Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1492-1549)
Ludwig XII. versuchte mehrmals, Marguerite als Braut in Europa zu verhandeln, aber weder ihre Aussichten, noch ihr Vermögen waren ausreichend, um eine internationale Ehe einzugehen. Stattdessen heiratete sie 1509, gerade siebzehn Jahre alt, den Herzog von Alençon, von dem wenig bekannt ist. Die Forschung geht meistens davon aus, dass sie und ihr Gatte wenig Gemeinsames hatten, zumal der Herzog vor Allem ein Soldat war. Dafür hatte sie aber eine geliebte Schwiegermutter, Marguerite von Lorraine, die eine zutiefst fromme Frau war. Jahre später schrieb Marguerite über ihren Tod und ließ ihre Trauer darüber durchblicken.
Als Ludwig XII. befürchten musste, nicht selbst Söhne zeugen zu können – er hatte „nur“ zwei Töchter, Claude und Renée de France – holte er Franz d´Angoulême an seinem Hof und gab ihm seine Tochter Claude zur Ehe. 1515 verstarb er und Franz bestieg als Franz I. den Thron Frankreichs.
Für Marguerite änderte sich das Leben schlagartig. Sie kam zu ihrem Bruder an den Hof, und da die Königin Claude sehr zurückhaltend und scheu war, übernahm sie bald die repräsentativen Pflichten. Zusammen mit ihrer Mutter bildete sie mit Franz ein Trio, die sogenannte „Dreieinigkeit“. Franz konnte immer mit seiner Mutter und seiner Schwester rechnen, und sie unterstützten ihn nach Kräften.
Franz I. wurde der erste Renaissancekönig Frankreichs. Er war jung, viril und plötzlich auch reich. Er ließ bauen an der Loire, eroberte das Herzogtum Mailand, versuchte sich als Deutschrömischer Kaiser wählen zu lassen – das war eine extrem teure Angelegenheit – und verwickelte sich in Rivalitäten sowohl mit Heinrich VIII. von England als auch mit Kaiser Karl V.
Schon 1516 verhandelte er ein Konkordat mit dem Pabst in Bologna. Die französische Kirche hatte seit dem Mittelalter ihre gallikanische Freiheiten gegenüber dem Pabst verteidigt, und als Frankreich sich als Nationalstaat festigen konnte und mit Franz I. fast die Grenzen erreicht hatte, die noch heute gelten, gelang es auch Franz, eine römisch-katholische Nationalkirche zu vereinbaren. Vor allem durfte er wichtige Posten in der Kirche mit seinen Kandidaten besetzen, die dann vom Pabst anerkannt wurden. Damit war die französische Kirche ihrem König treu ergeben, nicht desto weniger war sie streng katholisch, besonders die Fakultät der Theologie der Universität von Paris (oft abgekürzt Sorbonne genannt) wachte über die reine katholische Lehre. In den Jahren 1515 bis 1534 war Franz theologisch eher liberal und pfiff die eifrigen Theologen zurück, nach 1534 machte er mit ihnen gemeinsame Sache.
In Frankreich bildeten sich Kreise von Reformkatholiken und Humanisten, die der etwas verkrusteten katholischen Theologie kritisch gegenüberstanden. Sie forderten die Bibel in der Muttersprache und in den Händen von Laien. Sie kritisierten Heiligenkult und Reliquienverehrung, und versuchten eine Erweckung der Gläubigen im Sinne vom reformatorischen „sola fide, sola scriptura“ (= durch den Glauben allein und durch die Heilige Schrift allein) herbeizuführen. Der leitende Humanist war der alte Lefèvre d´Etaples (Faber Stapulensis), der nach Jahren als Herausgeber klassischer antiker Schriften endlich bereit war, die Heilige Schrift zu übersetzen. Er wurde unterstützt von Guillaume Briçonnet, Bischof von Metz. Dieser führte Reformen in seiner Diözese durch, legte die Bibelübersetzung des Lefèvre in den Kirchen aus, verjagte die Franziskaner, die sonst fast Predigtmonopol besaßen, und ließ durch seine eigene Leute „reformatorisch“ predigen. Unter ihnen waren Gérard Roussel, der später Hofkaplan bei Marguerite wurde, Guillaume Farel, der später in Genf als Reformator zusammen mit Calvin wirkte, und Simon Robert, der die frühere Nonne Marie Dentière heiratete und auch in die Schweiz zog.
Als katholischer Bischof wollte Briçonnet nicht die katholische Kirche umstürzen oder dem Pabst die Treue kündigen, er wollte dagegen die Kirche von innen erneuern. Er gehörte dem Reformkatholizismus an, der in Frankreich oft als „évangelisme“ bezeichnet wird, mit dem deutschen Wortbrauch „evangelisch“ aber wenig zu tun hat. Die Humanisten wie Erasmus von Rotterdam oder Lefèvre d´Etaples wollten zu den Quellen zurück, sie wollten die Bibel allen zugänglich machen, sie hatten von Paulus gelernt, dass Rechtfertigung durch den Glauben geschieht, aber er sah das alles nicht als Grund, die Einheit der Kirche auf Spiel zu setzen. Diese Männer prägten Marguerite.
An Bischof Briçonnet wandte sich Marguerite mit der Bitte um geistigen Beistand. Ein Briefwechsel folgte, der sich (nachweislich) über die Jahre 1521 bis 1524 erstreckte. Der Bischof schrieb lange Homilien, und Marguerite bat ihn ständig um mehr „seelische Nahrung“. Sie verwendete vermutlich seine schriftlichen „Predigten“ als Grundlage für Andachten mit ihren Hofdamen. Abschriften ließ sie in ihrem Freundes- und Verwandtenkreis verteilen .
