Sonntag Oculi am 3. März 2013: Predigt zu Jeremia 20, 1-11

von Gudrun Kuhn, Ältestenpredigerin in Nürnberg

"In diesem Spannungsbogen müssen auch wir leben: Widerspruch zum Bestehenden, wo es dem Menschen seine geschöpfliche Würde versagt, Verzicht auf fertige Lösungen, die andere zu Feinden machen, und Hoffnung, dass der uns so oft verborgene Gott einmal vollenden wird, was noch Fragment bleibt."

Liebe Gemeinde,

was kostet es uns eigentlich, zur Kirche zu gehören? Nein - ich will jetzt nicht wissen, wie viel Kir­chensteuer Sie zahlen. Ich frage mich etwas anderes. Unser Christsein, wie viel an per­sön­­licher Entscheidungskraft verlangt es von uns, hat es von uns verlangt. Die meisten sind in die Kirche hineingetauft worden. Später hat man sich mehr oder weniger freiwillig konfir­mie­­ren lassen, hat Religionsunterricht genossen oder ertragen. Und dann kamen vielleicht im jun­gen Erwachsenenalter die ersten Fragen: Ist das noch etwas für mich? Soll ich in der Kir­che bleiben? In dieser? Oder soll ich eine andere religiöse Heimat suchen? Kann ich das noch glauben? Bringt mir das etwas? Brauche ich überhaupt Religion?
Gut, ich bin geblieben, Sie sind geblieben.
Aber wenn nicht? Keiner hätte - wie noch vor 60 Jahren - ein Thema daraus gemacht, wenn Sie ausgetreten wären. Bei uns fragt heutzutage niemand danach, wie man es mit der Re­ligion hält. Hauptsache: nicht fundamentalistisch oder ra­di­kal! Jeder soll nach seiner Facon selig werden … Und da gibt es niemand, der uns die Hölle heiß macht. Es kostet nichts, zur Kirche zu gehören. Und man riskiert nichts, wenn man draußen ist.

Wie befremdlich mag da der Predigttext auf uns wirken. Es ist ein Klagelied des Propheten Jeremia aus dem 20. Kapitel des Prophetenbuchs.

7 HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark ge­wesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und je­der­mann verlacht mich. 8 Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott täglich. 9 Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in mei­nem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich's nicht er­tragen konnte; ich wäre schier vergangen. 10 Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrec­ken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm bei­kom­men können und uns an ihm rächen.« 11 Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, da­rum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt. Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden.

Ich könnte Ihnen jetzt vom Propheten Jeremia erzählen. Uns ist einiges überliefert, das an eine historische Person denken lässt. Eine Person aus der Zeit, als die Babylonier den Staat Juda unterwarfen und die Oberschicht ins Exil führten. Eine Person, die dabei ihre Kritik am Versagen der eigenen Gesellschaft mit Verfolgung, Gefangenschaft und Folter, zuletzt mit Exil in Ägypten büßen musste. Ja, da gäbe es durchaus etwas zu erzählen, Historisches und Poetisches. Und ich könnte die Predigtzeit schon vollkriegen mit einer distanzierten Betrachtung: So also war das damals …
Aber dann würde ich mich, würde ich Sie in Ruhe lassen. Dann würde ich unsere Schutz­mau­ern nicht durchbrochen, hinter denen wir uns als Zuschauer verschanzen. Denn wenn es um re­ligiöse Leidenschaften und Leidenschaftlichkeiten geht wie in unserem Text, dann ziehen wir uns zurück, dann sind wir froh um unseren kühlen Blick und unser vernünftiges Urteil.
Religion - ja. Aber eben doch am besten als Privatsache. Alles andere ist uns eher zuwider. Kämp­ferische Reden oder gar Protestaktionen? Dieses Feld haben wir nach und nach den Ra­­dikalen überlassen. Nicht, dass sie verfolgt werden. Da sei die Religionsfreiheit vor. Aber im Grund berührt es uns peinlich: Flaggen verbrennen wegen Mohammed-Kari­katuren? Ro­sen­kranzbeten gegen Abtreibung? Fernsehpredigten gegen Sex vor der Ehe?
Nein, wir machen uns nicht zum Gelächter der Leute. Gut, wir riskieren manchmal, dass un­se­re Gesprächspartner stocken, wenn wir uns outen mit sonntäglichem Gottes­dienst­besuch oder mit ehrenamtlichem Engagement in der Kirche. Aber wir werden darüber nicht zum Spott … täglich, so dass. uns jedermann verlacht.
Und ich frage mich: Was, wenn es so wäre? Was, wenn es etwas kosten würde, Christin zu sein? Würde ich aushalten, was dieser Prophet aus alter Zeit ausgehalten hat? Was, wenn ich hören müsste, wie viele heimlich reden: »Schrec­ken ist um und um!« »Verklagt sie!« »Wir wollen sie verklagen!« Was, wenn ich erleben müsste, dass alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt sie sich überlisten, dass wir ihr bei­kom­men können und uns an ihr rächen
Aber natürlich kann mir das nicht passieren. Ich schreie ja auch nicht, sooft ich rede, ich rufe nicht »Frevel und Gewalt!«. Ich sitze vor dem Fernseher in meinem warmen Zimmer und rege mich heimlich auf.
Was für ein Frevel, mit China gute Geschäfte zu machen. Menschenrechte und Umwelt­bewa­hrung verschachert gegen eine fortschreitende Außenhandelsbilanz!
Was für eine Gewalt, die Steuerlast nur auf wenige Schultern zu verteilen!
Was für ein Frevel, den Gläubigern Griechenlands Unsummen über Unsummen zu be­wil­li­gen, anstatt Investitionen für Arbeitsplätze zu subventionieren!
Was für eine Gewalt, die nächsten Generationen in ein ungesichertes Alter zu entlassen!
Und wenn ich eine Freundin von Talkshows wäre, könnte ich meine eigene Hilflosigkeit auch noch Abend für Abend gespiegelt bekommen: nutzloses Gerede.
Wer schreit denn bei uns? Wer ruft öffentlich »Frevel und Gewalt!«?
Ist vielleicht unser Gott nicht mehr stark genug? Hat er es aufgegeben Propheten und Pro­phe­tinnen zu berufen? HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark ge­wesen und hast gewonnen … Kann ER heute nicht mehr gewinnen? ER verliert doch auf der ganzen Linie. Nicht nur viele Kirchenmit­glie­der täglich. ER verliert an Stärke. Wem ist er denn noch glaubwürdig, glaubens-würdig? Was ist mit der "Herr­lichkeit des Herrn"? Kavod heißt das im Hebräischen: Gewicht. Ach, federleicht ist er uns ge­worden. Keine Verpflichtung mehr und keine Belastung. In die Beliebigkeit unserer Ant­worten gelegt, ob es ihn denn überhaupt gebe und wenn ja, ob er nicht besser ganz anders sein sollte.
Dieser Prophet da, der ist wohl eher zu beneiden als zu bedauern. Strotzt er nicht geradezu von Gottesgewissheit. Er hat sich überreden lassen, er ist sich Gottes Worts sicher. Er kann sich nicht abwenden von seinem Auftrag, denn schon beim Versuch ward es in sei­nem Herzen wie ein brennendes Feuer, in seinen Gebeinen verschlossen, dass er's nicht er­tragen konnte; er wäre schier vergangen.
Ein brennendes Feuer in meinem Herzen. Ach wenn man nur einmal Gott wirklich so erleben könnte! Die Mystiker haben davon gedichtet. Die Musik lässt es einen manchmal ahnen. In den schönsten Augenblicken der Liebe und der Freundschaft meint man etwas davon zu spü­ren. Aber das ist ja ein Hauch nur von dem, was der Prophet erlebt hat. Ein Hauch, vielleicht nur der Nebel einer Illusion.
Oder nimmt dieser Jeremia oder sein Schreiber einfach nur den Mund zu voll. Sein Schreien und Rufen war schließlich gänzlich umsonst gewesen. Und ob er im Exil in Ägypten immer noch glaubensgewiss gewesen ist? Oder gar so ein lästiger Besserwisser, der nach der staatlichen Katastrophe den Überlegenen gab, weil er ja davor gewarnt hatte?
Aber darf man deswegen schweigen? Darf man sich darauf verlassen, dass die Steine reden werden?
Unsere Verzagtheit ist es, dass wir zwar gerne schreien und rufen würden, wo wir Frevel und Gewalt sehen, dass wir uns aber immer wieder zurückziehen, wenn man uns vorwirft, wir wüssten ja selbst keinen konkreten Ausweg. Alternativlos. So heißt das Totschlagargument ge­gen jeden Einwand. Alternativlos. Und so lassen wir uns treiben von einem un­durch­dring­li­chen politischen Teufelskreis in den nächsten.
Und Gott? Sieht er diesem Treiben tatenlos zu? 

