Es gibt hier nichts zu gewinnen

Aus der Predigtreihe *Ungepredigte Psalmen* - zu Ps 54 (21. Sonntag nach Trinitatis)


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Von Stephan Schaar

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! AMEN. Liebe Gemeinde, wie vor zwei Wochen lege ich Ihnen auch heute einen ungepredigten Psalm vor.

Weshalb man diesen Psalm nicht auszulegen pflegt, wird sich vermutlich schon beim ersten Hören erschließen; und meine Aufgabe wird dann darin bestehen, den zunächst fremd bis abstoßend klingenden Worten möglicherweise doch etwas für uns Bedeutsames und Hilfreiches zu entlocken.

Psalmen sind natürlich grundsätzlich eher dazu geeignet, dass man in sie einstimmt - als Gebet, als Lied - denn dass man sie analysiert.
Lassen Sie uns dennoch einen gründlichen Blick auf Psalm 54 werfen! Ich lese die jüdische Übersetzung von Leopold Zunz:

1 Dem Sangmeister auf dem Saitenspiel. Ein Gedicht von David.
2 Da die Sifim kamen und zu Schaúl sprachen: Siehe, David hält sich bei uns verborgen.
3 Gott, mit deinem Namen hilf mir, und mit deiner Stärke schaffe mir Recht.
4 Gott, erhöre mein Gebet, horch auf meines Mundes Worte.
5 Denn Fremde stehen gegen mich auf, und Übermütige trachten mir nach dem Leben. Sie stellen sich Gott nicht vor Augen.
6 Siehe, Gott ist mein Beistand, der Herr unter den Stützen meines Lebens.
7 Er wird das Böse wieder erstatten meinen Lästerern; durch deine Treue vernichte sie.
8 Mit willigem Gemüte will ich dir opfern, danken deinem Namen, Ewiger, dass er gütig ist;
9 dass aus aller Not er mich gerettet, und an meinen Feinden weide sich mein Auge.

Liebe Geschwister,

bevor wir den Kopf schütteln und die Nase rümpfen über einen (wie es scheint: gar nicht so) Frommen, der seine Augen weiden will am Anblick seiner Feinde, die am Boden liegen, sollten wir für einen kurzen Augenblick in uns gehen und die Frage beantworten: Was würde in uns vorgehen, wenn “der Feind” geschlagen am Boden läge?

“Der Feind” - ich bin von Jugend an dazu angehalten worden, dieses Wort zu meiden, gar nicht erst den Gedanken an Feindschaft zuzulassen; galt es doch, aus den Erfahrungen zu lernen, die wir in Deutschland mit zwei Kriegen gemacht haben, die unser Land zu verantworten hat, die Millionen von Toten zur Folge hatten und die verloren wurden, so dass es zu Flucht und Vertreibung kam, dem Verlust von Heimat und Fremdheit im eigenen Land.

DEN FEIND - ob nun “der Franzose” oder “der Russe” - sollte es fortan nicht mehr geben. Den Frieden lernen, den Frieden lieben sollten wir und wollten wir. Aber dann waren wir, d.h. die Bundeswehr, plötzlich doch wieder Akteur auf internationalen Schlachtfeldern - Stichwort: “Kosovokrieg”.

In den letzten beiden Jahren sind Menschen aus der Ukraine vor einem Angriffskrieg Russlands zu uns geflohen, und wir unterstützen, hart am Rand eigener Beteiligung an diesem Krieg, das überfallene, demokratisch regierte Land gegen den Aggressor, verteidigen mit Waffenlieferungen seine Freiheit und unsere gemeinsamen Werte gegen Willkür und Gewalt.

Seit dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober herrscht ein unbarmherziger Krieg zwischen Israel und Palästina mit Raketenbeschuss und Bombardements, Geiselnahme und Einkesselung; beide Seiten verletzen eklatant die Menschenrechte...

Damit wir uns recht verstehen: Ich will keine weiteren Opfer mehr sehen, weder ukrainische noch russische, keine israelischen und keine arabischen. Und doch schließe ich mich dem Psalmbeter in diesem Punkt an: An meinen Feinden weide sich mein Auge, wenn dieser Feind aufgrund erlittener Verluste endlich ein Einsehen hat, dass hier nichts zu gewinnen ist, und beschließt, sich auf sein eigenes Territorium zurückzuziehen.

Mit diesem - zugegeben harten - Wort endet unser Psalm, der dem zweiten Buch innerhalb des Psalters angehört. Als Verfasser wird - wie so häufig - David angegeben. Doch das ist eher eine Sympathiebekundung, wenn man es freundlich ausdrücken möchte, als ein Hinweis auf die wahre Autorenschaft; man könnte auch sagen, dass jemand sich auf diesen großen Namen bezieht, um seinem Anliegen mehr Gewicht zu verleihen.

Um das zu erreichen, stellt der Psalmbeter einen Bezug her zu einer Begebenheit, die im 1. Samuelbuch berichtet wird. Dort heißt es, dass David sich vor Saul versteckte - wir wissen ja, dass dieser zum Jähzorn neigte und außerdem mitbekommen hatte, dass Gott sich von ihm ab- und David zugewandt hatte, so dass er, um seinen Thron zu retten, den Konkurrenten verfolgte, um ihn, wenn möglich, zu ermorden.

Was geflissentlich überlesen wird, ist, dass David nicht immer der harmlose Schafhirte und besänftigende Harfespieler blieb, als den wir ihn zuerst kennenlernen, sondern sowohl Goliath mit seiner Schleuder niederstreckte als auch in zwielichtiger Gesellschaft Raubzüge unternahm - unter anderem im Land der Sifiter, die daraufhin überlegten, wie sie sich dieses Milizionärs entledigen und womöglich zugleich die Gunst des Königs Israels gewinnen könnten. Auf diese Begebenheit spielt unser Psalm an, doch es ist eher unwahrscheinlich - so die Fachwissenschaft -, dass tatsächlich David hier das Wort führt.