Briçonnet legte ihr die Bibellektüre ans Herz, mit besonderer Wertschätzung der Paulinischen Briefe. Nebenbei sei bemerkt, dass sowohl Luther als auch Calvin in jungen Jahren den Römerbrief auslegten, denn wer Erneuerung für die Kirche erhoffte, kam um Paulus nicht herum. Das Besondere bei Briçonnet war allerdings sein Hang zur Innerlichkeit, die Liebe zwischen Christus und der Seele, die Aufgabe des Selbst und das Hinschmelzen in Christus. Gute Werke, der Verdienst der Heiligen, Fasten und Pilgern kamen bei ihm dagegen nicht vor.
Für Marguerite bedeutete diese religiöse Erneuerung, dass sie anfing, geistliche Gedichte zu schreiben, ihre poetische Ader wurde freigelegt. Das erste Gedicht handelt von einer nächtlichen Vision. Ihre Nichte – die Tochter ihres Bruders – starb 1524 mit acht Jahren, und Marguerite fragt die reine Seele, was sie glauben soll. Der Antwort ist klar, sie soll Christus allein lieben und glauben. Briçonnet hätte es nicht besser ausdrucken können.
In diesen Jahren wurden Luthers Schriften in Frankreich verbreitet und wir wissen mit Sicherheit, dass Marguerite seine Schriften kannte. Die theologische Fakultät der Universität von Paris leistete Widerstand gegen die lutherische Ketzerei und das bekam Bischof Briçonnet zu spüren. In seinen Briefen an Marguerite bat er sie wiederholt um Unterstützung und besonders darum, dass sie ihren Bruder und ihre Mutter für seine Reformen gewinnen möge. Marguerite hatte zwar großen Einfluss auf ihren Bruder, aber trotzdem musste Briçonnet alle seine Reformvorhaben aufgeben. Die Gruppe um ihn flüchtete nach Straßburg, während er selbst widerrufen musste. Er starb kurze Zeit später.
1524 starb Königin Claude, und Marguerite wurde mit der Aufsicht der königlichen Kinder betraut. Aus ihrem Briefwechsel wissen wir, wie sehr diese Kinder ihr ans Herz wuchsen. Ihre Ehe blieb kinderlos – ihre Trauer darüber vernimmt man in den Briefen an Briçonnet – und jetzt konnte sie ihre mütterlichen Gefühle den Kindern ihres geliebten Bruders zu Gute kommen lassen.
1525 verlor Franz I. die Schlacht bei Pavia in Norditalien. Seit vielen Jahren, schon in der Regierungszeit Karl VIII. hatte Frankreich mit den italienischen Stadtstaaten Krieg geführt. Jetzt stießen in Italien die habsburgischen und die französischen Truppen zusammen. Die Blüte des französischen Adels wurde an einem Tag vernichtet, und Franz selbst wurde gefangengenommen. Der Herzog von Alençon flüchtete vom Schlachtfeld und starb wenige Monate später, von seiner Gattin liebevoll gepflegt.
Jetzt schlug die Stunde für Marguerite. Mit ihrer Mutter hatte sie in Lyon den Ausgang des Krieges abgewartet, und nach dem Tod ihres Gatten ließ sie ihre Mutter als Regentin Frankreichs zurück, sie selbst segelte und ritt zu ihrem Bruder, der schwer krank in Madrid im Gefängnis lag. Sie pflegte ihn wieder gesund und versuchte mit dem unerbittlichen Kaiser Karl V. zu verhandeln. Sowohl sie als auch Franz dachten, dass der ritterliche Ehrencodex seine Befreiung möglich machen würde, Karl war aber auf handfeste Vorteile aus. Am Ende versprach Franz alles, um freizukommen, fuhr nach Hause, gab seine Söhne quasi als Unterpfand dem Kaiser und musste eine Riesensumme als Lösegeld aufbringen.
Als Regentin hatte die streng katholische Louise von Savoyen die französische Kirche in ihrem Kampf gegen die „Ketzer“ unterstützt, deshalb war auch keine Hilfe für Briçonnet und seine Leute zu erwarten. Nach der Rückkehr Franzens war er noch abhängiger als zuvor von der Kirche, nur sie konnte ihm mit dem Geld, das er dem Kaiser schuldete, versorgen. Anders als die deutsche Fürsten, die sich sehr wohl handfeste Vorteile von der Reformation in ihren Ländern erhoffen konnten, hatte der französische König schon eine (katholische) Nationalkirche, die ihn kräftig unterstützte, natürlich in der Annahme, dass er keine „Ketzer“ dulden würde.
