Vom Predigen - ''Wie hören wir? Ein jeder in seiner Sprache!'' (nach Apg 2, 8)

von Paul Kluge

Die Botschaft des Evangeliums in die "Ortszeit der Gemeinde" zu übersetzen, ist das Anliegen des Predigers Paul Kluge. In Städten und Dörfern von Ostfriesland über Westfalen und Sachsen-Anhalt bis nach Kaliningrad hat der mittlerweile zwar pensionierte, aber immer noch rege Pfarrer bereits selbst gepredigt. Dabei lässt Kluge sich nicht beirren von einer EKD-Umfrage, laut der für die Gottesdienstbesucher wichtiger sei, "dass" gepredigt werde als "was". Auf reformiert-info gibt Paul Kluge einen Einblick in seine eigene Predigtwerkstatt.

Ein Kollege wies in einer Predigt darauf hin, dass zu Pfingsten nicht die Jünger in fremden Zungen redeten. Vielmehr hörten die fremdsprachigen Hörerinnen und Hörer das Gesagte in ihren Muttersprachen. Das aber ist nichts Ungewöhnliches; Begeisterung springt über. Doch nicht nur das: Hörerinnen und Hörer, auch Leserinnen und Leser verstehen jeden Text in ihrer Sprache. Dazu später mehr. 

Dem Humanismus der Renaissance galt Sprachgebrauch auf höchstem erreichbareт Niveau als grundlegendste und vornehmste Tätigkeit des Menschen. Zwischen der Qualität der sprachlichen Form und der Qualität des dadurch Mitgeteilten besteht ein notwendiger Zusammenhang. Ein in schlechtem Stil geschriebener oder gesprochener Text ist auch inhaltlich nicht ernst zu nehmen, und sein Autor gilt den Renaissance-Humanisten als „Barbar.“

Gar nicht selten bemerkte ich in meinen beruflichen Anfangsjahren, dass meine Formulierungen kompliziert zu werden drohten. Dann habe ich, was ich sagen wollte, erst einmal in plattdeutscher Sprache formuliert. In der Landessprache also, die auch meine Muttersprache ist. Dadurch entkomplizierten sich die Sätze fast von allein. Sprache ist laut gewordenes Denken, und dieses ist soziokulturell geprägt.

1. Das Evangelium überschreitet Grenzen von Raum und Zeit

Die Botschaft des Evangeliums richtet sich an „alle Völker“ und will dies „bis ans Ende der Zeit.“ So sagt es der Taufbefehl nach Mtth 28,20, so hat es zuvor schon Paulus praktiziert. Seit Paulus bemühen sich darum alle, die im Dienst des Evangeliums stehen oder unterwegs sind. Anders gesagt: Das Evangelium vom Christus Jesus hat einen weltumspannenden, einen globalen Anspruch. Es hat von Anbeginn Grenzen ignoriert und überschritten: Soziale Grenzen, politische Grenzen, kulturelle Grenzen. Darin liegt eine Frieden stiftende Möglichkeit des Evangeliums. So entstand ein weltweites Netz christlicher Gemeinden, zunächst in orbi imperii romani, heute rund um die Erde.

Dass das Evangelium Grenzen überschreitet, bedeutet nicht unbedingt, dass es sie aufhebt. Geschichte und Tradition, kulturelle Entwicklung und Alltagsverhalten, klimatische Bedingungen und Mentalität prägen die in ihnen lebenden Menschen. Deshalb wollte schon Paulus „den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche“ sein. Dies kann studieren, wer Übersetzungen der Bibel in verschiedene Sprachen vergleicht. Bibelübersetzung bedeutet ja immer auch, die Bibel und ihre Bilder in andere Kulturen zu übertragen, sie hinüber zu tragen.

