''Schweigen ist Silber. Beten ist Gold''

Predigt über Psalm 92 von Matthias Freudenberg

"... des Morgens Gottes Gnade und des Nachts Gottes Wahrheit erleben und davon reden: Das ist nicht nur eine fromme Angelegenheit, sondern auch eine praktische Hilfe zum Leben. Morgens aufzustehen in der Gewissheit, dass Gott mich gnädig anschaut ..."

Das ist ein köstlich Ding, dem HERRN danken
     und lobsingen deinem Namen, du Höchster,
des Morgens deine Gnade
     und des Nachts deine Wahrheit verkündigen
auf dem Psalter mit zehn Saiten,
     mit Spielen auf der Harfe.
Denn, HERR, du lässest mich fröhlich singen von deinen Werken,
     und ich rühme die Taten deiner Hände.
HERR, wie sind deine Werke so groß!
     Deine Gedanken sind sehr tief.
Ein Törichter glaubt das nicht,
     und ein Narr begreift es nicht.
Die Gottlosen grünen wie das Gras,
und die Übeltäter blühen alle –
     nur um vertilgt zu werden für immer!
Aber du, HERR, bist der Höchste
     und bleibest ewiglich. (…)
Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum,
     er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon.
Die gepflanzt sind im Hause des HERRN,
     werden in den Vorhöfen unsres Gottes grünen.
Und wenn sie auch alt werden,
     werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein,
dass sie verkündigen, wie der HERR es recht macht;
     er ist mein Fels und kein Unrecht ist an ihm.


Liebe Gemeinde,
„Schweigen ist Silber. Beten ist Gold“, dieses Motto las ich kürzlich auf einer kirchlichen Internetseite aus der Schweiz. „Schweigen ist Silber. Beten ist Gold“, von diesem Gedanken ist der ganze Psalter – das Gebetbuch Israels und der Kirche – bestimmt. Da ist Menschen vielfach zum Schweigen, zum Verstummen zumute. Aber sie tun es nicht. Sie reden. Sie schreien. Sie suchen tastend nach Worten und ahnen, dass diese nicht ins Leere gehen, sondern Gehör finden. Vielleicht nicht bei Menschen, wohl aber bei Gott. Der 92. Psalm, aus dem ich gerade gelesen habe, ist ein solches Gebet. Wer mit den Psalmen betet, bleibt mit dem, was ihn oder sie beschäftigt, nicht mehr bei sich selbst. Wer mit den Psalmen betet, tritt aus sich heraus und spricht zu Gott. Redet ihm dankbare Worte ins Ohr, schreit ihm klagende Worte entgegen, haucht ihm verzagte Bitten ins Angesicht. All das und noch viel mehr ist Beten. Dass wir nicht dem Schweigen den Vorzug geben, sondern dem Beten – darum bittet flehend der Verfasser des Kolosserbriefs: „Haltet fest am Gebet!“, oder, wie Luther übersetzt: „Bleibt beharrlich im Gebet!“ (Kol 4,2) Das Beten zu verlieren wäre ein unermesslicher Verlust. Grund genug, im Beten nachlässig zu werden, gibt es genug. Wer hätte nicht so manchen Grund, gebetsmüde zu werden. Warum soll man beten, wenn sich doch nichts ändert? Warum soll ich überhaupt beten? Ist es nicht so, dass unerfüllte Erwartungen nicht nur andere, sondern auch uns selbst lähmen, zu Gott und mit ihm zu sprechen?

