''Ein Quantum Trost'' – zum 450. Geburtstag des Heidelberger Katechismus

von Gesine von Kloeden

Ausgehend von der These Karl Barths, der Heidelberger Katechismus entstamme aus dem „unmittelbaren Lebensbedürfnis“ einer Kirche, fragt Gesine von Kloeden nach der Not der Kirche heute und der Antwort des Katechismus. Als "Nöte der Kirche" nennt sie die "Resignation vor der Wissenschaft" und den „Narzissmus als die protestantische Ethik von heute“(Richard Sennett).

„Ein Quantum Trost“ – zum 450. Geburtstag des Heidelberger Katechismus[1]

Einleitung

Im vorletzten James-Bond-Film „Ein Quantum Trost“, dem zweiten mit Daniel Craig als 007, sucht James Bond, Rache für den Tod seiner Freundin Vesper zu nehmen. Dabei muss er eine Geheimorganisation namens „Quantum“ ausschalten; aus der Rache erhofft sich Bond ein Quäntchen Trost – „A Quantum of Solice“. Am Ende, als Quantum vernichtet ist und Bond verletzlicher denn je aus seinem Auftrag hervorgeht, wirft er das Andenken an Vesper, ein Silberkettchen, das er stets bei sich trug, in den Schnee. Mit dieser Geste verabschiedet er auch die Rache: Er ist frei geworden. Der wahre Trost in dieser Geschichte liegt nicht im Ausschalten von Quantum (bloß ein weiterer Sieg des englischen Geheimdienstes über einen weiteren Feind), sondern im Wegwerfen der Ketten des persönlichen Rachefeldzuges. Dieser Sieg ist weitaus größer. Um es mit Johnny Cash zu sagen: „I´m free from the Chain Gang now“. Über eine solche innere Freiheit von Rache, Hass und dem Elend des Menschen spricht auch der Heidelberger Katechismus. Auch er ist ein Bekenntnis zur Freiheit.

 Üblicherweise unterscheidet man zwischen dem Bekenntnis eines Einzelnen (ein Krimineller „bekennt“ sich zu seiner Tat, berühmte Menschen nennen ihre Autobiografien zuweilen „Bekenntnisse“) und dem Bekenntnis einer Kirche, in dem der Glaube ausformuliert ist, wie z.B. dem Apostolischen oder Nizänischen Glaubensbekenntnis. Der Heidelberger Katechismus fällt auf den ersten Blick in die zweite Kategorie. Der 450. Geburtstag ist Anlass, einen zweiten Blick zu riskieren: Könnten wir in diesem historischen kirchlichen Dokument nicht auch ein Quantum Trost durch das persönliche Bekenntnis zur Freiheit finden? Schafft der Heidelberger Katechismus vielleicht genau die Verbindung zwischen dem gemeinschaftlichen Bekennen einer kirchlichen Tradition und dem Bekenntnis eines Einzelnen? Dann wäre das Jubiläum dieses Dokumentes auch ein Anlass für unseren eigenen Jubel aus Dankbarkeit gegenüber Gott, der uns befreit.          

Auch wenn man in der Wiege des Heidelberger Katechismus, der Kurpfalz, lebt, ist es nicht selbstverständlich, sich an seinem 450. Geburtstag mit ihm zu beschäftigen. Es ist sogar umgekehrt so, dass in der Badischen Landeskirche der Heidelberger Katechismus bis zu diesem Jubiläum gerade nicht so präsent war wie zum Beispiel in den dezidiert reformierten Kirchen der Grafschaft Bentheim, Ostfrieslands oder Lippes, wo der Heidelberger Katechismus bis heute Bestandteil des Konfirmandenunterrichtes ist; ganz zu schweigen von den reformierten Kirchen in der Schweiz, in Schottland, Holland, Ungarn, aber auch in Nordamerika,  und auch in Ghana, Togo und Australien, wo der Geburtstag des „Heidelbergers“ tatsächlich von Kirchen und theologischen Ausbildungsstätten als ein großes Ereignis begangen wird. Dass dies in der Kurpfalz anders ist, ist kein Zufall. Es ist sogar so, dass es im reformierten Bekennen selbst angelegt ist, alles „Konfessorische“ (also jegliches eng geführte Bekennertum) zu überwinden. Und genau das ist mit der Badischen Union von 1821 geschehen, weshalb hier mehrere Bekenntnisse als gleichberechtigt nebeneinander stehen. Aber was ist eigentlich ein reformiertes Bekenntnis? Dies wollen wir in einem 1. Teil bedenken, bevor wir uns im Speziellen dem Heidelberger Katechismus zuwenden und nach seinem Entstehungszusammenhang (Teil 2), seinem Aufbau und Inhalt (Teil 3) und seiner Bedeutung für den Zustand der Kirche und des Protestantismus heute (Teil 4) fragen.

Teil 1: Wer sind die Reformierten und was ist typisch für ihre Bekenntnisse?    

Es mag verwundern, aber einem streng Reformierten kann es nie in erster Linie darum gehen, reformiert zu sein. Er ist reformiert nicht „gegenüber“ Lutheranern oder Katholiken oder gegenüber anderen Konfessionen. Die Tradition der Reformierten bewährt sich gerade darin, dass sie der christlichen Botschaft in immer neuen Zusammenhängen verpflichtet ist. Das Thema der Reformierten ist nicht ihr Reformiertsein, sondern die Botschaft von Gottes Liebe in der Welt; ihre Aufgabe ist nichts weiter, als dem lebendigen Wort Gottes in der Welt zu dienen.