Aber wie David in Bedrängnis, so fühlt sich auch der Beter des 54. Psalms; und so wie er empfinden womöglich auch wir manchmal, liebe Geschwister: Von aller Welt verlassen, ganz auf uns allein gestellt. Wenn da nicht Gott hilfreich zur Seite steht - was soll dann werden?

Der Hauptteil des Psalms besteht, wie in vielen anderen Fällen auch, in einer Art Mischung aus Zwiegespräch des Beters mit sich selbst und mit Gott. Gedanken wie “er wird retten”, “ich will opfern”, in denen Gott in dritter Person vorkommt, wechseln ab mit Sätzen wie: Gott, mit deinem Namen hilf mir, und mit deiner Stärke schaffe mir Recht. Anders als in den meisten erzählenden Texten der Bibel geht es in etlichen Psalmen tatsächlich um Freude und Leid einzelner Menschen, und das ist wohl auch der Grund dafür, dass sie so beliebt sind als Brevier und Gesangbuch.

Trotzdem sollten wir nicht außer acht lassen, dass der Psalter, wie auch etwa das Hohelied der Liebe, zum Kanon der Hebräischen Bibel gehört, also Teil jener Schrift ist, auf die sich Israel - und auch Jesus - bezieht, wenn es um das Gottesverhältnis geht; denn die Frömmigkeit einzelner Menschen ist im Judentum unbedingt eingebunden in die Geschichte Gottes mit seinem Volk.

Dieser Aspekt ist im Christentum stark unterentwickelt. Die Rechtfertigungslehre brachte  die Vorstellung hervor, dass es sich im Kern um ein je individuelles “Gott recht sein” handelt, mit einer starken Betonung moralischer Anforderungen, bei der die anderen Christen  (von den übrigen Menschen ganz zu schweigen) allenfalls eine Herausforderung darstellen für mein richtiges Verhalten - etwa, wenn es darum geht, den Nächsten zu lieben.

Unser Psalm ist, wie gesagt, das Gebet einer einzelnen Person; aber dieser Beter identifiziert sich mit David - und schon wird die Sache zwangsläufig politisch, denn wenn der König (der spätere König) betet, der überdies als gottesfürchtig und gerecht galt (obwohl er durchaus auch einige Leichen im Keller hatte und sich Verhaltensweisen erlaubte, die strikt verboten waren), dann hat das eine Art Vorbildfunktion.

Vorbildlich war übrigens tatsächlich, was uns im 1. Samuelbuch unmittelbar nach der Episode mit den Sifitern berichtet wird: Der noch immer flüchtige David hat sich in einer Höhle versteckt, und genau dorthin zieht sich sein Verfolger zurück, um ein sehr privates Bedürfnis zu befriedigen, und während Saul schutzlos am Boden hockt, schneidet ihm David nicht etwa die Kehle durch, sondern lediglich eine Locke ab, um später demonstrieren zu können, dass er Böses mit Gutem vergolten hat, obwohl er seinen Widersacher hätte vernichten können.

Hier ist der Beter noch nicht an diesen Punkt gekommen. Er hofft darauf und ist voller Zuversicht, dass seine Augen den Feind mit Gottes Hilfe am Boden sehen werden. Und tatsächlich wird er ja erleben, dass Sauls Stern sinkt und er selbst den Thron besteigt.

Ich möchte noch kurz auf eine Merkwürdigkeit eingehen, liebe Geschwister, die manchem vielleicht längst nicht mehr auffällt, weil ich sie schon so oft thematisiert habe, anderen hingegen womöglich, zumindest sprachlich, ein Dorn im Auge ist:

“Gott, mit deinem Namen hilf mir, und mit deiner Stärke schaffe mir Recht.” So heißt es im dritten Vers; und im achten Vers lesen wir: “Mit willigem Gemüte will ich dir opfern, danken deinem Namen, Ewiger, dass er gütig ist.”

Ist das jetzt Schamanismus?
Was soll die Betonung des NAMENs?
Gegenfrage: “Wie ist denn der Name Gottes?”

Dieser Name, den wir in unseren deutschen Bibelausgaben normalerweise nicht zu Gesicht bekommen, das Tetragramm JHWH, ist alles andere als ein Rufname, sondern eher das Gegenteil davon: Bei diesem Nicht-Rufnamen kann man niemanden herbeizitieren, man kann damit nicht zaubern und Macht ausüben - und dies ist der eine gute Grund, weshalb Gott sich seinem Volk genau mit diesen vier Buchstaben vorgestellt hat.
Der andere ist: Rufen kann man ihn dennoch, nämlich anrufen, zu ihm um Hilfe flehen. Denn die Bedeutung dieses Namens ist: “Ich bin da.” Oder: “Ich bin bei euch.” “Ich bin mit euch.”

Genau das tut unser Beter, und was er von Gott erbittet, ist nichts anderes, als dass dieser sein Recht wiederherstellt. Und genau diesem gerechten Richter will der David unseres Psalms nach erfahrener Hilfe Opfer bringen. Auf dass andere hören und sehen, wer der ist und was der tut, den man - nicht vergeblich - um Hilfe anruft in der Not.

Denn - so können auch wir sagen: Siehe, Gott ist mein Beistand, deshalb will ich danken deinem Namen, Ewiger, dass er gütig ist; dass aus aller Not (ja sogar vor Tod und Teufel) er mich gerettet hat.

Amen.


Stephan Schaar