Dies geschieht seit Paulus auch schriftlich. Die Botschaft vom Christus Jesus wurde und wird von Generation zu Generation weiter gegeben. Damit überspannt sie Vergangenheit und Gegenwart bis in die Zukunft. Eine zeitliche Begrenztheit des Evangeliums gibt es nicht, wohl aber zeitbedingte Begrenzungen seines Verständnisses. Dieses nämlich ist zeitgeschichtlich beeinflusst. Im Lebenslauf eines Menschen können biblische Texte an persönlicher Bedeutung gewinnen oder verlieren. Das gilt nicht anders für geschichtliche Epochen. Auch davon geben Bibelübersetzungen Kunde.

Die Autoren der biblischen Bücher gehen selbstverständlich von der soziokulturellen wie der klimatischen Umgebung aus, in der sie leben. Als — lange Zeit später - Herrnhuter Brüder anfingen, Inuit zu missionieren, stellten sie fest: Die gesamte in der Bibel vorkommende Flora und Fauna etwa war diesen Menschen unbekannt. Es wurde also nötig, die Botschaft der Bibel und ihre Bilder zielgruppengerecht zu übersetzen. Dann erst war verständliches Predigen zu jener Zeit an jenem Ort möglich.

2. Das Evangelium zur Ortszeit zu verkündigen, erfordert etwas Mühe

Vor einigen Jahrzehnten hat eine EKD-Umfrage ergeben: Wichtiger als was ist vielen Gottesdienstbesuchern, dass gepredigt wird. Predigt als liturgisches Element. Eine Folge vielleicht sich wiederholender Predigtaussagen. Eine Freundin fasste ihre Erfahrungen einmal mit den Worten zusammen: "Das einzig Spannende an Predigten ist die Reihenfolge der immer gleichen Sätze." Und eine alte Diakonisse gestand mir, sie habe die meisten Predigten beim "Amen" bereits vergessen. Solche Bekenntnisse können zu Bequemlichkeit anregen. Oder zu Anstrengung.

Die fängt mit genauem Lesen an. Dabei aber benutze ich eine Lesebrille, eine seelsorgerliche etwa, eine diakonische oder eine politische, eine konservative oder eine progressive oder sonst eine. Anders geht es nicht, doch jede Brille schränkt das Gesichtsfeld ein. Für welche Brille ich mich entscheide, hängt von Ort und Zeit der Predigt ab, von der aktuellen Situation meiner Zielgruppe – und ebenso von meiner eigenen Ortszeit.

Die Anstrengung der Vorbereitung beginnt mit dem Ausloten der grammatikalischen Möglichkeiten der Sätze. „Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind …“ – steht das „Kind“ im Nominativ oder im Akkusativ – und was bedeutet was?

Bei Benutzung einer Übersetzung geht die Anstrengung mit dem Überprüfen von Bedeutungswandeln zumindest wichtiger Begriffe weiter. „Trost“ zum Beispiel bedeutete zur Reformationszeit „Mut, Vertrauen, Zuversicht“ – was verbinden Menschen heute mit dem Begriff? Und welche Assoziationen weckt der Begriff in anderer Sprache? Ein kurzer Blick in die King-James-Bibel zeigt mehrere und unterschiedliche Begriffe, wo es bei Luther stets „Trost“ heißt (confidence, consolation, comfort).

Die Perikopenordnung der liturgischen Konferenz der EKD gilt nicht weltweit. Diese Perikopen sind oft sehr willkürlich aus dem Textzusammenhang genommen. Sonntagsproprium und kirchliche Tradition gelten offenbar mehr als der Text, wie die Autoren biblischer Bücher ihn geschrieben und also gewollt haben. Lk 13,31 etwa kommt einfach nicht vor: „In derselben Stunde kamen einige Pharisäer und sagten zu ihm: Geh hinaus und zieh fort, denn Herodes will dich töten.“ Das passt nicht ins allgemeine Bild vom Pharisäer. Doch wie Kontext und Querverweise helfen, den Inhalt zu verstehen, helfen solche Stellen, verbreitete Vorstellungen zu korrigieren.

Schon stellt sich eine weitere Frage: Sind in unserer Kultur verbreitete Vorstellungen, beispielsweise von Pharisäern, anderen Orts vorauszusetzen?