Von ihren Anfängen her haben die Reformierten darunter gelitten, dass die institutionalisierte Kirche die Freiheit Gottes in den Ämtern und Bekenntnissen einschränkte. Die Kirche könne, so ihre Auffassung, nur Kirche sein, wenn sie sich für das Wirken Gottes in je neuen Situationen öffne. Die Reformierten finden sich daher besonders im Bild des wandernden Gottesvolkes wieder. Sie haben sich stets in der Tradition Israels erkannt: Abraham, der das Stammesland seiner Familie auf Gottes Wort hin verlässt; das Volk, das die Fleischtöpfe Ägyptens hinter sich lässt und sich hinausbegibt auf ein vages Ziel hin, das als Land, in dem Milch und Honig fließt, bezeichnet wird; die Verbannten im Exil, die sich den Propheten Jeremia und Jesaja zufolge ganz auf die neue Lebenssituation und ein Leben mit Gottes Wort jenseits von Kult und Tempel einstellen mussten. Die Bindung an Gott jenseits von übergreifenden Bekenntnissen und religiösen Prinzipien ermöglicht den Reformierten Freiheit: gesetzliche Enge, Besserwisserei, dogmatische Borniertheit, hohle Behauptungen weichen dem gemeinsamen Hören auf Gottes Wort in je neuen Situationen (semper reformanda). Die Bindung an Gott lässt die Reformierten jeweils neu fragen: Wozu bin ich berufen? Was ist jetzt und hier mein Dienst am Nächsten?

Es ist freilich unbequem und anstrengend, so „unter dem offenen Himmel“ (Ako Haarbeck)[2]  zu leben, bar jeder traditionellen Absicherung und ohne kirchliche Macht. Die Reformierten haben daher auch von Anfang an unter Diskriminierungen und Verfolgungen gelitten, sie waren fast überall auf der Welt verachtete Minderheiten. Die Offenheit der Reformierten zeigt sich nicht nur in der Weite ihrer geographischen Ausdehnung und ihrer jeweiligen Anpassung an die örtlichen Gegebenheiten, sondern auch in der, dem Lauf der Jahrhunderte geschuldeten, Fortschreibungen ihrer Bekenntnisse. Das Reformationszeitalter hat für Reformierte bei weitem nicht die Bedeutung wie für die Lutherische Kirche. Calvin, Zwingli und Melanchthon haben nie den Rang von Kirchenvätern erlangt wie beispielsweise Martin Luther oder wiederum sein geistlicher Vater, der heilige Augustinus. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit für die Reformierten, nach immer neuen Antworten zu suchen, die sich aus den Fragen ihres jeweiligen Kontextes ergeben und die danach drängen, Perspektiven einzunehmen, die es in der Tradition und in den biblischen Schriften noch nicht gab. Es finden sich in der Bibel und in der kirchlichen Tradition gerade keine expliziten Antworten auf die Fragen nach erneuerbaren Energien, nach Stammzellforschung, nach einem Organspendeausweis oder ärztlicher Sterbehilfe. Wer aus der reformierten Tradition kommt, wird sich daher auch hüten, eine einmal gefundene Überzeugung für alle Zeiten dogmatisch abzusichern. Er wird nicht für eine einmal gefundene Lehre einstehen, sondern für den Menschen, der ihm als Nächster anvertraut ist. Insofern bedingt seine Offenheit gerade keine Beliebigkeit, sondern die redliche Frage, wo Gott einen jetzt und hier braucht.

Der Heidelberger Katechismus hat zwar Weltruhm erlangt, doch ist er kein reformiertes „Weltbekenntnis“. Die Reformierten haben, wenn es die Situation erforderte, neue Bekenntnisse hinzugefügt, die dann wiederum eine Vorlage für neue Bekenntnisse bildeten. Ein Beispiel dafür ist die Barmer Theologische Erklärung von 1934, die von Vertretern der Bekennenden Kirche (hauptsächlich aus reformierter Tradition) in Nazi-Deutschland verfasst wurde, und die im Laufe des 20. Jahrhunderts Vorlage für weitere Bekenntnisse wurde (z.B. in Indonesien oder in Kuba), am prominentesten in Südafrika als Vorlage für das großartige Bekenntnis von Belhar 1986, in dem sich die Reformierten aus den weißen, den schwarzen und den burischen Kirchen gemeinsam der Überwindung der Apartheid verpflichten. Reformierte Christen fragen weniger: Sind wir noch reformiert, bewegen wir uns noch in unserer Tradition, wenn wir dies oder jenes bekennen? Ihre Frage lautet stets: Sind wir schon reformiert? (Ako Haarbeck)[3] Sie fragen nicht: „Wer bin ich?“ Sondern: „Wer kann ich sein?“

Es ist daher kein Zufall, dass die ersten Generalsekretäre des Weltkirchenrates zumeist reformiert waren: Als sich 1948 nach der Katastrophe des 2. Weltkrieges zur Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen Vertreter aus aller Welt zusammenfanden, brauchte es genau diese typisch reformierte und in die Gegenwart gerichtete Haltung, um auf die Trümmer nicht nur der Kirchengebäude, sondern auch der kirchlich verfassten Bekenntnisse reagieren zu können. Der Heidelberger Katechismus spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Man kann das als Schwäche deuten, tatsächlich aber ist es gerade seine Stärke! 