Marguerite war eine noch junge Witwe, und ihr zweiter Gatte war ein junger, strahlender Held: Henri d´Albret, König von Navarra. Er hatte sich in der Schlacht von Pavia tapfer geschlagen, war gefangen genommen worden, hatte sich aber in einer „Mantel und Degen Aktion“ buchstäblich erfolgreich abgeseilt. Er war zudem ein Frauenheld und 12 Jahre jünger als Marguerite. Sein Königreich war winzig: das Königreich Navarra war ursprünglich das, was wir heute das Baskenland nennen, ein Gebiet, das sich beidseitig über den Pyrenäen erstreckte, jedoch sein Schwerpunkt auf der Südseite der Bergkette mit Pamplona als Hauptstadt hatte. Die Albrets, als südfranzösische Großgrundbesitzer, waren durch Heirat an die Krone gekommen, nur um erleben zu müssen, dass Spanien 1512 der Gebiet um Pamplona eroberte. Damit schrumpfte das Königreich auf Basse-Navarre zusammen, der französische Teil des Baskenlandes. Da er auch Vicomte von Béarn war, eine unabhängige Grafschaft mit eigener Regierung und Generalständen, hatte er dennoch sein eigene Hausmacht. Er erwartete, sozusagen als Mitgift, dass Franz ihm helfen würde, ganz Navarra zurückzuerobern. Franz dagegen erwartete, dass er die Grenze gegen Spanien verteidigen würde und machte ihn zum Oberbefehlshaber in Guienne, eine Bezeichnung für Südwestfrankreich von den Pyrenäen bis Loire, vom Atlantik bis Auvergne.
Was Marguerite erwartete, wissen wir nicht. Ihre Ehe bedeutete für sie eine Zerreißprobe zwischen dem geliebten Bruder und dem Ehemann, und es war für sie nicht einfach, beiden gegenüber loyal zu sein.
Ihre Ehe bedeutete aber auch, dass sie endlich Mutter wurde. 1528 gebar sie ihre Tochter, Jeanne d´Albret, danach einen Sohn, der kurz nach dem Geburt starb, und dann – sie wurde ja nicht jünger – hatte sie eine Reihe von Fehlgeburten und Scheinschwangerschaften.
Als Königin mit eigenem Herrschaftsgebiet konnte sie jetzt Glaubensflüchtlingen Schutz bieten. Bei ihrem Bruder trat sie immer noch für Andersdenkende ein, sie konnte aber jetzt in Bourges luthersche Studenten und Dozenten an die Universität holen, sie brachte den alten Lefèvre d´Etaples bei ihrem Hof in Nérac unter, sie machte Gérard Roussel zum Bischof von Oloron, und sie stellte als Sekretäre bekannte humanistische Skribenten ein, unter ihnen Clément Marot, Dichter und Verfasser vom ersten gereimten französischen Psalter.
Anfänglich blieben sowohl sie wie ihr Gatte am Hofe. Sie verhandelte zusammen mit ihrer Mutter und Margaretha von Habsburg, Statthalterin der Niederlande, den sogenannten Damenfrieden von Cambrai aus. Sie empfing Botschafter, verhandelte mit dem Pabst, und hatte immer noch die Aufsicht über die königlichen Kinder. Sie reformierte Klöster überall in Frankreich, ihre Lektüre der Lutherschrift „Von den Mönchsgelübden“ hatte sie nicht dazu gebracht, die Klöster abzuschaffen, sondern eher Missstände abzubauen.
1531 veröffentlichte Marguerite ihr religiös-poetisches Werk „Ein Spiegel der sündigen Seele“. Die zweite Ausgabe 1533 wurde von der Sorbonne als ketzerisch verurteilt und verboten. Wütend verlangte Franz I. die Rücknahme der Verurteilung, und die Universität fügte sich schleunigst. Als dann, 1534, die Plakataffäre mit ihrem Angriff auf die Messe und das katholische Abendmahlverständnis die Gemüter erregte, ging sie nach Südfrankreich. Dort konnte sie unter Anderen einem Flüchtling, dem jungen Calvin, weiterhelfen. Sie hatte seit jungen Jahren freundschaftliche Beziehungen zu ihrer Cousine, Renée de France, Herzogin von Ferrara, gepflegt, und jetzt schickten die zwei gleichgesinnten Verwandten einander hilfsbedürftige Glaubensflüchtlinge zu.
In den nächsten Jahren war das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester etwas abgekühlt. Franz I. unterstützte die römisch-katholische Kirche nach Kräften, und Marguerite war vorsichtig geworden. Als der Berater des Königs ihn aber fragte, ob Gefahr bestünde, Marguerite könne zum Protestantismus übertreten, erwiderte der König: „Dafür liebt sie mich zu sehr!“, und behielt Recht damit.
Die Ruhe und Abgeschiedenheit am Hofe bedeutete für Marguerite Zeit für eine rege schriftstellerische Tätigkeit. Die religiösen Gedichte waren wohl eher eine Art meditative Übung inmitten der oberflächlichen Geschäftigkeit des Hofes. Jetzt verfasste sie Schauspiele, die am Hof aufgeführt wurden. Angeregt durch die Beschäftigung mit den Schriften des Plato, die sie durch den italienischen Humanisten Pico della Mirandola und Marsilio Ficino kennengelernt hatte, dachte sie über das Wesen der Liebe nach, und ihre schriftstellerische Tätigkeit wurde von diesen Überlegungen geprägt. Sie ließ Platos Schriften ins Französisch übertragen, so wie sie auch die Novellen von Boccaccio, „Dekameron“, übersetzen ließ. Diese Novellen beeinflussten ihre berühmteste Werk, die Novellen, aus denen das „Heptameron“ besteht, und die von ihr über einen längeren Zeitraum zusammengefügt wurden. Sie gab nur ein Buch in Druck, „Les marguerites de la Marguerite des princesses“, die Perlen der Perle (Marguerite) der Prinzessinnen, mitsamt dem Folgeband: „Suyte des marguerites“ (1547). Alle andere Schriften von ihr waren zu ihren Lebzeiten nur als Manuskript vorhanden, aber das Heptameron wurde ungefähr zehn Jahren nach ihrem Tod als Buch herausgegeben, und zählt seitdem zu den Klassikern des 16. Jahrhunderts, obwohl es oft missverstanden worden ist – dazu mehr später (vgl. Nielsen, Theologie als Erzählung).
