Deutschland ganz normal ...

Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 62. Kapitel


von Tobias Kriener

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Inhalt Tagebuch

Zunächst ein paar kleine Einsprengsel aus den vergangenen Wochen:

Die Dialogue-Koordinatorin Katja hat mich zu einer Veranstaltung von "Women Wage Peace" mitgenommen in Akko. Es wurde natürlich viel geredet - und es wurde konsequent alles aus dem Hebräischen in's Arabische und umgekehrt übersetzt - also: es wurde sozusagen doppelt geredet, was auch in gewisser Weise doppelt ermüdend war. Nachher war gar keine Zeit mehr, das Buffet zu plündern und dabei vielleicht in's Gespräch zu kommen, weil dann der Raum schon wieder geräumt werden musste. Mein Eindruck: Wichtig war, dass frau zusammenkam, und dass das gut und ausgiebig mit dem Handy dokumentiert wurde, damit frau dann später auf facebook auch nachgucken kann, dass frau tatsächlich zusammen gekommen war ... Das klingt jetzt reichlich arrogant - Entschuldigung - und ich bin mir schon sehr bewusst, dass diese Tatsache an sich keineswegs unerheblich ist - erst recht, wenn man bedenkt, dass man(n) eben nicht in dieser Weise zusammen kommt ... Aber es ist doch auch bezeichnend für diese Initiative, die nach eigener Aussage nicht locker lassen will, bis es ein Abkommen gibt - aber um der Breite des Bündnisses willen keinerlei Aussagen dazu macht, wie dieses Abkommen aussehen könnte.

Dann 2 Mitteilungen, die Flora und Fauna um uns herum betreffend:

Ich weiß jetzt endlich, was das für Vögel waren, die im letzten Jahr im September und Oktober massenweise über Nes Ammim herumgesegelt sind: dunkelbraune Greifvögel von der Größe eines Bussards, die sich vor allem für die nahegelegene Müllkippe interessierten. Andreas - einer unserer "Seniors" - hat mich auf die Spur gebracht: Es sind Schwarze Milane, die hier auf dem Weg von Ost- und Südosteuropa in ihr Winterquartier in Afrika Station machen. Dieses Jahr sind es längst nicht so viele - und sie kamen auch viel später. (Vielleicht kommen die Massen ja noch ...) Die Farbe des Gefieders ist wirklich nicht schön - so ein Schmutzig-Braun-Schwarz  -, aber sie sind fantastische Segler und Luftakrobaten, und insofern doch eine Augenweide.

Und: Der eine Kaktus an unserer Veranda hinterm Haus hat riesige gelb-weiße Blüten getrieben, die nur einen Tag geblüht haben. An dem waren aber alle Bienen der Umgebung damit beschäftigt, sie "abzuernten", so dass unsere Terasse wie ein Bienenkorb klang ...

Dann war Rosh HaShanah. Or Zohar hat wieder sehr schön eingeführt mit seiner Gitarre, und wir waren in der Reformsynagoge in Naharijah und am Strand zum Taschlich, wo wir wieder wie die besten Freunde willkommen geheißen wurden.

Letztes Wochenende dann waren Katja und ich mal wieder in Jerusalem. Diesmal haben wir Tantur ausprobiert - das Ökumenische Institut an der alten Straße nach Bethlehem - ein wunderschönes Gelände, schattig unter Pinien, Zypressen und Olivenbäumen gelegen, wo dieser typische mediterrane Duft herrscht, den ich noch aus Kindheitstagen vom Libanon her in Erinnerung habe. Wir haben uns wunderbar erholt.

Im Osten liegt Har Homa - im Westen Gilo - zwei Wohngebiete, die für Israel Stadtteile von Jerusalem sind (im besetzen Ost-Jerusalem) - für Palästinenser Siedlungen. Wenn es Tantur nicht gäbe, dann würde auf diesem Hügel zweifellos auch ein jüdischer Stadtteil/Siedlung liegen. So ist Tantur sozusagen das letzte Stückchen nicht-jüdisches Land im Süden Jerusalems, das die Verbindung in die Westbank nach Bethlehem offen hält.

Unterhalb Tanturs liegt der große Checkpoint, durch den der Verkehr zwischen Jerusalem und Bethlehem abgewickelt wird. Die Blickachse von Tantur auf dieses Monument der Herrschaftsausübung zieht sich dann weiter im Hintergrund zum Herodion - dem Monument der Herrschaftsausübung dieses antiken Tyrannen. Sehr passend, irgendwie ...