Teil 2:  Der Lebenszusammenhang des Heidelberger Katechismus – seine Entstehung

Auch der Heidelberger Katechismus ist hervorgegangen aus dem „unmittelbaren Lebensbedürfnis einer Kirche“ (Karl Barth)[4]. Er ist, wie Barth es formuliert, „nicht ein Stück abstrakter Theologie, abstrakter Polemik oder Kirchenpolitik,… sondern ist als ein Element kirchlichen Lebens anzusprechen.“

Das Entstehungsjahr des Heidelberger Katechismus 1563 ist der Zeit der Konfessionalisierung zuzurechnen. Die neuen reformatorischen Kirchen suchten sich, nach heftigen innertheologischen Streitigkeiten zwischen Lutheranern, Calvinisten und Zwinglianern (insbesondere beim Abendmahl, bei dem es in der Heiliggeistkirche zu Heidelberg beinahe zu Rempeleien zwischen den austeilenden Pfarrern gekommen wäre) gegen die Rekatholisierung zu stabilisieren. Gemeinsam gelang ihnen dies nicht, was auch der politischen Situation geschuldet war, denn das reformatorische Aktionsbündnis zwischen der Kurpfalz und Württemberg trug nicht mehr. In dieser Situation wollte Kurfürst Friedrich III von der Pfalz Sorge für einen Glaubenskanon und eine gottesdienstliche Ordnung tragen, die sich auf die Schweizer Reformatoren und die Vermittlungstheologie des Philipp Melanchthon stützte. So beauftragte er den Heidelberger Professor Zacharias Ursinus, einen Katechismus zu entwerfen, der Bestandteil einer neuen Kirchenordnung sein sollte. Er war nicht als Bollwerk gegenüber anderen Konfessionen gedacht, sondern als integratives Zeugnis von der anhaltenden Gnade Gottes gegenüber den Menschen. Bekenntnis und Kirchenordnung, Unterricht in der Lehre und Gemeindeleben gehören im Heidelberger Katechismus zusammen. Deshalb wurde er ab 1604 nicht nur als Unterrichtsbuch, sondern auch als Bekenntnisschrift anerkannt.

Der Heidelberger Katechismus ist hauptsächlich das Werk des Zacharias Ursinus, wurde aber mehrfach überarbeitet. Bis heute ist die Verfasserfrage im Einzelnen nicht eindeutig geklärt, aber wir können ihn in seiner jetzigen Gestalt durchaus als ein Gemeinschaftswerk betrachten. Die damalige Kirchenordnung der Reformierten (die aufgrund ihres Synodalprinzips weltweit nicht umsonst als Vordenker von verfassten Demokratien gesehen werden) sah ausdrücklich vor, dass „unsere fürnehmsten Theologen, Superintendenten, Kirchendiener und andere gottselige gelehrte Männer“ daran arbeiteten. Es handelt sich also beim Heidelberger Katechismus um einen Text, der aus der Gemeinde hervorgegangen ist, auch wenn Zacharias Ursinus besonderen Anteil daran hatte. Er war 1534 in Breslau geboren, ein Schüler Melanchthons in Wittenberg und Calvins in Genf und kam 1562 als Professor nach Heidelberg. 1583 starb er mit 49 Jahren in Neustadt in der Pfalz. Zur Zeit der Abfassung des Katechismus war Ursinus gerade mal 28 Jahre alt. Bereits in einem Catechismus minor nahm er die Dreiteilung von des Menschen Elend (das er nach dem Tod der Mutter noch in seiner Schulzeit und dem des Vaters während seines Studiums explizit als Verzweiflung durchlitt), des Menschen Erlösung und seiner Dankbarkeit vor. Diese Dreiteilung ist auch dir Vorlage für den Heidelberger Katechismus. Von Ursinus stammt auch die berühmte erste Frage: „Quam habes firmam in vita et morte consolationem?“ Der ebenfalls in Heidelberg als Professor und Pfarrer tätige Caspar Olevian (geb. 1536 in Trier) überarbeitete den Katechismus sprachlich. Olevian war als Reformator vertrieben worden, zählte also zu den Flüchtlingen, die wegen ihres reformierten Glaubens in die Kurpfalz gekommen waren.

Der Heidelberger Katechismus ist ein Zeugnis des wandernden Kirchenvolkes von unterwegs auf dem Wege zwischen der bereits erwiesenen Gnade, die Gott den Gläubigen in Zeiten der Verfolgung erwiesen hatte und dem noch ausstehenden Reich Gottes. Die erste Frage nach dem einzigen Trost im Leben und im Sterben zielt daher über das Leben des Einzelnen hinaus auf das Leben der Kirche. In 129 Fragen dient der Heidelberger Katechismus dem Erhalt der reformierten Kirchen, indem er sowohl den Einzelnen (Pfarrer, Lehrer, aber auch die Jugend) unterweist, dann aber auch im Gottesdienst verlesen werden sollte. Dabei wurde der Katechismus schon recht bald in 52 Abschnitte eingeteilt, so dass jede Woche ein Thema behandelt wurde. Die Themen wurden mit der Liturgie verknüpft, damit die Unterweisung des Einzelnen mit dem praktischen Gottesdienstleben zusammenfiel. Entgegen der späteren Auffassung Rousseaus, dass das Auswendiglernen von Katechismen die Leute verdummen würde, empfahlen die Pfarrer den Kindern explizit, den Katechismus auswendig zu lernen, damit sie ihn später mit eigenen Worten wiedergeben könnten. Für diejenigen, die sich damit schwer taten, gab es von Anfang an auch Kurzfassungen mit bspw. nur 22 Fragen. Als Bekenntnisschrift allgemeinen evangelischen Glaubens ist der Heidelberger Katechismus zurückhaltend in den typisch calvinistischen Akzentuierungen wie z.B. der Prädestination und lässt diese Themen nur wenig und eher seelsorgerlich als dogmatisch anklingen (wie sie übrigens auch bei Calvin ursprünglich gemeint waren). 

Nach der Einführung in der Pfalz ist der Heidelberger Katechismus rasch auch in anderen reformatorischen Gebieten bekannt geworden. Die Europasynode von Dordrecht 1618/19 empfahl den Reformierten, ihn als ihre Bekenntnisschrift anzunehmen. Als hätte man ein Exemplar in den Rhein und ein weiteres in die Donau geworfen, nahm er bereits im 17. Jahrhundert über Deutschland und die Schweiz  seinen Lauf nach Holland und Ungarn und schließlich um die ganze Welt.

3. Teil: Was lehrt und bekennt der Heidelberger Katechismus?

Wenn vom Heidelberger Katechismus etwas bekannt ist, dann die erste Frage:

„Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?

Dass ich mit Leib und Seele / im Leben und im Sterben nicht mir, / sondern meinem getreuen Heiland / Jesus Christus gehöre.

Er hat mit seinem teuren Blut / für alle meine Sünden vollkommen bezahlt / und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst; / und er bewahrt mich so, / dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel / kein Haar von meinem Haupt kann fallen, / ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.

Darum macht er mich auch / durch seinen Heiligen Geist / des ewigen Lebens gewiss / und von Herzen willig und bereit, / ihm forthin zu leben.“

Diese erste Frage ist eine Ouvertüre für den gesamten Katechismus. Sie enthält in nuce den dreiteiligen Aufbau der Fragen 3-129. „Von des Menschen Elend“ (Fragen 3-14),  „Von des Menschen Erlösung“ (Fragen 15-85 mit Gotteslehre, Kirche, Sakramenten) und „Von der Dankbarkeit“ (Fragen 86-129 mit den 10 Geboten nach der reformierten, biblischen Zählung mit dem Bilderverbot, und vom Beten).

Während wir in Luthers Katechismen die objektive Dreiteilung von „Gesetz“ – „Evangelium“ und „christlichem Leben“ vorfinden, verschiebt der Heidelberger Katechismus die Perspektive von der dogmatischen Funktion auf die Erfahrung des Menschen: der Mensch in seinem Elend als von Gott getrennt; dann statt der lutherischen Bezeichnung „Evangelium“ der Mensch, der die Erlösung erfährt, also das, was das Evangelium für den Menschen bewirkt; und schließlich, statt der lutherischen Bezeichnung des christlichen Lebens, der große dritte Teil über die Dankbarkeit, also die Erfahrung, aus der der erlöste Mensch handeln wird. Die Lebenserfahrung des Menschen ist sozusagen die Ausgangssituation, auf die der Katechismus antwortet, nicht umgekehrt, als wäre da ein theologischer Leitfaden für das Leben, an dem der Mensch sein Leben ausrichten müsste. Sprachlich drückt sich das in zwei Stilformen des Heidelberger Katechismus aus:

Zum ersten ist die literarische Frage-Antwort-Form der angemessene Ausdruck für den HD. Die Frage als sprachliche Stilform liegt ja dem Lernen überhaupt zugrunde. Auch darin ist der jüdische Glaube Vorbild für die Reformierten, werden doch die entscheidenden Einsichten über den Glauben durch Fragen vermittelt: die traditionelle Frage des Kindes beim Passafest: „Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?“. Auch die Einsicht in Schuld vermittelt sich durch Fragen, so an Kain: „Wo ist dein Bruder?“, die nicht nach einem Aufenthaltsort, sondern nach dem Opfer fragt. Die Fragerichtung ist hierbei nicht nur die vom Kind zum Erwachsenen im Sinne der Suche nach Unterweisung, sondern auch die umgekehrte: Indem der Erwachsene antwortet, zeigt er sich einsichtig in den Glauben, legt er ein Bekenntnis ab und stellt sich hinein in die Gemeinschaft der Glaubenden.[5] Deshalb ist der Heidelberger Katechismus auch stilistisch Unterricht und Bekenntnis in einem.

Zum zweiten gehören die persönlichen Formulierungen „dein“ und „ich“ zum reformierten Katechismus. Bei Luther heißt es zu den einzelnen Lehrstücken nach jeder Aussage „Was ist das?“ Hier geht es um eine Information und Vermittlung von christlicher Theologie. Der Heidelberger fragt: „Was ist dein einziger Trost…?“ Und antwortet: „Dass ich mit Leib und Seele…“ Oder in der 26. Frage nach dem Schöpfer: „Ich glaube, dass der ewige Vater… mein Gott und mein Vater ist.“ Die allgemeine Erkenntnis der Reformatoren wird dadurch zu der je meinen Erkenntnis, das verbindliche konfessionelle Bekennten zu je meinem Bekennen. Während die Frage-Antwort-Form die Richtung vom Einzelnen zum gemeinsamen Bekennen beschreibt, so zeigt die persönliche Anrede und Antwort die Richtung vom allgemeinen Bekenntnis zum Nachvollziehen durch den Einzelnen an.  

Anschaulich schildert der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace diesen Weg in der Parabel von den Fischen: „Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in der Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: `Morgen Jungs. Wie ist das Wasser?´ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: `Was zum Teufel ist Wasser?´“ [6] Die Fische machen sich die allgemeine Erkenntnis „das ist Wasser“ im Schwimmen als ihre Erfahrung zu eigen, sie entdecken es als ihr Element. Dabei geht es Wallace eben nicht um die Konstruktion einer allgemein gültigen Theorie, sondern um die Entdeckung des Wesentlichen, das sich vor unseren Augen immer wieder verbirgt.

Oder denken wir, um im Bild zu bleiben, an den wunderbaren Zeichentrickfilm „Findet Nemo!“, der in dem Moment seinen Anfang nimmt, als der kleine Fisch Nemo seinen Papa anfleht: „Bitte, Papa, darf ich hinausschwimmen?“ Und dann beginnt sein Abenteuer, jenseits der behüteten Welt zwischen den Seeanemonen, und er erfährt, was das Meer ist und was ein Aquarium, was Freiheit und Gefangenschaft, Gut und Böse ist, was Gefahr bedeutet und was echte Freunde sind.

Der Heidelberger Katechismus „lebt“ aus den Erfahrungen des Menschen, der „hinausgeschwommen“ ist und seine behütete Welt verlassen hat. Der mit allen Wassern gewaschen wird, der Schlimmes erlebt und sich von Gott entfremdet und der in seiner Verzweiflung dann sagt: „Das ist mein Elend!“ und der erfahren hat, dass weder sein Tun noch sein Wissen noch seine Intelligenz ihn trösten und dann bekennt: „Das ist mein einziger Trost im Leben und im Sterben, dass ich Jesu eigen bin.“ Und der das Gute tut, nicht weil es dafür eine ethische oder moralische Verpflichtung gäbe, sondern aus der Erfahrung der Dankbarkeit.

Zentral ist daher die 21. Frage, in der der Glaube beschrieben wird:

„Was ist wahrer Glaube?

Wahrer Glaube ist nicht allein / eine zuverlässige Erkenntnis, / durch welche ich alles für wahr halte, / was uns Gott in seinem Wort geoffenbart hat, /sondern auch ein herzliches Vertrauen, / welches der Heilige Geist / durchs Evangelium in mir wirkt, / dass nicht allein anderen, / sondern auch mir / Vergebung der Sünden, ewige Gerechtigkeit und Seligkeit /
von Gott geschenkt ist, / aus lauter Gnade, / allein um des Verdienstes Christi willen.“ 

„… nicht nur zuverlässige Erkenntnis, … sondern auch ein herzliches Vertrauen…“. Das Vertrauen beginnt da, wo alle Sicherheit aufhört, da, wo der kleine Nemo hinausschwimmt, oder wo es bei Wim Wenders im Film „Bis ans Ende der Welt“ aus dem Navigationssystem tönt: „Sie verlassen jetzt das kartographierte Gelände.“ Hier beginnt der Glaube, hier beginnt eigentlich erst jede Religion, weil alle Theorie, die wir zuvor gelernt haben mögen, aufhört und jeder weitere Meter uns auf unbekanntes Terrain bringt. Auch Abraham und das Volk Israel wussten nicht, ob und wie sie das gelobte Land jemals erreichen würden, und dennoch zogen sie auf eine Verheißung hin aus. Wer meint, ein Katechismus sei das „kartographierte Gelände“, ein Stadtplan, ein Navigator für das, was einer zu glauben hat, und mit dem wir uns dann abgesichert durch unsere Welt bewegen können, hat zumindest den Heidelberger Katechismus nicht verstanden. Dieser weist uns darauf hin, dass der Glaube genau da anfängt, wo alle Sicherheiten aufhören. „Was ist dein einziger Trost im Leben“ – und eben auch „im Sterben?“ Was also ist Trost im absolut Unbekannten, für das es keinen Plan mehr gibt? Der Glaube ermöglicht und ermutigt, getrost an diese Grenzen des Lebens hinauszuschwimmen. Das Wort „Trost“ hat dieselbe Wurzel wie das Englische „trust“ (Vertrauen). Trost und Trust gehören zusammen, wenn wir uns trauen, das kartographierte Gelände zu verlassen. Auch das englische „truth“ steckt in „trust“, weil der Angefochtene und zu Unrecht Verurteilte in seinem Elend nur dann echten Trost erfährt, wenn die Wahrheit aufgedeckt wird. Daher kommt das Vertrauen im Heidelberger Katechismus da zur Sprache, wo es um die Erlösung des Menschen geht: In der Glaubensfrage 21, dann aber auch in der Antwort zur 26. Frage, die von Gott, dem Schöpfer handelt:

„Ich glaube, dass der ewige Vater / …mein Gott und Vater ist. / … Auf ihn vertraue ich und zweifle nicht, / dass er mich mit allem versorgt, / was ich für Leib und Seele nötig habe / und auch alle Lasten, die er mir auferlegt, / mir zum Besten wendet.“

Und in der Antwort zu Frage 28: „Was nützt uns die Erkenntnis der Schöpfung und Vorsehung Gottes?

Gott will damit, dass wir in aller Widerwärtigkeit geduldig, / in Glückseligkeit dankbar /

und auf die Zukunft hin voller Vertrauen / zu unserm treuen Gott und Vater sind, / dass uns nichts / von seiner Liebe scheiden wird, / weil alle Geschöpfe so in seiner Hand sind, / dass sie sich ohne seinen Willen / weder regen noch bewegen können.“

Das oft als heikel empfundene Thema der Vorsehung, das hier anklingt, ist überhaupt nur verständlich vor dem Hintergrund, dass es darin um ein persönliches Bekenntnis zu Gott als einem Vater, der mich erhält, geht. Die Aussage, dass Gott der liebende Vater aller Menschen ist, kann ja nur als Bekenntnis verstanden werden, so wie ein Kind sagt: „Mein Papa ist der beste Papa der Welt“ – jenseits aller dogmatischen Wahrheit; keiner käme je auf die Idee, dem Kind zu unterstellen, es sage damit nicht die Wahrheit! 

Freilich sind die Erfahrungen im 16. Jahrhundert zuweilen andere als die im 21., weshalb wir durchaus die Freiheit haben, den Katechismus für unsere Zeit neu auszulegen (wie in den Büchern „Kanzel in der Welt“ und „Nötig zu wissen“, oder dem Heidelberger Katechismus-Brevier, die rechtzeitig zum Jubeljahr erschienen sind)[7], ihn fortzuschreiben und zu ergänzen oder gar einen neuen zu schreiben, wie es Gerd Theißen in seinem Buch „Glaubenssätze“[8] jüngst getan hat. Aber doch gibt es bestimmte Grundbefindlichkeiten, die der Heidelberger im ersten und zweiten Teil in Worte fasst, die Menschen zu allen Zeiten erleben. Meines Erachtens sind dies genau jene Sätze, mit denen wir uns zunächst schwer tun, weil sie uns düster und schwierig anmuten:

Frage 11 zur Barmherzigkeit Gottes:    

„Gott ist wohl barmherzig, / er ist aber auch gerecht. / Deshalb fordert seine Gerechtigkeit, /

dass die Sünde, / die Gottes Ehre und Hoheit antastet, / mit der höchsten, / nämlich der ewigen Strafe an Leib und Seele gestraft wird.“

Die Antwort auf die 11. Frage ist falsch verstanden, wenn man sie als moralische Androhung liest. Vielmehr drückt sie die Erfahrung aus, wie es um uns bestellt ist, wenn wir in unseren Sünden gefangen bleiben. Mit Worten Ludwig Wittgensteins:

„Das Christentum ist keine Lehre, ich meine, keine Theorie darüber, was mit der Seele des Menschen geschehen ist und geschehen wird, sondern eine Beschreibung eines tatsächlichen Vorgangs im Leben des Menschen. Denn die `Erkenntnis der Sünde´ ist ein tatsächlicher Vorgang und die Verzweiflung desgleichen und die Erlösung durch den Glauben desgleichen. Die, die davon sagen, beschreiben einfach, was ihnen geschehen ist, was immer einer dazu sagen will.“[9]

Wittgenstein sieht, dass es im Erkennen der Sünde um einen Vollzug im eigenen Leben geht, jenseits dessen, was man von außen über die Sünde sagen wollte. Das geschieht bereits in diesem Leben, nicht als Strafe in einer jenseitigen Hölle, sondern in der ganz diesseitigen, mit sich selbst als unfreiem Menschen leben zu müssen, was sicher die Höchststrafe ist. Das stellt auch die 12. Frage mit der Formulierung „schon jetzt“ gleich darauf sicher.[10] Die Hölle wird im Katechismus in der 44. Frage nicht etwa auf nach dem Tode verschoben, sondern manifestiert sich in den eigenen „Anfechtungen“.

Der Heidelberger Katechismus ist, gerade durch seinen persönlichen Bekenntnischarakter, zugänglich für alle Menschen, sofern sie Erfahrungen mit ihrem Elend, mit Erlösung und Dankbarkeit machen. Insofern ist er nicht nur ein Beitrag der reformierten Tradition zur Ökumene, sondern in sich selbst ein durch und durch ökumenischer Text.

Wenn wir die Tradition am eigenen Erfahrungshorizont prüfen, kann es geschehen, dass die Situation eine Veränderung und Modifikation des Bekenntnisses im Sinne des Bekenntnisses erfordert. Erst nachträglich ist von unbekannter Hand eine Antwort in den Heidelberger Katechismus eingefügt worden, die dann auch nachträglich in reformatorischer Freiheit wieder korrigiert wurde: die Antwort auf die 80. Frage nach dem  Unterschied zwischen dem Abendmahl des Herrn und der päpstlichen Messe. In der Antwort, die zunächst konziliant melanchthonisch formuliert worden war, ist nun von der „vermaledeiten Abgötterei“ der katholischen Messfeier die Rede. Dies ist vermutlich den entsetzlichen Erfahrungen der Glaubensflüchtlinge im Zuge der Rekatholisierung geschuldet und vor diesem Hintergrund nachvollziehbar.  Dem Stand der ökumenischen Gespräche von heute ist die Verurteilung der katholischen Messfeier jedoch unangemessen. Das Moderamen des Reformierten Bundes hat daher im Jahr 1977 nach langem Ringen erklärt: „Diese Verwerfung wurde vor 400 Jahren formuliert; sie lässt sich nach Inhalt und Sprache in dieser Form nicht aufrechterhalten. Die Polemik gegen die Wiederholung des einmaligen Opfers Christi am Kreuz und die Anbetung der Elemente (Brot und Wein) wird dem nicht gerecht, was im ökumenischen Gespräch inzwischen an Verständigung erreicht werden konnte. Der bleibende Lehrunterschied besteht darin, dass die Eucharistie in der römisch-katholischen Kirche als `Opfer´, dass Abendmahl im evangelischen Gottesdienst als `Mahlfeier´ begriffen wird; doch sollte sich dieser Unterschied nicht kirchentrennend auswirken.“ – Dies ist ein wunderbares Zeugnis von reformierter Freiheit, das eigene Bekenntnis zu korrigieren!

4. Teil: Was können oder müssen wir heute bekennen? Der Heidelberger Katechismus – 450 Jahre später

Wir haben festgestellt, dass sich der Heidelberger Katechismus aus dem „unmittelbaren Lebensbedürfnis“ (Karl Barth) einer Kirche ergeben hat. So bleibt die Frage für uns: Was tut der Kirche heute Not? Woran krankt unsere Kirche? Was muss heute „bekannt“ werden (im doppelten Sinne!), damit die Kirche der lebendige Leib Christi sein kann? In meiner Gemeindeerfahrung spiegeln sich zwei große Nöte der Kirche, die, auch wenn sie sich anscheinend völlig unterschiedlich zeigen, zusammengehören. Die erste Not finde ich in der Resignation der Kirche vor der Wissenschaft; die zweite Not möchte ich mit dem Soziologen Richard Sennett den „Narzissmus als die protestantische Ethik von heute“ benennen.    

