Und er trug selbst das Kreuz

Predigt über Johannes 19, 16-18 über Gottes Toleranz von Albrecht Thiel

Wenn wir genau hinsehen, beginnt für uns Christen die Toleranz da, wo Jesus Christus sein Kreuz getragen hat. Wo er den Weg in die Anfeindung ausgehalten hat. Wo gerade nicht in Gottes Namen die große Strafe über all die Beteiligten niedergegangen ist ...

Liebe Gemeinde,

das war ja erst ein paar Tage her – da war Jesus in Jerusalem eingezogen. Als ein König, der nicht auf stolzen Rossen, sondern auf einem Esel daherkam. Als ein Mächtiger, der nicht über Leichen ging, sondern über Palmzweige, die die Leute ihm auf den Weg warfen. Und mächtig war er nicht durch äußere Gewalt, sondern durch die Kraft seines Wortes. Hosianna! hatten die Leute begeistert gerufen. Was erst einmal eine Bitte war und so viel hieß wie „Gott, hilf doch!“. Aber als sie den König der Armen da einziehen sahen, da waren sie felsenfest davon überzeugt, dass dieses „Hosianna“ bedeutete: „Ja, Gott hilft ganz gewiss!“

Was war seitdem schief gegangen? Nach unseren Vorstellungen alles. Vom strahlenden Einzug zur Verurteilung zum Tode – nach unserer Denkweise eine Katastrophe. Weil wir immer noch das schöne Bild von Jesus mit uns herumtragen, der wie ein großer charismatischer Wundermann alles heil macht und die Herzen der Menschen verwandelt. Ein bisschen hatte das was vom Mai 1968 in Paris, als die Studenten demonstrierten, die Phantasie solle an die Macht kommen. Die versteinerten Verhältnisse wollten sie zum Tanzen zwingen[1]. Das wäre dann der Jesus, der nicht beim Stadttor von Jerusalem stehenbleibt, sondern fröhlich weiterzieht, Pontius Pilatus umarmt – bis der freiwillig seinen Stuhl räumt.

Aber das, liebe Gemeinde, mag unser Bild gewesen sein. Schön, aber ein bisschen einfältig. Im Johannes-Evangelium steht dagegen nach der Einzugs-Geschichte der deutliche Satz: Vor dem Passafest erkannte Jesus, dass seine Stunde gekommen war[2]. Er war ja bis dahin nicht blind durch die Welt gestolpert, ihm war klar, dass die Vertreter der öffentlichen Ordnung ihn weghaben wollten. Und wenn er heilte und Wunder tat, dann war das nicht nur ein bisschen Heilmachen, es war gleichsam ein Aufleuchten von Gottes neuem Reich. Das sollte in Gottes Namen kommen. Aber eben genau so: Jesus zog nicht im Namen von allerlei Menschen ein, sondern es hieß: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn.

Und diesen Weg Gottes geht er weiter – in unbedingtem Vertrauen zu dem Gott des Lebens. Alles, was bis dahin geschehen ist, ist nur ein Vorspiel zu dieser entscheidenden Stunde. Da kommt dann alles zusammen: Die Auslieferung durch Judas, den Mann aus seinem engsten Freundeskreis. Die Gefangennahme, das Verhör vor dem Hohen Rat – und schließlich, als eine Art dunkler Höhepunkt, das Verhör durch Pilatus. Der Römer hat so gar kein Verständnis für das, was die Juden da in ihrem Glauben an Gott bewegt. Zeuge der Wahrheit will dieser Jesus sein! Was soll das nun wieder!!! Eigentlich findet er nichts an ihm, was ihn in den Augen der Römer schuldig macht – aber wenn die Leute so nach Blut schreien, dann wirft er ihnen diesen Jesus hin. Pilatus übergibt Jesus – das heißt nichts anderes, als dass er das Todesurteil ausspricht. Abgehakt, ausgeliefert.  Er meint, er sei Jesus damit los. So wie sie das alle in dieser Geschichte meinen: Die Ratsherren, Judas, Petrus, die römischen Soldaten (und wir meinen das meist auch): Der ist weg, erledigt, die Sache ist vom Tisch. Und dann heißt es bei Johannes in einer kaum zu überbietenden Knappheit:

16 Da nahmen sie Jesus;

17 Und er trug selbst das Kreuz – so ging er hinaus zu dem „Schädelstätte“ genannten Ort, auf hebräisch Golgota.

18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere auf beiden Seiten, Jesus in der Mitte.