Samstag haben wir erst mit Freunden gebruncht, die uns gebildet und kultiviert über alle möglichen Feinheiten der hebräischen Sprache und Theologie und der israelischen Politik ins Bild gesetzt haben (Amitai Bar-Kol, ehemaliger Chef des Ulpans an der Hebräischen Universität, der vielen Jahrgängen von Studium in Israel Ivrit nahegebracht hat - und seine Frau Nurit; Jehojada Amir vom Hebrew Union College, und seine Frau Guli - es ist ein unglaubliches Privileg, solche Feund_innen zu haben).

Und nachmittags sind wir dann durch den Checkpoint und haben uns mit Jon und Anisa getroffen, den Freunden und Kollegen von "Brot für die Welt" in Beit Sahur. Mit ihnen haben wir ein neues Restaurant ausprobiert und danach noch etwas im Banksy-Hotel direkt an der Mauer getrunken. Das hat schon was schwer Morbides, mit seiner großenteils europäisch-nordamerikanischen Kundschaft, und diesem Geschäftsmodell, das die Besatzung und ihr Hauptsymbol - die Mauer - zum Franchise-Objekt macht ...

Und dann kam der Sonntag: Leider mussten wir Tantur wieder verlassen, hatten dann einen wiederum wunderschönen Gottesdienst - mit Musik für Orgel und Alt-Saxophon (eine Bearbeitung einer Vivaldi-Sonate) - in der Erlöserkirche. Danach haben wir bei Michael Krupp (der sich gerade von einem Motorradunfall erholt - wer fährt auch mit bald 80 Jahren Motorrad in Montenegro ...) in Ein Karem zu Mittag gegessen, und sind anschließend zum Abschluss des Wochenendes nach Herzlijah zur Wahlparty in der Residenz des deutschen Botschafters gefahren.

Mit Party war natürlich nicht viel angesichts des Wahlergebnisses (auch wenn der Botschafter mit einem leckeren Buffet und reichlich freiem Alkohol redliche Mühe gegeben hatte, für gute Stimmung zu sorgen; leider konnten wir dem Alkohol gar nicht zusprechen, weil wir ja noch nach Nes Ammim weiter fahren mussten ...).

Nach den Hochrechnungen der letzten Tage war das Ergebnis zwar keine Sensation, aber eben doch niederschmetternd: Erstmals seit dem Krieg sitzt wieder eine rechtsradikale Partei im deutschen Parlament - als drittstärkste politische Kraft, auch das hatte sich ja schon abgezeichnet.

Ich habe mich gefragt, warum mir das so auf's Gemüt geschlagen ist - und dabei ist mir aufgegangen, dass ich seit dem Sommer 2015 einen seltsamen "Nationalstolz" entwickelt habe, dem jetzt der Teppich unter den Füßen weggezogen wurde. Nicht zuletzt auch angeregt durch das Lob und die Hoffnung von Juden und Israelis aus dem Bekanntenkreis, aber auch aufgrund einer ganzen Reihe von Zeitungskommentaren hatte ich ein Bild entwickelt von meinem Land, das in vorbildlicher Weise seine Vergangenheit aufgearbeitet hat, dass gegenüber Flüchtlingen ein menschliches Angesicht gezeigt hat und nach dem Amtsantritt Trumps geradezu zur Führungskraft der liberalen Demokratien oder gar der freien Welt schlechthin hochgejazzt wurde.

Nun hat sich gezeigt: Deutschland ist - mit seiner ganzen tollen Vergangenheitsbewältigung - auch nicht anders und schon gar nicht besser als Frankreich oder Holland oder Österreich oder Ungarn oder Polen: Die deutschen Globalisierungsverlierer pflegen genauso fremdenfeindliche Ressentiments, sind ebenso dumpf nationalistisch und rassistisch und überhaupt nicht offen für fremde Kulturen, sondern lehnen alles Fremde ab, sind genau so geschichtsvergessen undundund.

Also: Die Illusion, die sich bei mir tief drinnen eingenistet hatte, von Deutschland als einem Modell, die ist an diesem Wahlsonntag zerstoben. Deutschland ist wieder ein Stückchen normaler geworden. Insofern hatte dieser Wahlsonntag sogar etwas Heilsames. Denn dass Deutschland schon zur Hüterin oder gar Führungsmacht der freien Welt ausgerufen wurde - das hatte auch etwas Unheimliches ...


Tobias Kriener