Die erste Not begann, als durch die Erkenntnisse in der Physik und Biologie, in Geologie und Evolutionstheorie ein neues Weltbild entstand und der christliche Glaube zutiefst erschüttert wurde. Von da ab geriet die Kirche in eine heillose Defensive, sich gegen die immer neuen Erkenntnisse aus der Naturwissenschaft behaupten zu müssen. Sie tat und tut dies, indem sie einigermaßen hilflos versucht, die Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften in die Schöpfungstheologie  zu integrieren. Erleichtert stellen die Theologen dann fest, dass auch Astrophysiker keine letzte Antwort auf die Frage nach der Entstehung der Erde haben und dass auch die Vertreter der Evolutionstheorie letztlich rätseln, warum aus dem Affen der Mensch wurde und wie die genetischen Veränderungen dafür zustande kamen. Diese letzten Rätsel bleiben dann dem aufgeklärten und naturwissenschaftlich gebildeten Menschen noch als Nische für den Glauben. Aber was ist das für eine armselige Lücke, in die sich die Kirche dann noch rettet! Zuletzt beharrt sie, da sie den Fortgang der Genforschung nicht stoppen kann, auf der absurden Vorstellung, es müsse doch so etwas wie ein „Religionsgen“ geben. Es ist dies eine Vermischung aus naturwissenschaftlicher Erkenntnis und der Sehnsucht nach einem Glauben jenseits der Naturwissenschaft, da diese uns nicht glücklich machen kann. Die Not der Kirche sehe ich darin, dass sie sich auf eine Ebene mit den Wissenschaften begeben hat. Dabei verkennt sie, dass die Religion in einer ganz anderen Liga spielt als die Naturwissenschaft: In der Religion bekennen sich Menschen zu einer wie auch immer geprägten Gottheit. Sie beten sie an, sie leben aus ihrer Kraft und fühlen sich darin geborgen und befreit. Das alles spielt sich jenseits der Naturwissenschaften ab. Der Dichter redet ja auch anders über den Wald als der Förster[11]. Und das Kind, das sich zu seinem geliebten Papa bekennt, macht keine Aussage über seine genetische Abstammung, sondern erklärt dem Papa seine Zuneigung. Auf dieser Ebene bekennen wir unseren Glauben an Gott. Wenn wir zum Beispiel mit alten Worten die Auferstehung Jesu bekennen, so geht es darin überhaupt nicht um eine biologische oder physikalische Aussage, sondern um dies (Frage 45): „Was nützt uns die Auferstehung Christi?

Erstens: / Christus hat durch seine Auferstehung / den Tod überwunden, / um uns an der Gerechtigkeit Anteil zu geben, / die er uns durch seinen Tod erworben hat.

Zweitens: / Durch seine Kraft werden auch wir / schon jetzt erweckt zu neuem Leben.

Drittens: / Die Auferstehung Christi / ist uns ein verlässliches Pfand / unserer seligen Auferstehung.“

Bei der Auferstehung geht es also um unsere Gerechtsprechung  jenseits menschlicher Verurteilungen; um eine neue Kraft, die uns schon jetzt am Leben hält. Insofern ist selbst das neuste Buch des Papstes „Die Kindheitsgeschichten Jesu“ ein hilfloses Zeugnis des Rückzugsgefechtes der Kirche. In dem ersten Band Ratzingers ging es um Jesu öffentliches Wirken, im zweiten um Jesu Auferstehung und im dritten, der explizit den anderen beiden chronologisch vorangestellt wird, um die Kindheit Jesu – als sei die Kindheit der erste und die Auferstehung der letzte Teil einer Biografie. Aber ist nicht der Glaube an die Auferstehung vielmehr ein Bekenntnis dazu, dass Gott aus einem gewaltsam beendeten Leben etwas ganz und gar Neues schaffen kann und uns noch im Tod noch gerecht spricht?       

