Nes Ammim Jahresthema 2017

100 Jahre Balfour-Erklärung - 70 Jahre UN-Teilungsplan - 50 Jahre 6-Tage-Krieg


Jahreszahlen, die mit einer 7 enden, bezeichnen in der Geschichte des Zionismus und des Staates Israel bedeutende Wendepunkte:
Das beginnt schon mit dem 1. zionistischen Kongress in Basel vor 120 Jahren (1897).
Die Balfour-Erklärung vor 100 Jahren (1917), mit der das zionistische Anliegen die Unterstützung des britischen Empire erlangte.
Der Teilungsplan der Peel-Kommission vor 80 Jahren (1937) brachte erstmals die Idee einer Teilung des Landes zwischen der arabischen und der jüdischen Bevölkerung in die Diskussion.
Der Teilungsplan, der von der UNO-Generalversammlung in der Resolution 181 vor 70 Jahren (1947) beschlossen wurde, legte die völkerrechtliche Grundlage für die Gründung des Staates Israel.
Vor 50 Jahren (1967) brachte der Sieg Israels im 6-Tage-Krieg wieder das gesamte Gebiet des vormaligen britischen Mandatsgebiets „Palästina“ unter eine Herrschaft – diesmal unter israelische.
Seit dem Regierungswechesl zum Likud unter Menachem Begin vor 40 Jahren (1977) wurde die Besiedlung der 1967 eroberten Gebiete mit jüdischen Siedlungen vorangetrieben.

Die palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten erhob sich in der 1. Intifada vor 30 Jahren (1987) gegen die israelische Besatzung. Das führte schließlich zur Einsetzung der palästinensischen Autonomiebehörde unter Führung der PLO.

Die aktuelle Bedeutung dieser Daten wird deutlich aus der bis heute nicht entschiedenen Frage, wie der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gelöst werden kann:
Durch Teilung des Landes – konkret also die „Zwei-Staaten-Lösung“, indem Israel sich aus den 1967 eroberten Gebieten zurück zieht und ein Staat „Palästina“ an der Seite Israels gegründet wird.
Oder durch eine wie auch immer geartete „Ein-Staaten-Lösung“, bei der das Land nicht wieder geteilt wird – bei der aber nicht geklärt ist, welchen Status die palästinensichen Bewohner der Westbank in diesem einen Staat haben werden.

Wie vergiftet die Stimmung in Israel ist, zeigte die von der Regierung organisierte zentrale Veranstaltung zum Gedenken an den 6-Tage-Krieg. Anstatt die israelisch-jüdische Bevölkerung in der Erinnerung an den überwältigenden Sieg zu einen, entschloss sich die Regierung, eine Feier in einer Siedlung in der Westbank abzuhalten unter dem Motto „50 Jahre Besiedlung von Judäa und Samaria“. Vertreter der parlamentarischen Opposition nahmen nicht teil. Und auch der oberste israelische Gerichtshof schickte keinen Repäsentanten wegen des „kontroversen, einseitigen“ Charakters dieser Veranstaltung.

Vor diesem Hingergrund war Moshe Zimmermann, emeritierter Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, am 19. Oktober in Nes Ammim zu Gast, um über das Jahresthema zu referieren. Er ging dabei wie ein Archäologe vor, indem er die historischen „Schichten“ von „oben“ (d.h. vom jüngsten Datum) nach „unten“ (d.h. zum frühesten Datum in der Reihe) untersuchte. In jedem Wendepunkt treffen neue Zustände und Gegebenheiten auf bereits existierende, oft marginale Traditionen und Denkmuster. Dieses Zusammenspiel von alt und neu erklärt im Endeffekt den krassen Unterschied zwischen dem Zionismus der ersten Stunde und dem gegenwärtigen Israel.

1977 ereignete sich die historische Wende in der israelischen Politik, indem zum ersten Mal eine „rechte“, konservativ-nationalistische Regierung unter Menachem Begin gebildet wurde. Seitdem regiert in Israel 40 Jahre lang die politsche Rechte – nur kurz unterbrochen von Regierungen der politischen Linken 1992-1995 unter Jitzchak Rabin und 1999-2000 unter Ehud Barak – und ein erneuter Richtungswechsel ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die rechte Mehrheit in der Knesset verfestigt sich von Wahl zu Wahl weiter.

Eine entscheidende Ursache dafür liegt in den Eroberungen des 6-Tage-Krieges 1967. Damit kamen die Städte und Stätten, die in den biblischen Traditionen eine zentrale Rolle spielen, unter israelische Herrschaft: Ostjerusalem mit den Heiligen Stätten, Hebron, Bethlehem, Jericho, Samaria. Neuen Siedlungen wurden die Namen von biblischen Ortschaften verliehen: Bet El, Shilo, Tekoa usw. Diese – wie Zimmermann es nannte - „romantisierende“ Bezugnahme auf die religiösen Traditionen des Judentums löste das europäische Selbstverständnis Israels als Staat der jüdischen Nation (unabhängig von religiösen Traditionen oder ethnischen oder auch rassistischen Zuschreibungen im Sinne des Nationenbegriffs der französischen Revolution: die Menschen, die sich als Mitglieder dieser bestimmten Gruppe verstehen, bilden eine „Nation“) ab und setzte an sein Stelle das religiös determinierte „jüdische Volk“ als die Staatsnation.

Die Frage ist, wie es zu diesem Wechsel kommen konnte, nachdem 1948 auf der Grundlage des UN-Teilungsplans 1947 der Staat Israel von europäischen Juden für europäische Juden im Sinne des europäischen Konzepts des Selbstbestimmungsrechts der Völker gegründet worden war. Die Ursache dafür liegt in der Shoah, d.h. in der Ermordung von 2/3 der Menschen, die als potentielle Bürger dieses Staates erhofft waren. An ihrer Stelle war Israel angewiesen auf die Einwanderung der Juden aus den orientalischen Ländern (Nordafrika, Ägypten, Iak, Iran), die vor der Shoah weniger als 10%  der Juden weltweit gestellt hatten. Diese hatten die Prozesse der Emanzipationn und der Säkularisierung nicht duchlaufen, die die europäischen Juden im 19. Jahrhundert geprägt hatten, sondern waren ihrer Stellung in den islamischen Gesellschaften gemäß eine unter mehreren religiösen Minoritäten. An dieses Selbstverständnis konnte nach 1967 der national-konservative Likud anknüpfen.

(Oft wird die Diskriminierung dieser sefardischen Juden als Grund angeführt, warum sie in ihrer Mehrheit für den Likud und andere Parteien der politischen Rechten stimmen. Es gab allerdings auch andere Optionen des Protests gegen die Diskriminierung durch das Establishment, wie die Proteste der „Schwarzen Panther“  anfang der 70er Jahre zeigten. Deren radikal linke Positionen allerdings waren weit weniger „anknüpfungsfähig“ als der religiös konnotierte Nationalismus des Likud und der Nationalreligiösen Partei, die sich unter dem Eindruck der Eroberungen der religiösen Stätten politisierte.)

Die Vorstellung von der Zweistaatenlösung wurde nicht erst  im Jahr 1947 zur Richtlinie für die mögliche Überwindung des arabisch-jüdischen Konflikt in Palästina, sondern bereits im Jahr 1937. Aber erst nach der Shoah konnte sich das neue internationale Gremium, die UN,  für diese Lösung entscheiden.

Das europäische Herkommen und die europäische Prägung des zionistischen Projekts wird dann vor allem deutlich an der Balfour-Erklärung von 1917, die als Teil des Mandatsauftrags des Völkerbunds an die Briten die Geschicke des Landes entscheidend prägte. 1917 war im 1. Weltkrieg ein kritisches Jahr für das Bündis von Großbritannien, Frankreich und Russland im Krieg gegen das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Nach der Revolution von 1917 strebte Russland danach, den Krieg zu beenden. Andererseits waren die USA noch nicht in den Krieg eingetreten. Bei ihrem Bemühen, Russland im Krieg zu halten und die USA zum Kriegseintritt zu bewegen, hoffte Großbritannien, die jüdischen Bürger Russlands und der USA dazu bewegen zu können, ihren (im Übrigen weit überschätzten) Einfluß geltend zu machen, indem sie den Zionisten eine „nationale Heimstätte“ in Palästina versprachen.

Es war ein typisch europäisch-kolonialistisches „Mindset“, das die Welt außerhalb Europas als Verfügungsmasse für europäische Ambitionen und politische Winkelzüge aller Art ansah. Abgesehen davon, war sich die britische Politik weder im Klaren darüber, um welches Land es sich in diesem Versprechen genau handeln sollte. Im Mandatsauftrag war ursprünglich auch das Gebiet östlich des Jordans enthalten, das 1922 als Transjordanien von den Briten kurzerhand abgetrennt und den Haschemiten übergeben wurde (als – teilweise – Einlösung der Versprechen, die den Arabern im 1. Weltkrieg gegeben wurden für ihre Beteiligung am Krieg gegen das Osmanische Reich), noch hatte sie eine Vorstellung davon, was bei dem Mandat am Ende für ein politische Gebilde herauskommen könnte. Jedenfalls stellte sich  niemand – nicht einmal die Zionisten – 1917 vor, dass bereits 30 Jahre später ein Staat Israel entstehen würde.

Die Balfour-Declaration wiederum verlieh den Bemühungen der Zionistischen Bewegung erstmals internationale Anerkennung, die ihren 1. Kongress 1897 in Basel abhalten musste, weil das jüdische religiöse Establishment den eigentlich vorgesehenen Versammlungsort München zu verhindern wusste. Der Gedanke, die bedrängte Situation der Juden in Europa zwischen Pogromen in Russland und Antisemitismus im Westen durch Gründung einer jüdischen „nationalen Heimstätte“ zu überwinden, war erst recht für deutsche Juden, die sich alle Mühe gaben, patriotische Deutsche jüdischer Konfession zu sein, einfach undenkbar.

Der im 19. Jahrhundert aufkommende Antisemitismus machte die Bereitwilligkeit der Juden, die durch die französische Revolution eröffneten Möglichkeiten der Emanzipation zu nutzen, zunichte. Es ist also das Versagen Europas gegenüber seinen Juden, das die Entwicklung in Gang gebracht hat, die zu der heutigen Situation in Israel geführt hat.

An 50 Minuten Referat schloss sich noch eine Stunde angeregter Diskussion an. Ich finde es immer gut, durch fundierte „historische Archäologie“ dieser Art eine Ahnung davon zu bekommen, wie die Situation entstanden ist, in der wir uns heute befinden – hilfreich vor allem auch, um sich keine falschen Illusionen über den Stand der Dinge und die politischen Perspektiven zu machen.

Eine ganz andere Frage ist, welche Perspektiven sich daraus für das Anliegen von Nes Ammim ergeben, „Dialog“ zu fördern und so zum Brückenschlag beizutragen zwischen den diversen Bevölkerungsgruppen Israels.


Tobias Kriener