Liebe Gemeinde, der ganze Psalter und in ihm der 92. Psalm zeigt uns: Es geht auch anders. Es geht auch so, dass unser Innerstes, unsere Gedanken und schließlich auch unser Mund sich öffnen, um zu und mit Gott zu sprechen. Nicht, weil wir von uns aus jederzeit dazu in der Lage wären, sondern weil Gott uns dazu bringt, weil er unser Schweigen und unsere Gebetsmüdigkeit durchbricht, weil er uns durch seine Werke und Taten Gründe über Gründe dafür liefert, ihm nicht nur unsere Klagen entgegenzuschreien, ihm nicht nur unsere Bitten anzuvertrauen, sondern ihm ganz schlicht und einfach zu loben und zu danken.
Aus dem 92. Psalm spricht eine unbändige Lebensfreude. Es ist die Freude an einem Leben, in dem einem Menschen etwas Wunderbares geschehen ist. Hinter seinen Worten leuchtet aber noch mehr auf als die pure Freude am Leben. Der diesen Psalm betet, freut sich am lebendigen Gott. Und so hat nicht nur die Lebenserfahrung, sondern vor allem die Gotteserfahrung den Beter überwältigt. Sie hat ihn hingerissen zu Worten, in denen unzählige Generationen ihr eigenes Gotteslob wiedergefunden und ausgedrückt haben.
Dem Herrn danken, Gott loben – ein köstlich’ Ding? Da melden sich Einwände: Ist hier nicht in allzu hohem Ton von Gott und seinen Werken die Rede? Wird hier nicht allzu schrill vom Loben und vom Danken gesprochen? Ach Gott, von deinen Werken möchte ich gerne singen. Die Taten deiner Hände möchte ich gerne loben. Doch wie selten und flüchtig sind diese glücklichen Erfahrungen, dass dein Werk in dieser Welt wirklich zählt, dass deine Taten unter den Völkern wirklich beachtet und geachtet werden, dass du den Rechtlosen zum Recht verhilfst! Viel offensichtlicher ist doch das, was wir dir klagen müssen: Krankheit und Tod, Schmerz und Kummer, all das Scheitern, wo wir hinter dem zurückbleiben, was wir uns vorgenommen haben, auch all die sinnlose Gewalt, deren Exzesse in unserer Welt Tag für Tag offenkundig sind.
Wenn wir uns allem Dunkel zum Trotz dieses Lob Gottes gefallen lassen, dann in dem Vertrauen, dass Gott mit den Taten seiner Hände mitten da ist in unserer oft so verdunkelten Welt. Der Psalm dringt darauf: Gebt die Sehnsucht nach Gott, der am Werk ist, nicht auf! Er ist noch nicht fertig mit uns, und wir sollen auch nicht mit ihm fertig werden.
Den Herrn loben – ein köstlich’ Ding. So steht es da. Köstlich nennen wir ein Essen, das uns gut schmeckt, etwas Nahrhaftes, das wir mit Genuss zu uns nehmen. Und nun: Den Herrn loben – ein köstlich’ Ding. Köstlich, ja schön – wie der hebräische Text schreibt – und zum Genießen geeignet wird das genannt, was hier getan wird: danken, loben, fröhliches Singen. Hier findet ein Mensch Worte, um danke zu sagen: Gott, ich danke dir für deine Werke. Ich rühme die Taten deiner Hände. Wir beginnen zu ahnen, was Glauben ursprünglich heißt, nämlich vertrauen, von Gott gefunden werden und sich bei ihm bergen – auch dann, wenn auf niemanden sonst mehr Verlass ist. „Herr, du lässt mich fröhlich singen von deinen Werken.“ Wissen wir eigentlich noch von dieser ursprünglichen Haltung, aus Vertrauen heraus fröhlich zu singen? Wissen wir noch darum, Gott auch mit unseren Emotionen zu suchen und zu finden?
„Des Morgens Gottes Gnade und des Nachts Gottes Wahrheit verkündigen“: Das ist köstlich und das lässt den Beter fröhlich singen. Auf Dauer soll sein Lob erklingen, am Morgen und in der Nacht. Morgens also Gottes Gnade empfinden, dass wir wieder aufstehen können, und des Abends bei den letzten Stahlen des Sonnenlichtes spüren, dass dieser Tag nicht umsonst war. Gottes gnädige Zuwendung und sein wahres Wort geben dem Tag seinen Rhythmus. Schon beim Anbruch des Tages ist gewiss, dass Gott jeden so erwartet, wir er und sie ist. Vielleicht von Zeit zu Zeit etwas unausgeschlafen, vielleicht aufgeschreckt durch einen bösen Traum, vielleicht ohne rechte Lust, an die Arbeit zu gehen, vielleicht mit dem Blick in den Spiegel und dem Gedanken: Nein, mit dir ist eigentlich nichts los! Doch gerade so schaut Gott dich und mich morgens mit seiner Gnade an, nimmt dich und mich in Empfang. Vielleicht ist das ein Anreiz, dass auch wir gnädiger und geduldiger mit uns und mit den anderen sind.
Der Tag steht von seinem Anfang an im Zeichen eines Geschenkes und nicht im Zeichen einer Forderung. Es sind die Kinder, die noch mehr als wir Erwachsenen davon etwas ahnen: Mir wird etwas geschenkt, ohne dass ich dafür etwas tun kann oder tun muss. Dass es ein erfolgreicher Tag werden möge, dafür können wir einiges tun. Aber dass Gott uns gnädig behütet und für uns Sorge trägt, dafür können und brauchen wir nichts zu tun. Abend und Morgen sind seine Sorgen (vgl. EG 449,4).