Eine andere wichtige Angelegenheit in den letzten Jahren, ihr Verhältnis zu ihrer Tochter Jeanne, wird im Artikel über diese behandelt. In den letzten Jahren hatte sie eine Auseinandersetzung mit Calvin über die Freigeister, die sich bei ihrem Hof aufhielten. Ihre Bedeutung für die Reformation wird später untersucht. Klar ist allerdings, dass sie als Katholikin starb. Als ältere Frau zog sie sich immer öfters in Klöstern zurück und auch, wenn sie nie besonders rechtgläubig war, trat sie nie aus der Kirche aus. Sie starb 1549 auf ihrem Schloss Odos.
Marguerite d`Angoulême war eine hoch begabte, zutiefst fromme Frau. Sie ging unbeirrt ihre eigenen Wege, und auch, wenn sie diskret war, ließ sie sich nicht einschüchtern. Ihre Verdienste für die Verbreitung der Reformation sind offenkundig, und in Genf wusste Calvin sehr wohl, wie dankbar er ihr sein musste. Dabei war die geistige Freiheit ihr ohne Zweifel eine Herzensangelegenheit, während ihre Tochter und Enkelin mit Nachdruck Partei ergriffen. Zu Marguerites Zeiten waren diese geistige Freiheit und die Hoffnung, die katholische Kirche von innen zu erneuern und zu „reformieren“, ohne die Glaubensspaltung vollziehen zu müssen, noch möglich. Diese Umstände gaben ihr etwas Spielraum, den spätere Generationen nicht länger hatten.
Literatur
In Deutschland ist die Literatur zu Marguerite d´Angoulême übersichtlich. Zu erwähnen sind:
Margarete von Navarra: Das Heptameron, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1960, mit einem ausgezeichneten Nachwort von Peter Amelung. Neudruck München 1979, 1999 (dtv 12710)
Eltz-Hoffmann, Lieselotte von: Kirchenfrauen der frühen Neuzeit, Stuttgart 1995
Kraus, Claudia: Der religiöse Lyrismus Margaretes von Navarra, München 1981
Schönberger, Axel: Die Darstellung von Lust und Liebe im Heptaméron der Königin Margarete von Navarra, Frankfurt a/M 1993
Sckommodau, Hans: Die religiösen Dichtungen Margaretes von Navarra, Köln 1955
Sckommodau, Hans: Galanterie und vollkommene Liebe im „Heptaméron“, Münchener Romanistische Arbeiten, Band 46, München 1977
Sckommodau, Hans: Die spätfeudale Novelle bei Margareta von Navarra, Sitzungsbericht der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität Frankfurt, Bd. XIV, Nr. 4, Wiesbaden 1977
Zimmermann, Margarete: Der Salon der Autorinnen: französische „dames de lettres“ vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert, Berlin 2005
Stedman, Gesa & Zimmermann, Margarete: Höfe – Salons – Akademien, Hildesheim 2007
Hinzu kommt eine Übersetzung:
Febvre, Lucien: Margarete von Navarra. Eine Königin der Renaissance zwischen Macht, Liebe und Religion, Frankfurt a/M 1998 (Originaltitel: Autour de l´Heptaméron: Amour sacré, amour profane, Paris 1996)
Allgemeine Kirchengeschichte:
Strasser-Bertrand, Otto Erich: Die evangelische Kirche in Frankreich, in: Die Kirche in ihrer Geschichte, Göttingen 1975
In Frankreich zählt sie zu den wichtigen Renaissancedichterinnen. Eine vollständige wissenschaftliche Ausgabe ihrer Werke von Nicole Cazauran ist in Arbeit:
Marguerite de Navarre: Oeuvres Complètes, Paris 2001. Bisher erschienen:
Heptaméron, Paris 2000 und die Bände 1,3,4,8 & 9
Die klassische Biografie ist:
Jourda, Pierre: Marguerite d´Angoulême, duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Étude biographique et littéraire, Paris 1930, Genf 1978
Jourda, Pierre: Répertoire analytique et chronologique de la Correspondance de Marguerite d´Angoulême, Duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Paris 1930
Christine Martineau, Michel Veissière & Henry Heller: Guillaume Briçonnet/Marguerite de Navarre: Correspondance, 2 Bd., Paris 1975-79
Herminjard, Aimé, hrsg.: Correspondance des réformateurs dans les pays de langue française, Genf 1886-79
In Heptaméron, ed. Nicole Cazauran, ist weiterführende Literatur erwähnt. Hier verweise ich nur auf drei Kolloquien aus dem Jahr 1992:
Marguerite de Navarre, 1492-1992, Actes du Colloque international de Pau (1992), Mont-de- Marsan 1995
Etudes sur l´Heptaméron de Marguerite de Navarre, Colloque de Nice, 15-16 Fèvrier 1992, Uni.de Nice, o. J.