Mir sind zwei Fragen oft Schlüssel zu einem biblischen Text: 1. Welche allgemein menschliche Erfahrung steht hinter dem Text? Und 2.: Wo und wie lebten die Menschen, für die dieser Text geschrieben wurde?

Die erste Frage ist die schwierigere. Denn deren Beantwortung erfordert einiges an Kenntnis alles dessen, was Menschen möglich ist. Sie erfordert individual- und sozialpsychologische Kenntnisse. Und sie erfordert, sich durch die Oberfläche biblischer Geschichten zu wühlen, um die darunter verborgenen Schätze zu entdecken.

Für eine Antwort auf die Frage nach menschlichen Erfahrungen in einem biblischen Text ist es nützlich sich zu vergegenwärtigen, was damals anders war als heute: Kultur und Technik, Wissen und Verstehen, Beruf und Alltag, Sitte und Brauch, Denken und Verstehen. Vieles hat sich geändert, seit die Bibel geschrieben wurde, und die Menschen haben viel dazugelernt.

Nicht geändert aber haben sich die Menschen: Geburt, Kindheit und Jugend, Liebe und Familie, Alter, Krankheit und Tod sind damals wie heute Lebensthemen. Auch das Zusammenleben in Gemeinschaften wie Familie, Sippe und Volk litt damals unter ähnlichen Schwierigkeiten wie heute: Von Neid und Habgier reicht die Palette bis zu Mord und Totschlag. Biblische Geschichten, die davon erzählen, zeigen immer Wege, mit solchen Schwierigkeiten fertig zu werden, solche Krisen zu überwinden. Sie verschweigen nicht die dafür nötigen Mühen und warnen vor Irrwegen. Der Glaube ist kein Zaubermittel und "Herr Jesus" keine Zauberformel, mit denen sich alles Dunkle aus dem Leben wischen und in Licht verwandeln ließe.

Meine zweite Frage lautet: Wo und wie lebten die Menschen damals. Das lässt sich in Büchern nachlesen, in Filmen ansehen oder - am besten - durch Reisen in biblische Länder erfahren. Als ich bei meinem ersten Griechenlandurlaub Flachdachhäuser mit Außentreppe zum Dach sah, verstand ich sehr viel mehr von der Heilung des Gelähmten. Als Kind und Schüler hatte ich bei dieser Geschichte stets das spitzgieblige Haus meiner Eltern im Kopf.

Die Autoren der biblischen Texte waren „Kinder ihrer Zeit“ und schrieben für ihre Zeitgenossen. Und als Kinder des Mittelmeerraums schrieben sie für ihre Ortsgenossen. Um ihre Bücher zu verstehen, ihnen gerecht zu werden und sie in meinen Ort, in meine Zeit hinübertragen zu können, brauche ich diese Informationen. Die Geschichten gewinnen dadurch an handfester Lebendigkeit. Zugleich jedoch verlieren sie damit einiges vom geheimnisvollen Zauber der Unverständlichkeit.

3. Die Predigt des Evangeliums wird individuell gehört und verstanden

Habe ich diese Mühen der Vorbereitung hinter mich gebracht, kann ich die Predigt formulieren. Dabei bediene ich mich journalistischer Regeln: Hauptsatz – Nebensatz – Punkt. Und nicht mehr als zwölf bis vierzehn Wörter für Haupt- und Nebensatz zusammen. Denn meine Predigt soll nicht nur gehört, sie soll auch verstanden werden. Dafür ist mir ein geflügeltes Wort aus dem PR-Bereich wichtig: „Das Heu soll der Kuh schmecken, nicht dem Bauern.“ Allerdings: Kühe sind wählerisch.