Die zweite Not der Kirche heute scheint mir in einer Frömmigkeit zu liegen, die sich nach außen abschließt und das Heil nur noch in sich selbst sucht. Es ist dies scheinbar eine entgegengesetzte Bewegung zu der eben dargestellten: Während die einen das Heil außen in der Wissenschaft suchen und ihr ein „Religionsgen“ implementieren, so forschen die anderen in der eigenen Gefühlswelt, in der ich ganz mir und meinem Gott gehöre. Gemeinsam ist aber beiden die Unbedingtheit und Absolutheit, mit der sie sich von der vorfindlichen Welt abschotten: Die Suche nach einem „Religionsgen“ dient dann nicht mehr der Wissenschaft, sondern manifestiert den narzisstischen Versuch, ein durch die Wissenschaft abgesicherter religiöser Mensch sein zu dürfen. Diese Suche ist aber derjenigen nach dem religiösen Empfinden in sich selbst ganz ähnlich, denn auch diese koppelt sich von der realen Welt ab. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett, der sich nur am Rande mit dem Zustand der Kirche beschäftigt, beschreibt das in seinem Werk über „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ (1974 englisch, 1983 deutsch) als die Not einer narzisstischen Gesellschaft. Der Narzisst sucht nach Erfüllung durch Versenkung in das eigene innere Selbst: „Nichts ist wirklich, wenn ich es nicht empfinde“, sagt er. „Wenn ich es nicht empfinde, kann es nichts Lebendiges außerhalb von mir geben“.[12] Gerade in den selbsterfahrungsbezogenen Angeboten unserer Kirche schlägt sich dieses Bedürfnis nach einem persönlichen Glauben, der sich in den eigenen Empfindungen findet, nieder. Zunehmend beobachten wir dies aber auch in den psychischen Erkrankungen von Pfarrerinnen und Pfarrern, die gegenüber ihrer Gemeinde möglichst authentisch sein wollen und zugleich eine große innere Leere fühlen. Die Selbstdarstellung bestärkt sie dann in ihrer Überzeugung, die eigenen Gefühlsregungen seien die einzige verlässliche Realität, während die Gemeinde zur Bühne degradiert wird. Sennett spricht von der „Ethik des modernen Protestantismus“, die sich an die augenscheinliche Authentizität einer leitenden Persönlichkeit (z.B. des Pfarrers oder der Pfarrerin) knüpft. Das Fatale daran ist nicht die Authentizität selbst, sondern dass sie der Maßstab geworden ist, an dem die Gesellschaft die Wahrheit misst. Die (evangelische) Kirche wird dann nicht mehr nach ihrer Botschaft und ihren Taten beurteilt, sondern daran, ob sie auch authentisch „herüberkommt“. Das Überfahren einer roten Ampel unter erheblichen Alkoholeinfluss wird nicht als lebensgefährliche Bedrohung im Straßenverkehr wahrgenommen, während der authentisch erscheinende Umgang damit zum Vorbild einer protestantischen Haltung erhoben wird.

„Wenn ich nur etwas empfinden könnte!“ lautet das Bekenntnis des Narzissten. Es ist aber kein bescheidenes Eingeständnis, sondern gerade das Gegenteil: Nichts reicht ja aus, um in ihm das Empfinden zu wecken. Hinter der Leere steht die Anklage, dass keiner es schafft, in ihm Empfindungen hervorzurufen. Damit setzt der Narzisst die anderen permanent ins Unrecht: ihnen gelingt es nicht, diese Empfindungen in ihm zu wecken.[13] Die Botschaft des christlichen Glaubens ist dem aber entgegengesetzt, denn sie ist auf den Nächsten ausgerichtet. Das zu erkennen tut der Kirche und uns Christenmenschen not.

Der dankbare Mensch hört auf, in sich selbst nach der wahren Empfindung zu suchen. Er hat etwas bekommen und muss nicht unbescheiden immer mehr erwarten. Der dankbare Mensch ist gerade deswegen bescheiden, weil er anders als der Narzisst, die Güte Gottes bereits empfangen und ergriffen hat. Darum ist er befreit von sich und bereit, das Gute zu tun. Der Narzisst handelt aus Angst, er könne sich in dieser Welt verlieren und klammert sich an seine eigene innere Welt. Aber der freie Mensch sucht die Welt, und wenn er das kartographierte Gelände verlässt, beginnt das Abenteuer erst für ihn. Aus diesem Holz ist der Heidelberger Katechismus geschnitzt. Er bekennt, aus dem Erleben der Welt, aus ihrem Elend und der Erfahrung heraus, erlöst zu sein, was not ist zu glauben. Wer frei ist, hat keine Angst, seine Konfession oder seinen Glauben zu verlieren. Wer frei ist, hat überhaupt keine Angst mehr, etwas zu verlieren. „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!“ (Joh. 16, 33b) oder: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich nicht mir gehöre, sondern Christi Eigen bin.“


[1] Vortrag am 24.1.13 im Mannheimer Pfarrseniorenkreis und am 20.2.13 im Ökumenischen Bildungszentrum Sanctclara in Mannheim.

[2] Ako Haarbeck, Was ist reformiert?, in: Evangelisch reformiert, hg. Im Auftrag des Moderamens des Reformierten Bundes, hg. Von Jochen Pitsch und Jörg Schmidt, Neukirchen-Vluyn 1987, 10-22.

[3] Ebd.

[4] Karl Barth, Die christliche Lehre nach dem Heidelberger Katechismus (Vorlesung Bonn, Sommersemster 1947), Zürich 1948.

[5] S. dazu Uwe Hauser, Mit Kindern lernen und verstehen, in: Zugänge zum Heidelberger Katechismus, hg. von Martin Heimbucher, Christoph Schneider-Happrecht und Aleida Siller, Neukirchen-Vluyn 2012, 185-192.

[6] David Foster Wallace, Das hier ist Wasser, Köln 42012, 9.

[7] Kanzel in der Welt, hg. von Traugott Schächtele und Christoph Schneider-Happrecht, Leipzig 2012; Nötig zu wissen, hg. von Helmut Schwier und Hans-Georg Ulrichs, Heidelberg 2012; Heidelberger Katechismus-Brevier, hg. von Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2012.

[8] Gerd Theißen, Glaubenssätze, Gütersloh 2012.

[9] Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe Bd. 8 (Über Gewissheit), Vermischte Bemerkungen 1937, Frankfurt a.M. 1994, 488.

[10] Frage 12: „Wenn wir also nach dem gerechten Urteil Gottes schon jetzt und ewig Strafe verdient haben, wie können wir dieser Strafe entgehen und wieder Gottes Gnade erlangen?“

[11] Diesem immer wiederkehrenden Beispiel in den Vorlesungen des Heidelberger Professoren Dietrich Ritschl verdanke ich die Grundlagen meines Redens von Gott.

[12] Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin 22008, 581.

[13] Ebd.


Gesine von Kloeden, Pfarrerin in der Neckarstadt, Januar 2013