Marguerite de Navarre, Actes du colloque international du 14 au 16 septembre 1992, Lódź 1997
Karlsson, Britt-Marie: Sagesse divine et folie humaine, Etude sur les structures antithétiques dans l´Heptaméron de Marguerite de Navarre (1492-1549), Göteborg 2001
Montaigne: Oeuvres complètes, Paris 1962
Ausgewählte Literatur in englischer Sprache:
- Patricia F. Cholakian & Rouben C. Cholakian: Marguerite de Navarre, Mother of the Renaissance, New York 2006
- Cholakian, Patricia F.: Rape and Writing in the Heptameron, Carbondale 1991
- Cottrell, Robert D.: The Grammar of Silence, A Reading of Marguerite de Navarre´s Poetry, Washington D.C. 1985
- Davis, Betty J.: The Storytellers in Marguerite de Navarre´s Heptaméron, Lexington 1978
- Davis, Natalie Zemon: Society and Culture in Early Modern France: eight Essays, Stanford 1975
- Farge, James K.: Orthodoxy and Reform in Early Reformation France, The Faculty of Theology of Paris, 1500-1543, Leiden 1985
- Ferguson, Gary: Mirroring belief: Marguerite de Navarre´s Devotional Poetry, Edinburgh 1992
- Gelernt, Jules: World of Many Loves, The Heptameron of Marguerite de Navarre, Chapel Hill 1966
- Greengrass, Mark: The French Reformation, London 1987
- Salmon, J.H.M.: Society in Crisis, France in the Sixteenth Century, London 1975
- Tetel, Marcel: Marguerite de Navarre´s “Heptaméron”: Themes, Language and Structure, Durham N.C. 1973
»Gleichmacherei der Testamente«
Michael Servets Auseinandersetzung mit dem Judentum und mit Calvins Israellehre
I.
Das Profil des Genfer Reformators Calvin ist unlöslich verbunden mit dem Schicksal des spanischen Arztes und Religionsphilosophen Michael Servet (1509/11-1553). Kaum eine Veröffentlichung, in der Calvin nicht mit dem Zusatz bedacht wäre: "der 1553 in Genf bekanntlich den Antitrinitarier Servet hinrichten ließ". Stefan Zweig hat mit seinem Buch über Castellio das Bild von dem Genfer Diktator und Tyrannen maßgeblich in das historische Gedächtnis der Nachwelt eingeschrieben. Selbst renommierte Historiker lassen sich in ihrem Urteil immer wieder von diesem polemischen Zerrbild Calvins leiten.
Der jüdische Historiker Solo W.Baron z.B. glaubt in einer Tagebuchnotiz des Juden Josel von Rosheim den Hinweis auf eine Begegnung mit Calvin gefunden zu haben. Josel von Rosheim berichtet dort von der Frankfurter Fürstenversammlung von 1539 und erwähnt einen heftigen Disput mit einem übermäßig streitsüchtigen Christen. Für Baron steht fest, dass es sich bei diesem Hitzkopf um den späteren Genfer Despoten Calvin gehandelt haben muss. In welcher Sprache sich der Jude aus Mittelbergheim und der Franzose Calvin gestritten haben sollen, ist dabei für Baron nicht weiter von Belang. Zusammen mit dem 'Fall Servet' wird für ihn diese vermeintliche Begegnung zu einem Indiz, dass Calvin es auch den Juden gegenüber an Toleranz habe fehlen lassen.
Die amerikanischen Historiker Louis Israel Newman und Jerome Friedman gehen sogar noch einen Schritt weiter. Sie behaupten, Servet sei in Genf wegen seiner judaisierenden Ansichten hingerichtet worden. Oder um es etwas drastischer zu formulieren: Der Philosemit Servet wird in Genf von dem potentiellen Antisemiten Calvin hingerichtet. Was ist an diesem Vorwurf dran? Ist es ein erneuter Versuch, Calvin mit unlauteren Mitteln zu diskreditieren? Oder ist es nur ein Hinweis darauf, dass der Genfer Reformator nun einmal ein Kind seiner Zeit war?
Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, sich die Israel-Lehre Servets vor Augen zu führen, vor allem sein Verhältnis zum Judentum. Einen ersten Hinweis finden wir in der Institutio Calvins. Calvin wirft Servet dort vor, er denke über das Volk Israel "nicht anders als über eine Herde Schweine, die von dem Herrn (...) ohne alle Hoffnung auf das ewige Leben gemästet worden sei" (Inst. II,10,1). Eine Behauptung, die, wenn sie stimmt, ganz und gar nicht zu dem Bild des judaisierenden Servet passen würde. Und in der Tat. Servet betont in seinen Werken durchweg die substantielle Minderwertigkeit des atl. Gottesglaubens.
"Niemals war einer der Juden [d.h. Israeliten] erwählt oder in der Weise durch die Erwählung vorherbestimmt, wie Gott uns vorherbestimmt hat (...). Gott ist nun offenbar, einst war er es nicht."
Der Sündenfall durch Adam ist für Servet so gravierend, dass der Mensch erst wieder im Neuen Bund durch Wasser und Geist wiedergeboren werden könne. Die Erlösung im Alten Bund dagegen hält er für durch und durch defizitär:
"Im Zeitalter der Juden gab es kein Bad der Wiedergeburt, weil Christus damals noch nicht wiedererweckt war. Jene konnten weder im Leben noch nach dem Tod ins Paradies aufgenommen werden; wir dagegen können es. Niemals war irgendeiner der Juden im Reich der Himmel, weil das Reich Gottes noch nicht gekommen war. Niemals war jener wiedergebärende Geist der hyiothesia in ihnen, sondern sie waren mit der fleischlichen Kindschaft behaftet."
