Agur, eine biblische ''Randfigur'', in seiner Frömmigkeit der bürgerlichen Mittelschicht

Eine Predigt zu Sprüche 30,7-9. Von Tobias Kriener

"Agur mit seiner Erschöpfung, mit seiner Einsicht in die Grenzen seiner Begabung und seiner Errungenschaften: In seine Bitte kann ich gut einstimmen: „Zwei Dinge erbitte ich von dir, verwehre sie mir nicht, bevor ich sterbe.“ Agurs bescheidene Frömmigkeit, in der er nur darum bittet, dass Falschheit und Lüge von ihm ferngehalten werden, und dass ihm weder Reichtum noch Armut gegeben, sondern ihm vergönnt ist, das zu erhalten, was er zum Leben braucht – in diese Frömmigkeit kann ich gut einstimmen."

Predigt, gehalten im Predigtgottesdienst nach reformierter Tradition, Sonntag, den 12.2. 2012, Antoniterkirche Köln-City

7 Zwei Dinge erbitte ich von dir,
erwehre sie mir nicht, bevor ich sterbe:
8 Halte Falschheit und Lüge fern von mir
gib mir weder Armut noch Reichtum,
gib mir zu essen, soviel ich brauche,
9 damit ich nicht satt werde und dich verleugne
und sage: Wer ist der HERR?,
und damit ich nicht verarme und stehl
und den Namen meines Gottes nicht missbrauche.

Proverbien 30, 7-9 (Zürcher Bibel)

Liebe Gemeinde!

Evangelische Kirche ist etwas für die bürgerliche Mittelschicht. So hat es die Sinus-Milieu-Studie im Jahr 2005 herausgefunden. Und damit hat sie etwas bestätigt, was bereits der altisraelitischen Weisheit vor 2000 und ein paar hundert Jahren bekannt war: Wer zu satt ist – wer im Überfluss lebt, der steht in der Gefahr, Gott zu verleugnen oder mindestens zu vergessen.  Und wer zu arm ist, der kann es sich nicht leisten, sich an die Gebote – an die christlichen Werte oder wie immer man es nennen will - zu halten, der ist - um überhaupt sein Überleben zu sichern – genötigt zu stehlen und sich damit am Namen seines Gottes zu vergreifen.

Davor möchte Agur bewahrt werden. Er möchte – weiterhin - zur Mittelschicht gehören, um „fromm“ sein zu können – was immer damit gemeint sein mag.
Dieses vorletzte Kapitel des Buches der Sprüche wird einem gewissen Agur, Sohn des Jake, aus Massa als Autor zugeschrieben. Über diesen Agur ist nichts bekannt – nirgends sonst wird er erwähnt. Vielleicht ist das Wichtigste, was über ihn gesagt werden kann, dass er eben nicht Salomo ist, dem all die Klugheit der 29 Kapitel zuvor zugeschrieben wird. Dieses 30. Kapitel hat einen besonderen Ton – das haben die Menschen gespürt, die das Buch der Sprüche zusammengestellt haben; und sie fanden diesen Ton für einen König vermutlich unpassend. 

Das beginnt gleich mit dem ersten Satz seiner Ausführungen: „Ich bin erschöpft, o Gott, ich bin erschöpft, o Gott, und ich bin am Ende.“ Wenn man dazu nimmt, dass er in Vers 7 um 2 Dinge bittet „bevor ich sterbe“ - dann stelle ich mir einen Menschen vor, der den Zenit seines Lebens jedenfalls überschritten hat, der ausgelaugt ist vom Leben – auch das typisch für die bürgerliche Mittelklasse, die enorme Anstrengungen auf sich nimmt, um einen gewissen Lebensstandard zu erreichen und zu erhalten.

Ein Mensch, der sich zudem selbst als durchschnittlich einschätzt – nicht besonders begabt oder besonders klug: „Ich bin zu töricht, um ein Mann zu sein, und habe keinen Menschenverstand. Und ich habe keine Weisheit erworben und keine Erkenntnis des Heiligen gewonnen.“ (V. 2+3) Das ist vielleicht ein bisschen dick aufgetragen. Jedenfalls weiß er, dass er kein Genie ist, kein Überflieger, der von Erfolg zu Erfolg geeilt wäre in seinem Leben. Und er gesteht sich auch ein, dass er – bei allem Interesse für Kultur und Religion, das man bei ihm vermuten darf – nicht für sich in Anspruch nehmen kann, eine Geistesgröße zu sein oder ein charismatischer Mensch, der eine Aura des Besonderen um sich verbreiten würde.

Als Studenten, in meinen 20igern, da hätte ich – unbarmherzig, wie ich damals war - gesagt: Der Mensch, der sich hier äußert, ist das Paradebeispiel des bürgerlichen Spießers.

Heute hingegen stelle ich fest: Dieser Agur kommt mir doch sehr vertraut vor – je länger ich mich in dieses 30. Kapitel des Buchs der Sprüche vertiefe. Ich kenne z.B. seine Erschöpfung – sicherlich fühle ich mich (noch) nicht so am Ende wie er. Aber Momente der Erschöpfung sind mir gut vertraut.

Ich habe auch die Beschränkung meiner Kenntnisse und Fähigkeiten deutlich vor Augen. Aus manchen Jugendphantasien, in denen eine akademische Laufbahn und anderes vorkam, ist nichts geworden. Das kann und will ich auch gar nicht auf andere oder auf die Umstände schieben: Es lag an mir und meinen Beschränktheiten – und an niemandem sonst.

Und dass die Wünsche, die ich noch für's Leben habe, bescheidener werden – auch das kenne ich: „Nur zwei Dinge erbitte ich von dir – verwehre sie mir nicht bevor ich sterbe.“

Die Wünsche, die Agur hat, finde ich auch ausgesprochen sympathisch: „Halte Falschheit und Lüge von mir fern.“ Aufrichtigkeit im Umgang mit einander – Authentizität, wie man das nennt – das schätze ich sehr. Formalisierte Beziehungen, wo vieles Fassade ist, kann ich dagegen gar nicht haben.

Ja, und natürlich wünsche ich mir auch: „gib mir weder Armut noch Reichtum, gib mir zu essen, gerade soviel wie ich brauche.“ Einen bescheidenen Wohlstand, wo ich alles habe, was ich brauche, und noch ein bisschen mehr, so dass ich mir um den morgigen Tag keine Sorgen zu machen brauche – auch das schätze ich sehr. So ein nicht übertriebener Wohlstand macht unabhängig – macht frei – macht auch dankbar, so dass ich gar nicht erst auf den Gedanken zu kommen brauche, Gott zu verleugnen. Für mich hat er's ja alles in allem sehr gut gefügt. Da lässt es sich gerne dankbar sein. Da lässt es sich gut „fromm“ sein – so, wie ich Frömmigkeit verstehe und mag: Nicht als überhitzter Fanatismus, der die eigene innige Beziehung zu Gott ständig aufdringlich in den Vordergrund schiebt - sondern eben als ruhiges, stetiges Leben in Verantwortung vor Gottes Gebot und in Dankbarkeit gegenüber seiner gütigen Führung für mein Leben, ohne davon viel Aufhebens zu machen.

In der Lesung der Seligpreisungen wurde schon deutlich: Diese beschauliche Frömmigkeit des Mittelstandsbürgers ist nicht das, was mir erstes als profilierte Botschaft der Bibel einfallen würde. Mir kommt da eher die Botschaft von Gottes Parteilichkeit für die Armen in den Sinn, wie sie in der lukanischen Fassung der Seligpreisungen sehr prononciert  zum Ausdruck kommt – und wie Jesus sie gelebt hat in der Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern.

Diese Botschaft kennzeichnet aber keineswegs nur das Neue Testament. Im Gegenteil: Die soziale Kritik der Propheten – ihre flammenden Anklagen gegen Ausbeutung und Unterdrückung der Armen – ist vielfach ja noch drastischer, noch zorniger. Und sie verbindet vor allem viel expliziter Anklage im Namen des Gebotes Gottes mit ausdrücklicher Konfrontation mit den politisch Mächtigen. Ja, die prophetische Kritik des Alten Testaments bindet Weltpolitik und Verantwortung vor Gott eng zusammen. Das ist dramatisch – das hat Sprachgewalt – das ist ein ganz anderer Ton als aus den Worten Agurs spricht.

Oder ein anderes großes Thema der Bibel alten und neuen Testaments – das jedenfalls für uns Evangelische ganz zentral ist: Das Drama von Schuld der Menschen und rettender Gnade Gottes – angefangen beim Sündenfall im Paradies über den ersten Brudermord, die Gottesstrafe der Sintflut, die Hybris der Turmbauer zu Babel – die Verfehlungen selbst des idealen Königs David – bis zur Verzweiflung Hiobs, der angesichts der Schicksalsschläge trotz eigener Redlichkeit den Spieß umdreht und seinerseits Gott anklagt; und dann im neuen Testament das Drama des unschuldigen Leidens des Messias und dem korrespondierend das Drama der Wendung des Saulus zum Völkerapostel, der dieses unschuldige Leiden als „uns zugut“ verkündet – aus dem unser Kirchenvater Luther seine Rechtfertigungslehre schöpfte. Nichts von dieser Dramatik in der Beziehung Gottes zu den Menschen und der Menschen untereinander und zu Gott findet sich bei Agur.

