Introvertierte Reformierte?

Ein Impuls zu 150 Jahren C. G. Jung


Carl Jung um 1935 © Wikicommons/ETH-Bibliothek_Portr_14163

C. G. Jung, der Begründer der Analytischen Psychologie, dessen Geburt sich in diesem Jahre zum 150. Male jährt, wirft mit seiner Analyse des Abendmahlsstreites zwischen Zwingli und Luther die Frage nach einer möglichen psychologischen Kausalität konfessioneller Differenzen auf.

Jungs Kindheit in reformiertem Umfeld

Vor 150 Jahren, am 26. Juli 1875, wurde Carl Gustav Jung als zweiter Sohn eines reformierten Pfarrers – auch sein Großvater mütterlicherseits sowie seine acht Onkel waren Pfarrer – im am Schweizer Ufer des Bodensees gelegenen Dorf Kesswil (Kanton Thurgau) geboren. Ein halbes Jahr später zog die Familie „in die Pfarrei des Schlosses Laufen oberhalb des Rheinfalls“, wobei sich Jung später „an das Pfarrhaus, den Garten, das Buchihüsli, die Kirche, das Schloß, den Rheinfall, das Schlößchen Wörth und den Bauernhof des Meßmers“, hinter dem „eine große Wise“ lag, erinnern sollte. Auch wie sein Vater „im Talar“ bei einer Beerdigung „auf dem nahen Gottesacker“ „mit hallender Stimme“ sprach, blieb ihm in Erinnerung.i

Im Jahre 1879 zog Jung mit seiner Familie nach Klein-Hüningen bei Basel um. Aus dieser Zeit stammen seine „frühesten Erinnerungen an die bildende Kunst“:

„Im elterlichen Hause, dem Pfarrhaus aus dem 18. Jahrhundert, gab es ein feierliches dunkles Zimmer. Dort standen die guten Möbel, und an den Wänden hingen alte Gemälde. Ich erinnere mich vor allem an ein italienisches Bild, welches David und Goliath darstellte. Es war eine Spiegelkopie aus der Werkstatt des Guido Reni, das Original hängt im Louvre. Wie es in unsere Familie gekommen ist, weiß ich nicht.“ii

Als Kind ging Jung nach eigener Aussage „höchst ungern in die Kirche“, wobei Weihnachten „die einzige Ausnahme“ bildete:

„Der Weihnachtschoral ‚Dies ist der Tag, den Gott gemacht‘ gefiel mir über die Maßen. Am Abend kam der Weihnachtsbaum. Das ist das einzige christliche Fest, das ich mit Inbrunst feierte.“iii

Diese und weitere „Erinnerungsinseln, die in einem unbestimmten Meere schwimmen, anscheinend ohne Verbindung“iv, prägten Jung und beeinflussten seine spätere Arbeit als Begründer der Analytischen Psychologie.
 

Jungs psychologische Typologie

Zu Jungs bekanntesten Werken zählt sein 1921 erschienenes Buch „Psychologische Typen“, in dem der Autor zwei „Grundhaltungen“ menschlicher Psyche unterscheidet. Die erste, von ihm „Extraversion“ genannte Grundhaltung charakterisiert Jung folgendermaßen:

„Die Extraversion ist gekennzeichnet durch Hinwendung zum äußeren Objekt, Aufgeschlossenheit und Bereitwilligkeit gegenüber dem äußeren Vorgang, Verlangen, sowohl auf diesen einzuwirken, wie sich von diesem bewirken zu lassen, Lust und Bedürfnis, dabei zu sein und mitzutun, Fähigkeit, Betrieb und Lärm jeglicher Art zu ertragen, ja als lustvoll zu empfinden, schließlich stetige Aufmerksamkeit auf die Beziehung zur Umwelt [...]. Weltanschauung und Ethik sind dementsprechend in der Regel möglichst kollektiver Natur [...].“v

Dieser „Extraversion“ stellt Jung die „Introversion“ als Antipodin gegenüber:

„Die ‚Introversion‘ dagegen, welche sich nicht dem Objekt, sondern dem Subjekt zuwendet und sich eben gerade nicht am Objekt orientiert, ist nicht ohne weiteres durchschaubar. Der Introvertierte kommt nämlich nicht entgegen, sondern ist wie auf einem ständigen Rückzug vor dem Objekt begriffen. Er ist dem äußeren Vorgang gegenüber verschlossen [...]. [...] Je mehr auf ihn eindringt, desto größer wird sein Widerstand dagegen. Er liebt das ‚Dabeisein‘ keineswegs, ebensowenig enthusiastisches Mittun und Nachahmung. Was er tut, wird er auf seine Art tun, indem er äußere Beeinflussung weitgehend ausschaltet. [...] Er nimmt aber auch die Welt nicht an, jedenfalls nicht unmittelbar, sondern es muß alles zuerst an seinen kritischen Maßstäben gemessen und bewertet werden. Schließlich wird nur das angenommen, was man aus so und so vielen subjektiven Gründen zum Eigenen machen kann.“vi