Pilatus übergibt Jesus. Das ist genau so gemeint: Er reicht ihn weiter. Der oberste Chef befiehlt und die Untergebenen nehmen den Auftrag an. So geht es zu in der Welt: Eine Hand reicht es der anderen zu. Oder wie wir sagen: Eine Hand wäscht die andere. Aber hier, wo sich keiner die Hände schmutzig machen will, machen sie sich in Wahrheit alle schmutzig. Johannes spitzt das in seinem Bericht derart zu, dass die einzelnen Wörter die ganze Bedeutung tragen: sie nahmen ihn – er trug das Kreuz – er ging hinaus.

Sie nahmen ihn. Wir hören das schon ganz richtig: Da steckt kein bisschen Respekt, kein bisschen Achtung vor der Menschenwürde mit drin. So wird ein Gegenstand behandelt. ein störendes Element. Der hatte ja nun sein Urteil. „Die Kreuzigung war die übliche römische Hinrichtungsart an Sklaven und in den Provinzen vor allem auch an Aufständischen.“[3] Das sollte abschrecken. Und wenn ihn die Leute so sahen, wie er das Kreuz trug, dann sollten sie genau das denken: Der trägt den Tod. Der, der so viel vom Gott des Lebens erzählt hat, er ist jetzt vom Tod gezeichnet.

Und so geht er zur Stadt hinaus. Das ist ja das genaue Gegenbild zu dem, was ein paar Tage vorher passiert ist. Dort der fröhliche Einzug auf dem Esel – und jetzt wird er selbst aus der Stadt herausgetrieben – wie ein Tier, das man opfert. Das war ja der uralte Brauch vom Versöhnungstag: Auf einen Schafbock wurden symbolisch die Sünden des ganzen Volkes gelegt, und in einer feierlichen Geste wurde dann dieser Bock – gleichsam so etwas wie das schwarze Schaf- aus der Stadt herausgetrieben. Damit war verdeutlicht: Dieses Tier trägt jetzt all die Sünden und Gewalttaten und es trägt sie hinaus in die Wüste. Damit ist all das, was das Zusammenleben so belastet, weg. Aber jetzt war es ein menschliches Schaf. Was für ein Kontrast: Der König von Israel[4], wie sie ihm zugejubelt hatten – und jetzt der Sündenbock, zu dem sie ihn gemacht hatten. Auf dem Weg nach Golgota. So nannte man den Hügel vor der Stadt, auf dem man die Verurteilten hinrichtete. Man nannte den Hügel deshalb so, weil die kahle Gestalt des Felsens an einen Schädel erinnerte.[5]

Da soll Jesus sein Ende finden. Zwischen zwei anderen namenlosen Verbrechern. Er, der den Namen Gottes groß gemacht hat durch Worte und Taten, er soll auch namenlos gemacht werden. Tod bedeutet auch Auslöschung.

Und mitten in dieser Bewegung zum Tode gibt es eine Gegenbewegung. Ganz knapp. In Worten fast nicht auszusprechen. Eher wie eine Welle unter der Oberfläche. Er trug das Kreuz. Da, wo sonst immer etwas mit ihm gemacht wird, wo über ihn wie eine Ware verfügt wird – da trägt er selbst das Kreuz. Und das, liebe Gemeinde,  was da festgehalten ist, diese ganz knappen Beschreibungen der Orte, die Andeutung des Weges, der Hinweis auf die zwei, die mitgekreuzigt wurden – das ist ja nicht, dass wir das historisch genau nachgehen können. Da hätte es ja wirklich ein bisschen ausführlicher beschrieben werden können. Aber in dieser Zuspitzung Er trug das Kreuz – soll das ja vor allem dazu dienen, dass unser Glaube sich darauf aufbaut. Das kann uns für unseren Glauben, für unser Leben helfen– diesen Weg zu betrachten[6].