Die Nacht bringt der Beter mit der Wahrheit in Verbindung. Ich denke an Nikodemus, der in der Stille der Nacht das Gespräch mit Jesus gesucht hat. Die Nacht ist die Zeit des Fragens, Zeit der Gedanken über Gott, Zeit der Nachdenklichkeit über den Lauf der Welt und das Gelingen des eigenen Lebens. Da beruhigen sich der Tageslärm und die äußerliche Betriebsamkeit. An ihre Stelle tritt die stille, innere Bewegung, getrieben von der Suche nach Antwort und gewiss auch nach Wahrheit. An mehreren Stellen in der Bibel heißt es, dass Gott in solchen Stunden der Nachdenklichkeit mit seiner Wahrheit bei uns einkehrt und in uns wahr macht, was wir nicht wahrhaben wollen. Gott legt alles behutsam offen. Dass Gottes Wahrheit nicht nur ein Gedanke ist, sondern ein Gesicht hat, zeigt uns Jesus Christus, der von sich sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14,6) Wo Wahrheit ist, da ist Leben. Und die Lüge, das Verdrehen der Wahrheit, die Halbwahrheit, die Verdächtigung, die Verunglimpfung, führt vom Leben – und auch vom guten Zusammenleben – fort.
Liebe Gemeinde, des Morgens Gottes Gnade und des Nachts Gottes Wahrheit erleben und davon reden: Das ist nicht nur eine fromme Angelegenheit, sondern auch eine praktische Hilfe zum Leben. Morgens aufzustehen in der Gewissheit, dass Gott mich gnädig anschaut, und abends zur Ruhe zu kommen mit dem Gedanken, dass nicht allerlei Wahrheiten, sondern die eine Wahrheit – Gott in Jesus Christus – meinem Leben Sinn gibt. Und dazwischen der Tag: das Wunder geschenkter Zeit, die in Gottes Händen steht und die ich mit allen Adern meines Lebens erfüllen kann (vgl. Ps 31,16).
Dass Schweigen Silber und Beten Gold ist, bewährt sich gerade dann, wenn die Zeichen nicht auf ausgelassene Lebensfreude stehen. Wenn Menschen in Gefahr sind, Angst, ja Lebensangst, empfinden, mit den Nerven zu Fuß sind. In den Psalmen finden Menschen aus der Not heraus, empfinden sich wieder lebendig, spüren, dass sie bewahrt worden sind – und nehmen das nicht als selbstverständlich. Sie danken Gott. Sie loben ihn. So stelle ich es mir auch in unserem Psalm vor: Gottes Werke erscheinen im Licht der Bewahrung vor Gefahr und Unheil. Offenbar ist dort einer aus einer bedrohlichen Situation heraus befreit worden. Die Rede ist von bösen Menschen. Und betet: Ich bin bewahrt worden, und das verdanke ich nicht mir selbst, sondern Gott. Solche Erfahrungen elementarer Bewahrung graben sich tief ins Leben ein. Und ich denke mir: Wo ist auch mir so etwas Wunderbares geschehen? Gesund geworden zu sein, bewahrt worden zu sein vor einem Unfall, nahe am Abgrund zurückgehalten zu werden im Leben, den Gefahren entkommen zu sein? Um dann zu beten: „Herr, wie sind deine Werke so groß!“
Ein Letztes zu diesem unerschöpflichen Psalm. Unter die fröhlichen Töne mischt sich auch ein Misston, ein störender Klang, der mich – wie bei einem verunglückten Akkord – zusammenzucken lässt: „Die Gottlosen grünen wie das Gras, und die Übeltäter blühen alle – nur um vertilgt zu werden für immer!“ Wie verträgt sich das mit dem Gotteslob? Kann dieser Psalm immer noch „mein“ Psalm sein? Ist solch ein Gebetssatz wirklich Gold, oder wäre Schweigen nicht besser? Ich verstehe das so: Zum Lob Gottes, gehört wohl auch die Kehrseite, dass Gott im Streit mit dem liegt, was gegen ihn und seine Schöpfung steht. Weil Gott diesen Streit ausficht und sich nicht daraus zurückgezogen hat, leben wir. Gott lässt nicht kalt, was an Unrecht und Menschenverachtung geschieht und was das Leben der Gerechten gefährdet. Er hört den Schrei der Gequälten. Und lässt am Ende nicht die Mörder über ihre Opfer triumphieren. Das endgültige Schicksal unserer Gegner und der Feinde Gottes ist Gottes eigene Sache und nicht die Sache von Menschen. Gott spricht hier sein letztes Wort, nicht wir. Auch das ist Gnade.
Liebe Gemeinde, letztlich läuft alles darauf hinaus, dass „der Gerechte grünen wird wie ein Palmbaum und er wachsen wird wie eine Zeder auf dem Libanon“. Das ist das Evangelium dieses Gebets. Die Gerechten und nicht die Gnadenlosen werden gewinnen. Noch sehen wir das nicht. Noch sehen wir vielfach das genaue Gegenteil. Gerade darum lasst uns nicht nachlassen, Gott zu loben und ihn um ein Mehr an Gerechtigkeit für die Gerechten zu bitten. Haltet fest am Gebet, denn Schweigen ist Silber und Beten ist Gold.
Amen.
 


Predigt über Psalm 92 von Prof. Dr. Matthias Freudenberg im Gottesdienst in der Ev.-ref. Kirche Schöller am 13. Mai 2012