Für Servet bleiben im gesamten Alten Bund die Gottesverehrung und die Verheißungen dem Fleischlichen verhaftet. Das Gesetz erlaube den Männern Vielweiberei und Scheidung, es kenne keine Feindesliebe, und die Sündenvergebung sei profan und wirkungslos gewesen. Das Sinai-Gesetz wird für Servet sogar zu einer Art 'zweitem Sündenfall', weil es wegen der nun möglichen Erkenntnis der Sünde nicht nur den leiblichen Tod, sondern auch den geistlichen Tod herbeiführe.
Es gibt fast nur einen einzigen Punkt, an dem Servet positiv an das Alte Testament anknüpfen kann, nämlich die alttestamentliche Einheit Gottes. Weil die apostolische Verkündigung einem jüdischen Kontext entstamme, sei auch die neutestamentliche Gottesvorstellung auf dieser Basis zu interpretieren. Doch dieser Ansatz dient ihm keineswegs dazu, eine jüdische Gottesvorstellung einzufordern. Es geht ihm lediglich darum, seine modalistische Trinitätslehre unter Beweis zu stellen.
Dieser Zusammenhang ist allerdings der einzige, in dem Servet so etwas wie eine Einheit der beiden Testamente voraussetzt – und dies auch nur in seiner Erstlingsschrift De Trinitatis erroribus von 1531. In den drei Schriften des Folgejahres tritt dieser Aspekt bereits zurück. Servet ist nun bemüht, die fundamentale Differenz zwischen Altem und Neuem Bund herauszustellen. Er wendet sich damit gegen Bucers These von der Einheit des Bundes, mit der der Straßburger Theologe die Kindertaufe zu rechtfertigen suchte. Servet hält dem entgegen:
"Diejenigen, die durch derartige Gleichmacherei die Testamente durcheinanderbringen, irren somit nicht unerheblich; sie schmälern die Gnade der Ankunft Christi, indem sie die Juden uns gleich machen."
Servet geht es darum, im Kontrast zur altestamentlichen Erlösung das Besondere der christlichen Rechtfertigung herauszustellen. Seine spiritualistisch-präsentische Eschatologie, vor allem die Wiedergeburt und Vergöttlichung des Menschen im Geist, soll dadurch gegen Angriffe abgesichert werden. Versuche, einen eschatologischen Vorbehalt geltend zu machen, kann Servet nur als einen Rückfall in die unerlöste Zeit des Judentums, dem Reich der Hölle ("regnum inferorum"), disqualifizieren.
II.
Aufgrund des bisher Gesagten wäre es verwunderlich, wenn Servet dem Judentum gegenüber eine positive Haltung einnehmen würde. Dennoch aber wird von den meisten Forschern genau diese These vertreten. Im einzelnen werden folgende Argumente aufgeführt: Servet sei von seinen Gegnern als Judaisierer bezeichnet worden und vermutlich converso-jüdischer Abstammung gewesen (a). Außerdem habe er sich intensiv mit jüdischen Quellen vertraut gemacht und deren Argumente zur Bekämpfung der Trinitätslehre herangezogen (b). Schließlich habe er das Verständnis des Neuen Testaments auf die alttestamentlich-hebräische Wurzel zurückgeführt und das Alte Testament nicht christustypologisch interpretiert, sondern konsequent den historischen Kontext berücksichtigt (c). Diese Argumente gilt es nun zu prüfen.
a. Zur converso-jüdischen Abstammung Servets ist zu sagen, dass es weder der bisherigen Forschung noch der seit 1532 mit Servet befassten spanischen Inquisition gelungen ist, eine Converso-Abstammung Servets nachzuweisen. Diese Vorhaltung beruht vielmehr allein auf der Tatsache, dass in den Werken Servets Argumente der jüdischen Apologetik Berücksichtigung finden. Servet selbst aber gibt in Genf zu Protokoll, dass seine Vorfahren einem altehrwürdigen christlichen Geschlecht entstammten.
b. Wenngleich also eine converso-jüdische Abstammung Servets bezweifelt werden muss, so wird doch mit Sicherheit davon auszugehen sein, dass Servet nicht unbeeinflußt geblieben ist von den polemisch-apologetischen Argumenten, die die spanische Diskussion um die Converso-Juden mit sich gebracht hat. Er selber beruft sich denn auch auf konvertierte Juden wie etwa "Petrus Alphonsus, Paulus Burgensis, et plerique alii ex Judaeis ad Christum conversi".
Von einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit den jüdischen Argumenten kann bei Servet allerdings nicht die Rede sein; soweit diese Argumente überhaupt Berücksichtigung finden, bedient sich Servet ihrer vorwiegend, um eigene Anschauungen zu untermauern: Von den zwölf Stellen, an denen er 1531/32 auf jüdische Aussagen verweist, beziehen sich sechs auf relativ nebensächliche exegetische Fragen. An einer Stelle beklagt er die dilettantischen Versuche, David Kimchi zu widerlegen, und eine weitere Stelle befasst sich kritisch mit dem Versuch des Maimonides, das Problem der alttestamentlichen Anthropologismen herunterzuspielen.
An den übrigen Stellen nennt Servet zwar durchaus zustimmend die jüdischen Argumente gegen die Trinitätslehre und die christologische Deutung der Psalmen, aber die Argumente sind nur sehr flüchtig wiedergegeben und dienen keineswegs dazu, die Trinitätslehre oder die christologische Deutung generell in Frage zu stellen. Im Gegenteil, ihm geht es vornehmlich darum, Fehlentwicklungen in der christlichen Dogmatik aufzuzeigen, um durch eine Rückkehr zu den apostolischen Anfängen die Juden um so besser für den christlichen Glauben gewinnen zu können:
"Die Hebräer werden durch so viele Autoritäten gestützt, dass sie sich zu Recht wundern über die so große, mit dem Neuen Testament eingeführte Zerteilung der Götter; und sie halten unser Testament für ketzerisch, wenn sie sehen, wie sehr wir von ihrem Gott abweichen. Wenn wir uns auf eine Disputation einlassen müssen, ist es darum nötig, dem apostolischen Vorbild zu folgen, nämlich, dass wir ihnen vor Augen führen, dass dieser Jesus der Christus ist und der Sohn Gottes".
1553 vermehrt Servet seine Zitate aus der jüdischen Literatur um etwa 25 Belege. Die meisten stammen aus den Bereichen Schöpfung, Engellehre und Anthropologie und dienen vor allem dazu, Servets neuplatonische Ideenlehre zu veranschaulichen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt bei den jüdischen Aussagen von der Präexistenz der Weisheit und des Messias; hier geht es Servet besonders darum, mit Hilfe der Präexistenz des Logos seine Anschauung von Christus als dem Urgrund aller Dinge und allen Seins unter Beweis zu stellen.
D.h. also: Weder 1531/32 noch 1553 kann bei Servet von einem "extraordinary interest in Judaica" (J.Friedman 1978) die Rede sein. Denn Servet bedient sich nur sehr sporadisch jüdischer Argumente und dies vor allem in einem spezifisch apologetischen Zusammenhang, der den jüdischen Texten fremd ist. Dadurch geraten diese Texte entgegen ihrer Intention zu einer Rechtfertigung von Servets Logos-Christologie und seiner modalistischen Trinitätslehre.
Außerdem nennt er die Rabbiner in einem Atemzug mit den Sophisten, polemisiert gegen die Kabbala und scheint davon auszugehen, dass sich im Talmud Lästerungen gegen den christlichen Glauben befinden.
c. Während also die Verwendung jüdischer Quellen keineswegs schon auf eine projüdische Haltung Servets rückschließen lässt, so zeigt er doch in seiner historisch-philologischen Arbeit eine gewisse Offenheit für die jüdischen Anfragen an den spezifisch christlichen Umgang mit dem Alten Testament. Besonders in seinem Vorwort zur Pagninus-Bibel (1542) unterstreicht Servet die Bedeutung des historischen Kontextes für das Verständnis der alttestamentlichen Verheißungen. Servet ist zwar zurückhaltend gegenüber jeder vorschnellen christologischen Vereinnahmung des Alten Testamentes, aber er behält die typologische Interpretation des Alten Testamentes durchaus bei und betont lediglich, dass nur ein tatsächliches Ereignis der Geschichte die ausreichende Basis für eine typologische Interpretation abgeben könne. Ihm geht es vor allem darum, mit Hilfe historisch-philologischer Arbeit zu einer Auslegung zu kommen, die sich den Juden gegenüber verantworten lässt, ohne dabei allerdings sein spezifisch christliches Anliegen zu verleugnen:
"Den Juden geben wir den sensus literalis zu, dennoch erinnern wir daran, dass ein Geheimnis vom künftigen Messias darunter verborgen liegt (...). Nach diesem Grundsatz müssen wir wie Christus gegen die Juden disputieren, damit sie das darin verborgen liegende Geheimnis der Zusammenhänge erkennen."
Die Diskussion der anfangs genannten Argumente hat gezeigt, dass von einer projüdischen Einstellung Servets nur insofern die Rede sein kann, als er begründete jüdische Anfragen an eine christologische oder trinitarische Vereinnahmung des Alten Testamentes in gewissem Rahmen gelten lässt. Insgesamt aber bestätigt sich der Eindruck, dass die theologische Abwertung des alttestamentlichen Gottesglaubens eine abwertende Einschätzung des zeitgenössischen Judentums mit sich bringt. Denn von Anfang an steht für Servet außer Frage, dass extra Christum keine wahre Gotteserkenntnis möglich ist. Die Juden verweigerten die Gotteserkenntnis in Christus und erweisen sich für Servet als verblendet, verworfen und in ihrem fleischlichen Dasein verhaftet.
Auch der Tempel und die jüdische Synagoge gelten ihm als durch Christus verworfen, und über Jerusalem laste der Fluch Gottes. Und als besonders schwere Versündigung gilt ihm, wenn jemand nach erfolgter Taufe zum Judentum oder Heidentum zurückkehrt. Offensichtlich haben hier negative Erfahrungen mit spanischen Conversos Servets Verhältnis zum Judentum nachhaltig geprägt.
III.
Abschließend soll nun die Frage geklärt werden, wie es zu dem Judaismus-Vorwurf gegen Servet gekommen ist und welche Rolle dieser Vorwurf im Genfer Prozeß 1553 gespielt hat:
Beim Judaismus-Vorwurf ist für das 16. Jahrhundert zu bedenken, dass er inhaltlich nur wenig Aussagekraft besitzt, da er relativ willkürlich dazu benutzt werden konnte, gegnerische Auffassungen als einen Rückfall ins Judentum zu disqualifizieren. Erstmalig wird der Judaismus-Vorwurf gegen Servet 1530/31 von Oekolampad in väterlich ermahnender Weise geäußert; offenbar hat der Basler Reformator sich durch Servets Rückgriff auf jüdische Kritik an der christlichen Trinitätslehre dazu veranlasst gesehen.