Er trug das Kreuz. Wenn es eine Geste gibt, die deutlich macht, wie Jesus Gottes Willen in diese Welt hineinträgt, dann diese: Er trägt das wie einen schweren Baumstamm auf dem Rücken. Denn das, was zwar eigentlich Freude und Befreiung ist, Gottes gute Absicht mit uns Menschen, das wird ja doch, wenn es in unsere Menschenwelt hineingetragen wird, zu einer Leidensgeschichte. Wenn die Geschichte vom Palmsonntag, die Geschichte von Jesus auf dem Esel und dem jubelnden Volk, uns zeigt, wie es sein könnte, wenn Gott zu uns Menschen kommt – dann zeigt uns die Geschichte vom Kreuztragen, wie das dann in der Wirklichkeit unserer Menschenwelt aussieht, wenn Gott durch seinen Sohn in unsere Menschenwelt kommt. Wie kann Gott das zulassen? – so fragen wir dann, wenn es ganz hart auf hart kommt, wenn wir uns vorstellen, an besonders unerträglichen Punkten müsse Gott doch eingreifen. Aber wir sind doch freie Menschen, die Gott gerade mit solcher Freiheit erschaffen hat, mit der Möglichkeit, das Gute wie das Schlechte zu wählen. Und bei der Geschichte vom Kreuztragen bekommen wir es geradezu beispielhaft vorgeführt: Wir Menschen wählen wie so oft das Schlechte, wählen den Weg des Wegschaffens und Erledigens. So sind wir! Ja, wir alle – es sind ja nicht nur Pilatus und die Römer, nicht nur die Agenten der Macht, es sind auch die, die gestern noch gejubelt haben, es sind sogar die engsten Freunde Jesu. Wir könnten uns da nur zu gut mit einordnen bei all denen, die das so hinnehmen.

Was aber tut Gott durch seinen Sohn Jesus von Nazareth? Er geht seinen Weg mit aller Konsequenz zu Ende. Die Väter unserer Kirche haben von Gehorsam gesprochen[7] – das klingt für uns nach einer sturen Unterordnung wie beim Militär, wo man gehorchen muss. Jesus musste nicht gehorchen – er hat diesen Weg in einer geradezu königlichen Freiheit gewählt. Und „tragen“, das ist eine sehr aktive Tätigkeit. Johannes sagt nicht: Sie zwangen ihn zu tragen. Oder: Sie legten ihm das Kreuz auf die Schultern. Wo in der ganzen Geschichte in solchen Redewendungen des Anordnens und Ausführens die Rede ist, da ist hier der Gegenpunkt: Jesus trägt das Kreuz. Das ist etwas höchst Aktives. Etwas, mit dem er der Welt entgegentritt.

Tragen – in den lateinischen Bibelübersetzungen, die ja für das christliche Abendland prägend geworden ist, stand hier das lateinische Wort tollere. Das hat die Grundbedeutung aufrichten, in die Höhe richten. Dann ergäbe das nicht so sehr das Bild, wie der schwere Stamm des Kreuzes Jesus nahezu erdrückt. Es ist viel eher das Bild: Jesus trägt das Kreuz aktiv nach oben, hoch zu dem Hügel Golgatha. Trägt es hoch, wo es doch eigentlich in der Menschenmasse untergehen soll. Das hoch erhobene Kreuz verschweigt Tod und Gewalt nicht, es hebt viel eher das schreiende Unrecht der Gewalt in den Himmel. Jesus wird nicht abgefertigt, er trägt das Kreuz.

Es muss einer stark sein, wenn er das Kreuz auf sich nimmt. Ich will damit überhaupt nicht bestreiten, dass das mit Leiden und mit Schmerzen verbunden ist. Das ist kein Held oder Supermann, der auch mit den schwersten Gegnern fertig wird. Das ist Gottes Sohn, der in die Nacht hinein geht, von der auch er kein Ende absieht. So nah ist Jesus auf seinem Weg allen Leidenden und Gequälten, dass sie sich immer wieder in ihm wiedererkannt haben. Er ist der Gekreuzigte – das gehört zu ihm so unverwechselbar wie die Geburt in der Krippe. So ist er den Menschen nah, mit seinem Weg vom Stall zum Kreuz. Der Mensch Jesus von Nazareth. Und dennoch ist er mehr als nur der Bruder im Leiden. Er ist ja zugleich der Sohn Gottes, der das Kreuz auf sich nehmen will – und das auch tut. tollere steht dafür in den klassischen lateinischen Bibel-Ausgaben. Er nimmt es auf sich. Damit verwandt ist ein lateinisches Wort, das wir als Fremdwort kennen: tolerieren. Das heißt: aushalten, ertragen.