Vielleicht macht mir der Text deshalb so viele Probleme, weil ich den Optimis­mus seiner Ver­fas­ser nicht mehr vorbehaltlos teilen kann. Sie erzählen ihre Gotteserfahrung als Ge­schichts­er­fahrung. In der Geschichte sehen sie einen langen Arm Gottes, der das moralvergessene Volk durch die Schrecknisse von Eroberung und Knechtschaft zur Einsicht kommen lässt, um sie danach wieder mit Frieden und Freiheit zu beschenken.
Diese Perspektive ist uns verloren gegangen. Und das ist gut so, meine ich. Sie setzt näm­lich eine Trennung der Welt in Freunde und Feinde, in Kinder Gottes und Frevler, in Blind­wü­ti­ge und Erleuchtete voraus, in Errettete und Verstockte. Wie soll ich mich freuen über die Befreiung des Gottesvolks aus der Knechtschaft ohne der weinenden ägyptischen Mütter zu gedenken, deren erstes Kind getötet wird? Wie kann ich mit Mirjam über den Durchzug durchs rote Meer jubeln ohne der ägyptischen Soldaten und ihrer Familien zu gedenken, die in den Fluten ertrunken sind? 
Nein, ich kann nicht mit Jeremia ausrufen: Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, da­rum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt. Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden. Nein, um diesen Preis will ich mir Zuversicht und Trost nicht erschleichen. Offensichtlich ist es gar nicht nur Verzagtheit und Kleingläubigkeit, wenn wir nicht so laut rufen und schreien wie der Prophet. Wenn wir nicht immer so genau wissen, wo unsere Feinde sitzen. Of­fen­sicht­lich haben wir Recht, wenn wir in der Entschiedenheit religiöser Fundamentalisten nichts, aber auch gar nichts Vorbildliches entdecken können. Nicht bei islamistischen Ter­ro­ris­ten. Und nicht bei orthodox-jüdischen Siedlern. Und auch nicht bei gnadenlosen Moral­apos­teln.
Vielleicht ist die Schwäche, für die wir uns angesichts des prophetischen Sendungs­bewusst­seins eines Jeremia schämen, richtig. 

HERR, … du bist mir zu stark ge­wesen und hast gewonnen …

Vielleicht müssen wir diesen Satz ja umdrehen.

GOTT, … du bist schwach und wirst gewinnen. 

