Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1519 - 1580)
Catherine, Baronin Willoughby de Eresbury (1519-1580) war in erster Ehe mit dem Herzog von Suffolk, Charles Brandon verheiratet. Unter Edward VI. wurde sie überzeugt evangelisch. Sie war befreundet mit Reformatoren wie Martin Bucer und Johannes a Lasco, während diese in England weilten. Als Maria Tudor den Thron nach Edward VI. bestieg und den Katholizismus in England wiedereinführte, flüchtete sie mit ihrem zweiten Gatten, Richard Bertie, und ihrer Tochter nach Wesel. Von dort ging die Reise nach Weinheim (Pfalz) und weiter nach Litauen, dank der Fürsprache Johannes a Lascos, der für sie beim polnischen König eintrat. Nach der Thronbesteigung Elizabeths I. kehrte sie mit ihrem Mann und zwei Kindern nach England zurück. Sie unterstützte bis zu ihrem Tod puritanische Pfarrer.
1. Eine katholische Kindheit und erste Ehe
2. Evangelische Witwe
3. Eine neue Familie. Flucht
4. Puritanerin in England
5. Würdigung
6. