450 Jahre Heidelberger Katechismus. Warum ich nicht mitfeiere

Von Tilman Hachfeld

Den Heidelberger Katechismus, ein Bekenntnis aus dem 16. Jahrhundert, sollten wir im 21. Jahrhundert nicht überstrapazieren, warnt Tilman Hachfeld. Bekennen sei ein offener Prozess, schreibt der ehemalige Moderator des Reformierten Moderamens der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO). Den Dialog zwischen der Schrift und denen, die sie studieren in ihrer je eigenen Zeit, nicht offen zu führen, öffne dem Fundamentalismus die Tür.

Tilman Hachfeld schreibt:

1980 habe ich für das Gemeindeblatt der Reformierten Kirche Hamburg einen Artikel „Mein zweitliebstes Buch“ über den Heidelberger Katechismus verfasst. Tendenz: Der Katechismus holt aus der menschlichen Situation ab, erklärt uns frei auch von uns selbst („ … Jesu Christi eigen...“) und entbindet von allen Versuchen, sich selber eine Seligkeit zu erwerben. Was andere dazu zu tun meinen, wird hier unter „Dank“ summiert. So aber vermittelt der Katechismus vor allem eine große Heilsgewissheit, die aus Glauben erwächst. Er war damit ein Trostbuch ersten Ranges – für seine Zeit.

