'Ihn wirken lassen' - Wachstum in der Liebe

Predigt zu Eph 4,15


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Von Marco Hofheinz

„Lasst uns wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus.“ (Eph 4,15)

Liebe Gemeinde,

eine doppelte Ermahnung wird in unserem Predigttext zur Sprache gebracht: 1. „Lasst uns wahrhaftig sein in der Liebe“ und 2. „Lasst uns wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus“. Schauen wir uns beide Ermahnungen nacheinander an. Zunächst die erste Ermahnung: „Lasst uns wahrhaftig sein in der Liebe“. Man kann auch übersetzen: „Lasst uns die Wahrheit [des Evangeliums] sagen in der Liebe.“1 Wie sehr und wie oft wird im Namen der Liebe gelogen und betrogen, dass sich die Balken biegen; oft auch trotz zunächst bester Absichten und Vorsätze.

Ein erstes Beispiel: Da schwört sich ein Liebespaar ewige Liebe und Treue und beide meinen es ganz ernst und aufrichtig. Doch nach wenigen Monaten schon ist der Ofen aus. Die Liebe ist erloschen. Nicht nur der Eros, die begehrende Liebe, sondern auch die Liebe, von der in unserem Predigttext die Rede ist: die Agape, die dienende Liebe, die sich dem Nächsten zuwendet. Ein zweites Beispiel: Da sitzt ein „Penner“ auf der Parkbank und rührt sich nicht. Ich frage mich: „Ob er wohl tot ist? Soll sich doch ein anderer drum kümmern. Das gibt nur Scherereien, wenn ich ihn jetzt anspreche oder den Notarzt rufe.“

Ja, liebe Gemeinde, mit der Liebe ist das so eine Sache. Wir nehmen uns oft viel vor – zu Beginn einer Beziehung, im Alltagsleben mit unseren Mitmenschen. Und in der Theorie wissen wir oft auch sehr genau, was wir tun sollen und was etwa Jesus von uns erwartet. Denken wir nur an das Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“ (Lk 10,25–37): Dass man dem, der unter die Räuber gefallen ist, helfen, ihm zum Nächsten werden soll – keine Frage. Und das, was der Priester und was der Levit da machen, die vorübergehen (Lk 10,31f.) – das geht ja gar nicht! Unterlassene Hilfeleistung! Kein barmherziger Samariterdienst! Auch hier – keine Frage!

Doch, wie oft merken wir, wie auch wir an den nötigen Gesten und Akten der Nächstenliebe scheitern, wie auch wir achtlos am Nächsten vorübergehen, der uns gerade in diesem Moment braucht. Ihn überhaupt in seiner Not zu sehen, ihn achtsam wahrzunehmen2, fällt uns schon nicht leicht. Das gilt auch für den Kontext der Gemeinde, den der Epheserbrief im Blick hat. Eine „[v]on Liebe bestimmte Wahrhaftigkeit“3, die „grundlegend ist für die Entwicklung und Auferbauung der Gemeinde“4 – auch dies ist alles andere als leicht zu leben. Denken wir nur an den Zank und den Streit, der ja auch vor unseren Kirchentüren, vor unseren Kirchengemeinderäten und Presbyterien, vor unseren Gruppen und Kreisen, vor unseren Gemeindehäusern nicht Halt macht.

Wie sehr ist doch unser Predigttext mit seiner zweiten Ermahnung im Recht, wenn er von der Notwendigkeit des Wachstums in der Liebe spricht. Wir sind nun einmal nicht einfach „Alleskönner:innen in Sachen Liebe“, sondern eher Dilettant:innen auf mehr oder weniger niedrigem Niveau. Wir haben es nötig, dass wir wachsen in allen Stücken, in jeder Hinsicht. Da ist es gut, dass wir uns ans Jesus orientieren dürfen, dass wir zu ihm hin wachsen dürfen wie die Pflanzen zur Sonne hin. Wir kennen das aus dem Garten. Ob das nun unsere Bohnen sind oder unsere Zucchinis, Möhren oder Kürbisse. Pflanzen sind vom Sonnenlicht abhängig. Daher richten sie ihre Wuchsrichtung immer zur Lichtquelle hin aus. Man spricht in der Biologie vom Phototropismus. Schon die kleinsten Keimlinge wachsen immer dem Licht entgegen.

Wachstum – darum geht es. Freilich hatte man im Protestantismus oft so seine Schwierigkeiten mit dem Wachstumsgedanken.5 Kann man im Glauben wachsen? Entweder man hat Glauben oder hat ihn nicht. Oder nicht? Und ist es nicht genauso mit der Liebe: Entweder man liebt oder man liebt nicht. Wachsen – auch in der Liebe? Setzt das nicht eine allzu optimistische Vorstellung voraus, als wären mir Menschen alle im Kern ganz prima und wunderbar und müssten nur noch ein bisschen gedüngt werden, um uns ganz kerzengerade zu entwickeln. Der Mensch – edel, hilfreich und gut?6 Kann man das wirklich so vom Menschen sagen – nach zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert, nach Auschwitz und Hiroshima, nach Vietnam, nach Srebrenica und Butscha, nach dem, was sich dieser Tage zwischen Palästinensern und Israelis abspielt?