Nicht ohne Grund habe ich dem Propheten Jeremia in der Lesung Paulus an die Seite ge­stellt. Auch er musste wie dieser viel erdulden. Auch er hat Gott in seinen Gebeinen wie Feu­er zu spüren bekommen. Den Korinthern gegenüber deutet er überwältigende Offenba­run­gen an, aber dazu einen "Stachel ins Fleisch", der ihn so quälte, dass er auch schier ver­gan­gen wäre. Auch er hat geschrien und gerufen in seinen Gemeinden, manchmal vielleicht radikaler und fundamentalistischer als es uns aus unserer heutigen aufgeklärten Sichtweise lieb ist. Aber der Erfolg blieb oft aus. Und zufrieden war er nicht mit sich. Er meinte, er sei rhetorisch nicht perfekt genug.
Wie aber stellte er sich den Sieg über seine Feinde vor?
Er stand in einer jüdischen Tradition, die aus der Realgeschichte gelernt hatte. Auch nach der Rückführung aus dem Exil, auch nach dem Wiederaufbau des Tempels und dem Wieder­aufleben der Stadt Jerusalem war die Geschichte nicht an ihr Ziel gekommen. Weiter wurden die Gebote übertreten, weiter ging es den gerecht Handelnden nicht besser als den Sün­dern, weiter zeigte Gott seine Herrlichkeit nicht in einem starken Davidsstaat. War diese Hoff­nung vielleicht nichts weiter als eine Projektion gewesen? Ein starker Gott als Held über seine Feinde - so wie man selbst lieber eine Siegermacht gewesen wäre?
Lange vor Paulus schon waren im Judentum neue Gedanken aufgekommen: Wie, wenn Gott in der Geschichte ganz anders anwesend sein wollte? Ein Anwesensein in Verborgenheit. Ein Anwesensein als Widerspruch zum Bestehenden. Nicht als Kriegsheld, sondern als Friedefürst, nicht in Vollkommenheit, sondern in Schwachheit, nicht in Bestätigung des immer schon Gültigen, sondern in Verheißung des ganz Neuen: Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr's denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde. (Jes 43,19)
Das letzte Buch der christlichen Bibel wird später diesen Satz aus Jesaja aufgreifen: Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! (Offb 21,5)
Der auf dem Thron sitzt, das ist Christus, Herr der Welt. Und er sitzt da als Lamm. Das war es, was auch Paulus zum Evangelium wurde: Denn wenn er auch gekreuzigt worden ist in Schwachheit, so lebt er doch in der Kraft Gottes. Und wenn wir auch schwach sind in ihm, so werden wir uns doch mit ihm lebendig erweisen an euch in der Kraft Gottes. (2. Kor. 13,4) 

Vielleicht sind jetzt einige von Ihnen schon unruhig geworden und fragen sich, nein mich: Aha, jetzt kommt sie mit dem Jenseits, dem Eiapoppeia vom Himmel, wie Heine das nannte. Die Kraft Gottes am Ende aller Tage. Und wir sitzen weiter hilflos vor dem Fernseher. Wir lassen uns weiter einreden, die Entscheidungen der Regierungen seien alternativlos. Wir finden uns ab damit, dass wir nicht zum Schreien und Rufen taugen.
Aber bitte hören Sie noch einmal genau auf den zitierten Vers: Und wenn wir auch schwach sind in ihm, so werden wir uns doch mit ihm lebendig erweisen an euch in der Kraft Gottes. Da geht es nicht ums Himmelreich. Da geht es wie bei Jeremia um die realen Konflikte, diesmal nicht in Jerusalem, sondern in Korinth. Lebendig wird sich - so hofft der Apostel - Gottes Kraft in ihm erweisen an den Menschen, die dort leben.
Paulus wartet nicht auf das Ende der Tage, aber er erwartet es. Da ist er sich ganz sicher: 42Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. 43Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Armseligkeit und wird auferstehen in Kraft. (1. Kor.15)
Aus dem Vorschein solcher erhofften Verwandlung nimmt er die Kraft, wider alle Hoff­nungs­lo­sigkeit, wider alle Schwachheit, wider alle instrumentalisierte Vernunft, wider Versagen und Misserfolg sich lebendig zu erweisen an dem Ort, an den er in Verantwortung gestellt ist.
In diesem Spannungsbogen müssen auch wir leben: Widerspruch zum Bestehenden, wo es dem Menschen seine geschöpfliche Würde versagt, Verzicht auf fertige Lösungen, die andere zu Feinden machen, und Hoffnung, dass der uns so oft verborgene Gott einmal vollenden wird, was noch Fragment bleibt. 

AMEN


Dr. Gudrun Kuhn, Nürnberg, Februar 2013