Jungs Analyse des Abendmahlsstreites zwischen Zwingli und Luther

Dass die beiden geschilderten Grundhaltungen zu verschiedenen Standpunkten führen können, führt Jung am Beispiel von Luthers und Zwinglis antagonistischen Abendmahlsauffassungen aus:

„Obschon der Gedanke, daß eine Zeremonie und ihre konkrete Ausübung eine objektive Heilsbedeutung habe, eigentlich durchaus unevangelisch ist, indem die evangelische Richtung sich gerade gegen die Bedeutung der katholischen Institutionen wendete, so konnte Luther sich doch nicht befreien von dem unmittelbar wirkenden sinnlichen Eindruck des Genießens von Brot und Wein. Er konnte darin nicht bloß ein Zeichen erblicken, sondern die sinnenfällige Tatsächlichkeit und ihr unmittelbares Erleben waren für ihn ein unerläßliches religiöses Erfordernis. Er forderte darum die wirkliche Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl. [...]

Es ist kaum anzunehmen, daß es bloß die Macht der Tradition war, welche Luther bestimmt hat, dieses Dogma festzuhalten, denn gerade er hat es zur Genüge bewiesen, daß er mit den traditionellen Glaubensformen aufräumen konnte. Man wird wohl nicht fehlgehen in der Annahme, daß es gerade die Berührung mit dem ‚Wirklichen‘ und Stofflichen im Abendmahl war, deren Gefühlsbedeutung für Luther selbst über dem evangelischen Prinzip stand, daß nämlich das Wort der alleinige Träger der Gnade ist, und keine Zeremonie. So hatte bei Luther zwar das Wort die Heilsbedeutung, daneben war aber auch der Genuß des Abendmahls ein Übermittler der Gnade. Wie gesagt, dies dürfte nur scheinbar eine Konzession an die Institutionen der katholischen Kirche sein, in Wirklichkeit war es wohl eine durch die Psychologie Luthers geforderte Anerkennung der auf unmittelbares Sinnenerlebnis gegründeten Gefühlstatsache.

Dem Lutherischen Standpunkt gegenüber vertrat Zwingli die reine Symbolauffassung. [...] Dieser Standpunkt ist charakterisiert durch die Vernunft und durch eine ideelle Auffassung der Zeremonie. Er hat den Vorteil, das evangelische Prinzip nicht zu verletzen und zugleich auch alle vernunftwidrigen Hypothesen zu vermeiden. Aber diese Auffassung wird dem nicht gerecht, was Luther erhalten wissen wollte, nämlich der Realität des Sinneneindruckes und seines besonderen Gefühlswertes. Zwar teilte auch Zwingli das Abendmahl aus, und bei ihm wurden Brot und Wein ebenso genossen wie bei Luther, jedoch enthielt seine Auffassung keine Formel, welche den Standpunkt des dem Objekt eigentümlichen Empfindungs- und Gefühlswertes adäquat wiedergegeben hätte. Luther gab dafür eine Formel, aber sie stieß sich an der Vernunft und am evangelischen Prinzip. [...]

Für die extravertierte Auffassung ist die lutherische Formulierung ein Vorteil, für den ideellen Standpunkt die zwinglische. Obschon Zwinglis Formel dem Gefühl und der Empfindung keine Gewalt antut, sondern bloß eine ideelle Auffassung gibt, ist zwar der Objektwirkung Raum gelassen. Aber es scheint, als ob der extravertierte Standpunkt sich nicht damit begnüge, offenen Raum zu haben, sondern er verlangt auch eine Formulierung, wobei das Ideelle dem Empfindungswerte folgt, genau so, wie die ideelle Formulierung ein Nachfolgen des Fühlens und Empfindens erheischt.“vii
 

Extravertierte Lutheraner*innen und introvertierte Reformierte?

Jungs Analyse des Abendmahlsstreites zwischen Luther und Zwingli wirft die Frage auf, ob die sich seit jener Disputation perpetuierende Spaltung des Protestantismus in eine evangelisch-lutherische und eine evangelisch-reformierte Konfession auch in der Psychologie ihrer Anhänger*innen begründet sein könnte. Sollten die liturgischen und theologischen Differenzen tatsächlich auch der Erfüllung divergenter, aus der Heterogenität menschlicher Psyche resultierender Bedürfnisse geschuldet sein, könnte dies einen neuen Zugang zu interkonfessioneller Ökumene eröffnen.

Oder wäre dies eine unzulässige Psychologisierung konfessioneller Standpunkte?


 

i C. G. Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken. Aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé. 11. Auflage. Walter Verlag, Olten/Freiburg im Breisgau 1981, S. 13, 16, 18, 20.

ii Ebenda, S. 22.

iii Ebenda, S. 25.

iv Ebenda, S. 13.

v Gesammelte Werke (GW) 6, § 972.

vi GW 6, § 976.

vii GW 6, § 96–99.


Thomas Tews
Biblische Grundlagen, reformatorische und ökumenische Erkenntnis

, Ulrich (Huldrych)
(1484-1531)

Auslöser der Reformation in Zürich war das "Fastenbrechen" Zwinglis. Später wurden Bilder aus den Kirchen verbannt und schließlich kam es sogar zum bewaffneten Kampf um den richtigen Glauben.