Der Reformator Johannes Calvin war gewiss kein glühender Optimist, aber er wusste, dass das Wachstum zum christlichen Leben dazugehört.7 Es gibt ein Wachstum im Glauben, es gibt Fortschritt auch im christlichen Leben. Er gehört zu einem Leben in der Heiligung – auch wenn er eher einem Auf-dem-Boden-Kriechen gleicht. Ganz im Sinne unseres Predigttextes schreibt Calvin: Wir sollen uns an Christus allein orientieren – ihm als unserem Ziel entgegenlaufen. Doch Calvin bemerkt auch – ich lese aus seinem „Unterricht in der christlichen Religion“:

„Es hat aber kein Mensch in diesem irdischen Kerker des Leibes Kraft genug, um mit rechter Freudigkeit seinen Lauf dahinzueilen, ja die meisten leiden unter solcher Schwachheit, dass sie nur wankend und hinkend, ja auf dem Boden kriechend, bescheiden vorankommen. So sollen wir denn alle nach dem Maß unserer kleinen Kraft unseren Gang tun und den angefangenen Weg fortsetzen! Niemandes Weg wird so unglücklich sein, dass er nicht alle Tage ein Stücklein hinter sich bringen könnte. Wir wollen aber nicht aufhören, danach zu streben, dass wir auf dem Wege des Herrn beständig etwas weiterkommen, wollen auch bei der Geringfügigkeit des Fortschrittes nicht den Mut sinken lassen. Mag auch das Weiterschreiten unseren Wünschen nicht entsprechen, so ist doch die Mühe nicht verloren, wenn nur der heutige Tag über den gestrigen Sieger bleibt. Wir wollen nur in aufrichtiger Einfalt auf unser Ziel schauen und nach dem Zielzeichen uns ausstrecken.“8

Noch ein letzter Gedanke: Beim Bild vom Christus-entgegen-Wachsen musste ich an mein Lieblingslied „Gott ist gegenwärtig“ von Gerhard Tersteegen denken und an seine schöne9 Formulierung in Strophe 6: „Wie die zarten Blumen / willig sich entfalten / und der Sonne stille halten, / laß mich so, / still und froh / deine Strahlen fassen / und dich wirken lassen.“10 Ich kenne keine trefflichere Umschreibung des Lebens in der Heiligung als diese wenigen gereimten Verse des reformierten Mystikers vom Niederrhein.11 Tersteegen setzt hier poetisch und metrisch äußerst kunstfertig unseren Predigttext, genauer gesagt, die zweite Ermahnung um: „Lasst uns wachsen zu dem hin, der das Haupt ist, Christus.“ Christus! Christus ist die Sonne, sagt Tersteegen, der übrigens vorzügliche Kenntnisse der Pflanzenwelt zur Herstellung von Medikamenten besaß.12 Christus ist die Sonne und wir sind seine Pflanzen, seine Blume,13 zutiefst abhängig davon, dass er uns scheint, dass er uns Licht spendet.

Liebe Gemeinde, es geht in der Heiligung „um eine konsequente Umsetzung der Rechtfertigungserfahrung sola gratia, allein aus Gnaden“14, wobei Gott das Subjekt der Heiligung bleibt.15 An Adolf Weber in Haan schreibt Tersteegen am 23. September 1721: „Die Gnade Gottes in Jesus Christus beherrsche unsere Seelen durch die Wirkung des heiligen Geistes, Amen!“16 Und in Tersteegens „Handbrieflein von der Mystik“ heißt es: „Wir sollen nur von unserm eigenen Tun ablassen, Jesu unser Herz wahrhaftig eingeben, bei ihm kindlich drinnen bleiben und ihn frei durch seinen Geist in uns wirken lassen.“17 Der Akzent liegt bei Tersteegen ganz eindeutig und ganz betont auf Gottes Tun. Er wirkt am Menschen. „Das Ich wird wie alles von Gott durchdrungen“18, so dass es nur noch „stille halten“, „still und froh seine [also Gottes; M.H.] Strahlen fassen und ihn wirken lassen“ möchte. Ja, liebe Gemeinde, „entscheidend ist, dass wir ‚ihn wirken lassen‘.“19

Man beachte dabei den Richtungssinn: Es geht nicht einfach darum, dass wir uns strecken und lang machen. Nein, es geht darum, dass wir im Glauben ihm entgegenwachsen. Auf die „gemeinsame Ausrichtung des Wachstums der Glieder am Leib, nämlich auf Christus als Haupt hin“20, kommt es an. Christus ist unsere Zielrichtung. Ihm, nur ihm entgegen – das meint ein Leben in der Heiligung. In allen Stücken, in jeder Hinsicht Christus entgegenwachsen, darauf kommt es an. Deshalb, liebe Gemeinde: Lasst uns wachsen – lasst willig uns entfalten und Jesus, unserer Sonne, stille halten. Lasst uns so, still und froh, seine Strahlen fassen und ihn wirken lassen.