Dieser Vorwurf mag im Blick auf die Erstlingsschrift Servets noch eine gewisse Berechtigung haben, aber schon für das Folgewerk gilt, dass Servet sich zunehmend vom jüdischen Glauben distanziert und nun selbst dazu übergeht, anderen diesen Vorwurf zu machen, so dass der Vorwurf Servet nur noch bedingt trifft. Im Genfer Prozess gegen Servet spielt der unmittelbare Vorwurf des Judaisierens interessanterweise kaum eine Rolle. Sehr viel umstrittener dagegen ist die bleibende Bedeutung des Alten Testamentes für den christlichen Glauben. Und hier ist es vor allem Servet selbst, der Calvin schon vorab in seinen Briefen und sodann im Prozessverlauf des Judaisierens bezichtigt:
"Hör' endlich auf, Calvin, uns zu plagen mit jenem Gesetz und so gewaltsam auf dessen Einhaltung zu drängen, auch wenn du mit den Juden erzwingen musst, dass Gott, der sich im Gesetz fortwährend der Juden erbarmt hat, sich deiner erbarme."
Calvin weist diesen Vorwurf entschieden zurück und versucht die Ansichten Servets zur Minderwertigkeit des alttestamentlichen Gottesglaubens zu widerlegen:
"Du wirfst mir vor, dass ich in fleischlicher und in jüdischer Weise über das leibliche Geschlecht Abrahams urteile. (...) Aber Paulus erörtert im 9. und 11. Kapitel an die Römer den Gnadenbund, indem er versichert, dass jener Bund in dem tatsächlichen und natürlichen Geschlecht Abrahams verbleibt. Ich bin allerdings nicht so stumpfsinnig, dass ich jeden, der dem Fleische nach von Abraham abstammt, zu den Söhnen Abrahams rechnen wollte. Es waltet nämlich die freie Erwählung Gottes, die die rechtmäßigen von den unrechtmäßigen Söhnen unterscheidet, d.h. die geistlichen von den fleischlichen. (...) Es ist nämlich offensichtlich, dass Gott sie deshalb erwählt hat, damit jener Bund, den Gott mit Israel geschlossen hat, dennoch wirksam bleibt. Dies beides trifft also zu: Dass nicht alle, die ihre leibliche Abstammung von Abraham herleiten, auch Söhne Abrahams sind, und dass dennoch nicht vergeblich dem Geschlecht Abrahams gesagt ist: 'Ich werde euer Gott sein', und dass auch die Gnade des Bundes, mit dem Gott den Israeliten seine Treue versichert hat, nicht hinfällig ist."
Auch hier geht es Calvin keineswegs darum, eine allzu moderne (oder gar jüdische) Bibelexegese zurückzuweisen. Vielmehr kritisiert er, dass Servet zwar vorgibt, das christliche Anliegen gegenüber den Juden verteidigen zu wollen; tatsächlich aber stelle er die Kontinuität der Sündenvergebung im Alten Testament in Frage und somit die Grundlegung des christlichen Heils überhaupt. Außerdem missbilligt Calvin Servets Auffassung, dass die Israeliten aufgrund mangelnder Gotteserkenntnis Engel angebetet hätten; und er bemängelt den willkürlichen Umgang Servets mit hebräischen Begriffen und jüdischen Lehrmeinungen, um damit seine eigenen Anschauungen zu belegen. Calvin kann ihn deshalb auch einen "bonus Rabbinus" nennen.
Das bedeutet also: Einer der wesentlichen Differenzpunkte zwischen Calvin und Servet liegt in den Voraussetzungen ihrer Israel-Lehren begründet. Während Calvin sich israeltheologisch als 'Einheitstheologe' erweist, ist für Servet die 'Trennungstheologie' kennzeichnend. Von diesem Umstand her ist es zu erklären, dass der Vorwurf des 'Judaisierens' von Servet selbst gegen Calvin erhoben wird, im Genfer Prozess gegen Servet aber kaum eine Rolle spielt. Lediglich zu Beginn des Prozesses wird Servet vom procureur général, Claude Rigot, darüber befragt, ob seine Vorfahren einer jüdischen oder anderen Religion angehört hätten, ob er jemals mit Juden über religiöse Fragen diskutiert habe und ob er mit seiner Rechtfertigung jüdischer und islamischer Kritik deren Anschauungen verteidigen wolle.
Alle diese Fragen beantwortet Servet mit Nein, und sie spielen dann im weiteren Verlauf des Prozesses keine Rolle mehr. Aufgrund dieses Befundes muss also die Behauptung zurückgewiesen werden, wonach Servet in Genf wegen seiner judaisierenden Ansichten hingerichtet worden sei. Die Quellen belegen diese These nicht. Wie auch die Anklageschrift und die Urteilsbegründung zeigen, wird Servet in Genf nicht wegen Judaisierens hingerichtet, sondern weil seine Ausfälle gegen die Trinitätslehre und die Kindertaufe als eine Gefährdung für den Bestand der christlichen Gesellschaft eingeschätzt wurden.
Nichtsdestotrotz vermögen natürlich auch diese Gründe das Genfer Todesurteil nicht zu rechtfertigen.
(ausführlicher dargestellt und mit Nachweisen der Belegstellen in: A. Detmers, Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin, Judentum und Christentum 7, Stuttgart u.a. 2001, 216-235)
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Achim Detmers
Hat Johannes Calvin den Tod Michael Servets auf dem Scheiterhaufen zu verantworten?
Die Postkarte 'Todesstrafe' als PDF