Der Heidelberger Katechismus ist gleich geblieben, auch stimmen die damaligen Feststellungen zum größeren Teil. Verändert haben sich die Zeit und die Theologie und mit ihnen auch ich mich.
Der Katechismus ist ein Dokument des 16. Jahrhunderts, verfasst für seine, aber nicht für alle Zeit. Insbesondere die Frage nach der Heilsgewissheit ist heute gegenüber der Grundfrage nach Gott an sich, ob es ihn denn gibt oder er eine fromme Fiktion ist, in den Hintergrund getreten. Dass er nicht versucht, diese Grundfrage zu beantworten, macht den Katechismus sympathisch, denn die führt nur in den Bereich der Spekulation und weg vom praktischen Leben.
Darüber hinaus gilt, was Zwingli in etwa so ausdrückte: Dass jede von uns erkannte theologische Wahrheit so lange gilt, bis sie durch bessere Erkenntnis aus der Schrift (für Zwingli beide Testamente) widerlegt oder berichtigt wird.
Erkenntnis aus der Schrift ist ein lebendiger Prozess, ein Dialog zwischen der Schrift und denen, die sie studieren, und wird mitbestimmt von den jeweiligen Erfahrungen und Umständen der Zeit. Wo dieser Dialog nicht offen geführt wird, wird dem Fundamentalismus die Tür geöffnet, der aus der befreienden Botschaft der Bibel eine Zwangsjacke macht.
Mein heutiges Unwohlsein mit dem Heidelberger beginnt schon bei der schönen Frage 1, wobei ich die Tatsache, dass er hier meine zunehmende Glatze mit Gottes Willen in Zusammenhang bringt, gerne belächle – ernster wird es später in Fragen 26 und 27, wo noch einiges mehr dem Willen Gottes zugeschrieben wird, was der nicht verdient.
Mehr berührt mich jedoch die Rede vom Blut Jesu Christi und vom Bezahlen für meine Sünden, was dann ab Frage 37 vertieft wird. Ich habe lange gebraucht, um mich vom Gedanken eines Opfertodes Christi und blutigem Lösegeldes frei zu machen, den ich im Konfirmandenunterricht einst kritiklos aufgenommen hatte. Auch das Theologiestudium in den 60er Jahren hat daran nicht viel geändert, obwohl es mir Zweifel an der Historizität beigebracht, zugleich aber gelehrt hat, dass es auf die nicht ankommt, sondern auf den Glauben derer, die uns die ganze Geschichte vermittelt haben, insbesondere Paulus oder das, was die Theologiegeschichte und besonders die Reformation aus seinen Lehren destilliert hat.
Vor allem zwei Erfahrungen haben mich dieser Theologie entfremdet. Zum Einen sind mir in der Seelsorge immer wieder empfindsame Menschen begegnet, bei denen das ganz persönliche „Für dich um deiner Sünden willen“ der Marter und des blutigen Kreuzestodes Jesu Unwohlsein bis hin zu Depressionen auslöste.
Zum anderen habe ich durch eine neue, nicht von christlicher Dogmatik verstellte Sicht auf die hebräische Bibel einiges über den Gott Israels erfahren, der auch ohne Jesus Christus die Seinen zur Freiheit beruft und ihnen auch über Schuld und daraus resultierendem Untergang und vielfältigem Tod hinweg die Treue hält. Seine Propheten begegnen jeglichem Opferkult kritisch (Hosea 6,6; Amos 5,22; Mich 6,7f. u.ö.). Und seinen Erwählten, Abraham, bringt er auf drastische Weise vom Menschenopfer ab (1. Mose 22).
Wenn wir Jesus von Nazareth, den Christus, als Gottes eingeborenen Sohn erkennen, wie dann anders denn als Verkörperung dessen, der zuerst als sein Erstgeborener bezeichnet wurde: Sein Volk Israel (2. Mose 4,22. u.ö.). In Jesus verkörpert sich für uns Nichtisraeliten die Geschichte Gottes mit seinem Volk. In Jesu Leiden und Sterben widerspiegelt sich das Leiden und vielfältige Sterben des Volkes Israel unter den Völkern, in seiner Auferweckung Gottes unverbrüchliche Treue zu ihm. Das apostolische „Für mich“, das auch der Heidelberger Katechismus betont, nimmt mich mit hinein in diese größere Geschichte.
So sind mir Jesu Leiden und Sterben nicht Mittel zu meiner individuellen, sondern zu einer viel weiter reichenden Erlösung, an der ich Anteil haben kann und die mir Ansporn ist, jeglicher Diskriminierung Israels oder von Juden, dann aber auch von jedem anderen, entschieden entgegenzutreten und allenthalben für das Leben Partei zu ergreifen – als Annahme des von Gott auch mir immer wieder neu geschenkten Lebens.
Die scheinbare „Israelvergessenheit“, die wir aus heutiger Sicht dem Katechismus anrechnen könnten, ist vielleicht – angesichts von Luthers Haltung zum Israel seiner Zeit – eher ein Vorteil, lässt er doch offen, ob Gott nicht auch andere als die im Katechismus Angesprochenen erwählt.
Der Heidelberger ist kein Dokument der Aufklärung. Deshalb kann in ihm noch ein Widerspruch stehen, den erst der kritisch Aufgeklärte als solchen erkennt: In seinem genialen Entwurf, alle Reaktion auf die Erlösung erst anschließend unter „Dank“ abzuhandeln, lehnt er scheinbar alle Werkgerechtigkeit und jedes Müssen ab; in den Fragen 20 bis 22 jedoch wird vor die Erlösung eine große Bedingung gestellt: Wahrer Glaube. Definiert wird der als ein notwendiges Für-wahr-Halten all dessen, was Gott in seinem Wort offenbart, konkretisiert im Apostolischen Glaubensbekenntnis – inklusive Jungfrauengeburt, Auferstehung des Fleisches und biblisch nicht belegbarem Trinitätsdogma. Hier wird „Glaube“ zum einem intellektuellen Kraftakt und Werk(zeug), die Erlösung zu erlangen.
Als mit pietistischem Gedankengut Aufgewachsener weiß ich, wie belastend die Forderung nach wahrem Glauben sein kann – die der Katechismus so nicht aufstellt, denn er setzt diesen stillschweigend voraus. Aber in ihr kann schon gipfeln, was man nach Frage 2 als Erstes wissen muss, um  den einigen Trost im Leben und im Sterben zu haben: Wie groß meine Sünde und mein Elend sind. Wenn diese aber in meinem Nichtglauben bestehen, führt mich nach Fragen 20 bis 22 nichts daraus hinaus, sondern hier jagt die theologische Katze dem eigenen Schwanz hinterher und bleibt ohne Trost.
Dagegen lobe ich mir die Tugenden des Zweifelns und des Nichtwissens und die Freiheit eines Christenmenschen, letzte Wahrheiten über Gott, etwa seine Trinität oder sein Einzigsein, ihm selber überlassen zu können. Denn – Gott sei Dank! – muss ich nicht alles wissen, sondern kann es mir genügen, mich durch den Juden Jesus ohne weiteres Wie und Wenn von Gott in eine Geschichte mit ihm berufen und in ihm geborgen zu wissen.
Der Heidelberger Katechismus ist ein Zeugnis reformierten Bekennens im 16. Jahrhundert und als solches ein großer, verdienstvoller Schritt. Das sollen wir dankbar anerkennen. Aber darüber hinaus sollten wir ihn nicht strapazieren, damit er nicht zum Fallstrick für das Bekennen im 21. Jahrhundert wird, über den wir in einen unseligen Fundamentalismus stolpern. 

www.tilman-hachfeld.de

Pfarrer i.R. Tilman Hachfeld war bis 2007 Moderator des Reformierten Moderamens der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO).


Tilman Hachfeld, November 2013