm forthin zu leben.“

Gestatten Sie mir noch einen Nachtrag [4]: Es könnte ja sein, dass jemand unter uns heute Morgen sagen: Es mag ja sein, dass die Israeliten damals durch die Botschaft des zweiten Jesaja Trost erhielten. Bei mir aber ist das anders. Mich tröstet das aber nicht, zugesagt zu bekommen, dass ich Gott gehöre. Ich warte noch auf seinen Trost. Doch ich spüre ihn einfach nicht, obwohl ich ihn eigentlich brauche.

Wer jetzt bei sich so denkt, dem sei ein wichtiger Hinweis gegeben. Der Hinweis steckt in unserem Bibeltext selbst. Denn im direkten Anschluss an unseren Predigttext heißt es beim zweiten Jesaja: „Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, aber die Flamme soll dich nicht versengen.“ Der zweite Jesaja ist nüchtern und lebensnah. Er verspricht nichts Aussichtsloses. Er sagt klipp und klar: Ihr werdet durch das Wasser und durch das Feuer gehen müssen. Euch bleibt das nicht erspart. Und so werden auch uns Situationen begegnen, in denen wir nichts, rein gar nichts von Gottes Trost spüren.

Es mag also in der Tat so sein, dass der Trost bei uns noch nicht am Ziel ist. Und dennoch gilt: Du musst zwar durchs Wasser gehen, aber die Ströme werden dich nicht ersäufen. Du musst zwar durchs Feuer gehen, aber du wirst nicht verbrennen. Gottes Fürsorge ist nicht abhängig von unserem Glauben, nicht von unserer Erfahrung, nicht von unserem Spüren und Erleben, nicht von unserem Trostempfinden. Nein! Also: Auch wenn wir die Wirkung dieser Worte des zweiten Jesaja nicht zu spüren vermögen, so bleibt doch gewiss, was wir so oft am Grabe gesungen haben – in dem Lied „So nimm denn meine Hände“ in jener Strophe, die ich selbst für mich überaus tröstlich finde: „Wenn ich auch gleich nichts spüre von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht.“ [5]

Amen

 

[1] Rudolf Bohren, Trost. Predigten, Neukirchen-Vluyn 21983, 11.

[2] Gisela Kittel, Der Name über allen Namen I. Biblische Theologie / AT, Biblisch-theologische Schwerpunkte Bd. 2, Göttingen 1989, 154.

[3] Die nächsten drei Abschnitte verdanke ich – mit leichten Änderungen – Manfred Seitz, Ich hoffe auf dein Wort. Predigten und Ansprachen, hg. von Rudolf Landau, Stuttgart 1993, 44f.

[4] Vgl. dazu Peter Bukowski, Predigt wahrnehmen. Homiletische Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 31995, 138f. 

[5] Vgl. Peter Bukowski, Die Bibel ins Gespräch bringen. Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 21995, 82; Marco Hofheinz, „Willst du gesund werden?“ (Joh 5,6). Gesundheit und Krankheit aus theologischer Sicht, Wege zum Menschen 68 (2016), 309-324, 324.

Gehalten am 10.7.2016 in der Ev. Kirchengemeinde Hagenburg


Dr. Marco Hofheinz, Professor für Systematische Theologie an der Leibniz Universität Hannover