Nach Friedemann Schulz von Thun enthält jeder Satz vier Aussagen: Eine sachliche Information, eine Selbstoffenbarung des Autors, eine Aussage über seine Beziehung zum Gegenüber und einen Appell. Dies bedeutet zugleich: Der Hörer, die Hörerin entscheidet ständig, durch welches „Hörrohr“ er oder sie hören will. Das gilt erst recht beim Lesen für die jeweilige „Lesebrille.“

Denn das geschriebene Wort ist noch vieldeutiger als das gesprochene. Bei der Rede kann ich z. B. durch Betonung noch ein wenig steuern. Meine Schreibe ist dem Leser, der Leserin ausgeliefert. Er oder sie betont und deutet damit den Satz nach seinem oder ihrem verstehen Wollen.

Assoziationen aus Alltagskultur und eigener Biographie, die ein Text weckt, beeinflussen Verstehen und Deuten. Auch das schwankende Maß an Aufmerksamkeit spielt eine beachtliche Rolle. Was eine Predigt bei Hörenden oder Lesenden auslöst und bewirkt, steht nicht in der Macht der Predigenden. Hörende und Lesende entscheiden selber, was sie verstehen und wie sie es deuten. Predigtnachgespräche geben davon Zeugnis. Diese Entscheidungen allerdings sind selten bewusst gesteuert. Sie fallen in nicht bewussten Bereichen, wenn Gehörtes oder Gelesenes sich mit erinnerten Empfindungen verbindet.

Fürs Predigen heißt das: Eine Predigt wird von ihren Hörerinnen und Hörern, Leserinnen und Lesern sehr unterschiedlich verstanden und gedeutet. Darin liegt eine Gefahr, aber erst recht eine Chance: Damit kann eine Predigt auf vielfältige Art und Weise in Alltagsverhalten umgesetzt werden.

4. Predigt übersetzt die Botschaft des Evangeliums in die Ortszeit der Gemeinde

Um das „Schma Jischrael“ zu übersetzen, lässt Lukas Jesus vom Barmherzigen Samariter erzählen. Er erzählt die Geschichte, fügt keine Erklärung an. Der Hörer, wir erfahren es, versteht die Geschichte auch ohne Erklärung. Es ist eine Geschichte, die ein Schriftgelehrter ebenso versteht wie ein ungebildeter Fischer. Hier wird Theologie, wird Dogmatik in mögliches Alltagsverhalten übersetzt.

Das habe ich mir abgeguckt und formuliere meine Predigten häufig in Form von Geschichten. Dabei verzichte ich auf Erklärungen. Eine Geschichte, die erklärt werden muss, ist nicht gut. Denn was ich nicht einfach ausdrücken kann, habe ich noch nicht ganz verstanden. Das Deuten solcher Geschichten erspare ich mir. Die Hörenden oder Lesenden stellen ohnehin ihre je eigene Beziehung zum Geschehen her.

Das wird mit einer Predigt dann gelingen, wenn Gehörtes oder Gelesenes sich mit erinnerten Empfindungen verknüpft. Dies geschieht leichter, wenn vor dem „inneren Auge“ der Hörenden oder Lesenden eigene Bilder aufsteigen. Dadurch wird die Predigt anschaulich (und nicht durch das Vorzeigen eines Gegenstandes). Dann kann und wird eine Predigt im Glauben stärken und des Heils vergewissern; dann kann und wird sie zur Umkehr rufen.

Predigt verstehe ich als Fähre, mit der ich von einem Ufer zu einem anderen über setze. Als Prediger, als Fährmann also bin ich dafür verantwortlich, dass die Fähre über setzt. Eine Fähre kann mal vom Kurs abkommen, den Anleger verpassen, gar den Hafen, sie kann auch havarieren. Solches kann und darf und wird vorkommen. Nur eines darf eine Fähre nicht: Am Ableger liegen bleiben. Sie muss über setzen.

Die Sprache der Predigt ist Ansprache in die Ortszeit. In der Ortszeit bringt die Predigt Probleme der Welt und ihrer Menschen zur Sprache und beleuchtet sie mit dem Licht des Evangeliums. Dabei richtet die Predigt sich zu bestimmter Zeit an konkrete Menschen an bestimmtem Ort. Die Predigt sowie ihre An- und Aufnahme sind an die Ortszeit gebunden.


Paul Kluge, Pfr. i.R., Leer, Oktober 2012