Liebe Gemeinde, wir reden in diesem Jahr in der evangelischen Kirche viel über Toleranz. Und meinen damit meist, dass wir auch andere Meinungen gelten lassen sollen. Weil Frieden nur im Miteinanderleben wachsen kann. Das ist richtig, ist aber oft nicht mehr als ein unverbindliches „Seid nett zueinander!“ Wenn wir genau hinsehen, beginnt für uns Christen die Toleranz da, wo Jesus Christus sein Kreuz getragen hat. Wo er den Weg in die Anfeindung ausgehalten hat. Wo gerade nicht in Gottes Namen die große Strafe über all die Beteiligten niedergegangen ist – von Pontius Pilatus über all die Mitläufer und Mitschweiger bis zu denen, die vor ein paar Tagen noch „Hosianna“ gerufen haben und dann „Kreuzige ihn!“ Gott hält diese Welt in ihrer Gemeinheit und Sündhaftigkeit aus. Er verdammt all die Menschen nicht. ER stellt ihr den Gekreuzigten gegenüber. O Welt, sieh hier dein Leben / am Stamm des Kreuzes schweben, / dein Heil sinkt in den Tod. – so hat Paul Gerhardt es im Lied ausgedrückt[8]. Im Kreuz steckt tatsächlich das Leben. Nicht bei denen, die unter dem Kreuz weitermachen und überleben. Sie haben versagt und in gewisser Weise könnten wir uns gut zu ihnen stellen. Der Gekreuzigte lebt uns in Gottes Namen vor, wie Gott diese Menschenwelt aushält. Das ist Gottes Toleranz am Kreuz.

Wenn das denn Gottes Weg ist, der Weg nicht des erfolgreichen und strahlenden Siegers, sondern der des Tragens und Ertragens – dann bringt uns das auch auf eine andere Bahn. Unser kleines Kreuz zu tragen, in nichts seinem Kreuz vergleichbar. Aber doch als Ziel zu erfassen, dass es nicht darauf ankommt, der Größte zu sein. Vielmehr in Demut wie in Klarheit zu erkennen: Sein Kreuz „…lehrt uns, uns allein auf Gott zu verlassen, und so kommt es, daß wir nicht unterdrückt werden und nicht unterliegen. Dem Siege aber folgt die Hoffnung; denn der Herr hat doch dadurch, daß er seine Verheißung erfüllte, auch für die Zukunft seine Wahrheit bestätigt.“[9] – so fasst Johannes Calvin unsere lebendige Hoffnung, die im Kreuz liegt, zusammen. Amen.



[1] „…man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" - Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW 1, S. 381, 1844

[2] Joh 13,1

[3] Wengst, Joh.-Komm., S.268

[4] Joh 12,13

[5] Name des Ortes: „…dass eine kahle Felsbildung an einen Schädel erinnerte.“ (Dalman, Orte und Wege Jesu, 1924³, 365)

[6] „…non modo ad historiae certitudinem, sed fidei quoque nostrae aedificationem plurimum valent.“ Calvin, In ev. Ioh., 258, 12-14.

[7] Calvin (III,8,2): Zudem hatte unser Herr nur insofern nötig, das Kreuz auf sich zu nehmen, als es galt, dem Vater seinen Gehorsam zu bezeugen und zu beweisen.

[8] EG 84

[9] Inst. III,8,3: „Das Kreuz stürzt nämlich unseren Wahn um, in dem wir uns der eigenen Kraft fälschlich vermessen haben, es macht unsere Heuchelei, die uns so viel Genuss bereitet, offenbar, es schlägt unser gefährliches Vertrauen auf unser Fleisch zu Boden; hat es uns aber solchermaßen gedemütigt, so lehrt es uns, uns allein auf Gott zu verlassen, und so kommt es, daß wir nicht unterdrückt werden und nicht unterliegen. Dem Siege aber folgt die Hoffnung; denn der Herr hat doch dadurch, daß er seine Verheißung erfüllte, auch für die Zukunft seine Wahrheit bestätigt.“

 


Albrecht Thiel (Karfreitag 29.3.2013)