Juden würden vermutlich zunächst an die Tora denken – an die gute Weisung Gottes und an die Freude an seinem Gebot, wie sie Psalm 119 besingt. Nichts davon bei Agur. Und ebenso wenig von der mitreißenden Wirkung des Geistes Gottes in so vielen Erzählungen des Alten wie des Neuen Testaments, die vermutlich charismatischen Gemeinden zuerst einfallen würden. Von alle dem ist hier keine Rede, von dem aber ja doch die Rede sein muss, wenn wir in Verkündigung und Unterweisung vom biblischen Gott, vom Gott Israels erzählen.

Insofern ist völlig klar: Die Worte Agurs, das 30. Kapitel des Buchs der Sprüche, sind nicht Alles – sind auch nicht das Zentrale und Wichtigste – sind mit Sicherheit nicht das Bewegendste und Mitreißendste, was über Gott und seine Beziehung zu seinen Menschen gesagt werden kann. Da sind die Tora, das sind Jesaja und Amos und Jeremia, da sind die Psalmen, da sind Jesus und Paulus unverzichtbar. Wenn Gott nicht durch sein Gebot unser Leben regieren würde, wenn er nicht durch das kraftvolle Wort seiner Propheten die Mächtigen an ihre Verantwortung erinnern würde, wenn er nicht durch die tröstenden Worten der Psalmen unsere Seelen stärken würde, wenn er nicht durch begeisternde, bewegende Menschen in dieser Welt präsent wäre – dann würde auch unserer Kirche Entscheidendes fehlen; ja, würde es sich dann überhaupt lohnen, sich diese ganze Arbeit der Verkündigung, der Unterweisung, der Seelsorge, der Kirchenmusik, der Bildungsarbeit und was die Kirche nicht sonst noch alles tut, zu machen? Die Antwort versteht sich von selbst: Nein, ohne all das, was in den Worten Agurs nicht erwähnt wird, wäre es unserer Mühe nicht wert.

Und doch habe ich mich gefreut, durch die Aufgabenstellung der Predigtreihe zur Weisheit  in diesem Agur jemanden kennen gelernt zu haben, den ich bisher einfach nicht wahrgenommen habe in der Bibel, der sich nun in manchem als mein Geistesverwandter entpuppt hat. Durch solche Randfiguren, die in ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten durchaus begrenzt, in ihrer Bedeutung und in ihre Gewicht gar nicht zu vergleichen sind mit den Schwergewichten der biblischen Verkündigung, tut sich auch für mich ein Ort auf im Panoptikum der biblischen Figuren – und das heißt für mich: in der Gemeinschaft der Menschen, die von Gott berührt sind, die in irgendeiner Weise einbezogen sind in die Verkündigung seiner Taten und das Lob seiner Güte; ein Ort, den ich neben Figuren von menschheitsgeschichtlichem Format wie Abraham, Mose, Jesaja, Jesus, Paulus nie einnehmen könnte.

Agur mit seiner Erschöpfung, mit seiner Einsicht in die Grenzen seiner Begabung und seiner Errungenschaften: In seine Bitte kann ich gut einstimmen: „Zwei Dinge erbitte ich von dir, verwehre sie mir nicht, bevor ich sterbe.“ Agurs bescheidene Frömmigkeit, in der er nur darum bittet, dass Falschheit und Lüge von ihm ferngehalten werden, und dass ihm weder Reichtum noch Armut gegeben, sondern ihm vergönnt ist, das zu erhalten, was er zum Leben braucht – in diese Frömmigkeit kann ich gut einstimmen.

Die Frömmigkeit Agurs, die Frömmigkeit der bürgerlichen Mittelschicht ruht ja in der ruhigen Zuversicht, die z. B. Albrecht von Preußen formuliert hat in der 2. Strophe des Liedes 364: „Gott ist mein Trost, mein Zuversicht, mein Hoffnung und mein Leben; ... Er hüt' und wacht, stets für uns tracht', auf dass uns gar nichts fehlet.“ Solche Zuversicht, die sich in Gott fest macht, ist ein Schatz. Wohl denen, die in solcher Zuversicht auf's Leben zurück schauen können – und in solcher Zuversicht den Lebensweg weiter und schließlich zu Ende gehen können.


Pfr. Dr. Tobias Kriener, 12. Februar 2012