Amen

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1 Vgl. Otfried Hofius, Gemeindeleitung und Kirchenleitung nach dem Zeugnis des Neuen Testaments, Eine Skizze, in: ders., Exegetische Studien, WUNT 223, Tübingen 2008, (218–239) 230.

2 Zur Wahrnehmung in diesem Gleichnis vgl. Johannes Fischer, Christliche Ethik als Verantwortungsethik?, in: Evangelische Theologie 52 (1992), 114–128; ders. u.a., Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik, 228f.; 323ff.

3 Matthias Konradt, Ethik im Neuen Testament, GNT 4, Göttingen 2022, 207.

4 Ebd.

5 Vgl. Ralf K. Wüstenberg, Wachstum im Glauben? Eine Analyse der Rede vom „Fortschreiten“ in Calvins Institutio, NZSTh 46 (2004), 264–279.

6 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Das Göttliche: „Edel sei der Mensch / Hülfreich und gut!“

7 Vgl. Marco Hofheinz, „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“. Tugendethische Ansätze bei Johannes Calvin. Ein Beitrag zur ethischen Grundlagendiskussion, in: ders., Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert, FRTh 8, Göttingen 2017, 64–113.

8 Inst. (1559), II,6,5. Zit. nach Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet Otto Weber, im Auftrag des Reformierten Bundes bearbeitet und neu herausgegeben von Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008, 375f.

9 So auch Peter Zimmerling, Evangelische Mystik, 2. Aufl., Göttingen 2020, 127: „Sprachlich am schönsten bringt Tersteegen diese kontemplative Grundhaltung des Mystikers in seinem Lied ‚Gott ist gegenwärtig‘ zum Ausdruck.“

10 EG 165,6.

11 Vgl. Ako Haarbeck, Der „Mystiker des reformierten Pietismus“. Gerhard Tersteegen (1697–1769), in: RKZ11/1997, 495–499.

12 So A. Haarbeck, a.a.O., 498.

13 Auch Paul Gerhardt gebraucht die Metapher von der Blume bzw. Pflanze in Christi Garten. So in Strophe 14 von „Geh aus, mein Herz“ (EG 503): „Mach in mir deinem Geiste Raum, / daß ich dir werd ein guter Baum, / und laß mich Wurzel treiben. / Verleihe, daß zu deinem Ruhm / ich deines Gartens schöne Blum / und Pflanze möge bleiben.“ Dazu: Magdalene L. Frettlöh, Christus als Gärtner. Biblisch- und systematisch-theologische, ikonographische und literarische Notizen zu einer messianischen Aufgabe, in: Jabboq 7 (2007), 161–203.

14 P. Zimmerling, Evangelische Mystik, 127.

15 Zur Rechtfertigung und Heiligung bei Tersteegen vgl. Ulrich Kellermann, Gerhard Tersteegen als Sachverwalter der Reformation, Studienreihe Luther 21, hg. von Dieter Beese, Günter Brakelmann und Arno Lohmann, Bielefeld 2020, 173–193.

16 Gerhard Tersteegen, Für dich sei ganz mein Herz und Leben. Eine Auswahl seiner Lieder und Briefe an Erweckte im Bergischen Land, hg. von Ulrich Bister / Michael Knieriem, Giessen / Basel 1997, 1.

17 Gerhard Tersteegen, Handbrieflein von der Mystik (9. Dezember 1735), in: ders., Abhandlungen zu Frömmigkeit und Theologie, hg. von Johannes Burkhardt, EPT 12, Leipzig 2018, (144–147) 145. Es handelt sich bei dem Zitat um eine Erweiterung in der 2. und 3. Aufl. des „Handbriefleins“.

18 Michael Heymel, „Gott ist gegenwärtig“ (EG 165). Ein Kirchenlied zur Einübung in Ehrfurcht, in: Quatember 88 (1/2024), (19–27) 21.

19 A. Haarbeck, Der „Mystiker des reformierten Pietismus“, 496. Zur Sprachform des hier verwendeten Tolerativs „wirken lassen“ vgl. Marco Hofheinz / Ulf Lückel, Schriftschülerschaft, Glaubensheiterkeit und die Weisheit des Lassens. Ein Geleitwort zu Helmut Hollensteins Wittgensteiner Predigten und Vorträgen, in: Helmut Hollenstein, Glaubensheiterkeit oder: Die Weisheit des Lassens. Wittgensteiner Predigten und Vorträge, hg. von Marco Hofheinz / Ulf Lückel, Bielefeld 2024, im Erscheinen.

20 M. Konradt, Ethik im Neuen Testament, 205. Mit der Rede von Christus als Haupt des Leibes setzt der Epheserbrief (vgl. Eph 1,22; 41,15; 5,23) wie der Kolosserbrief (vgl. Kol 1,18; 2,19) „einen ekklesiologischen Akzent, er in den unbestritten echten Paulsubriefen noch fehlt.“ Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Bd. 2: Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung, Göttingen 1999, 30.


Marco Hofheinz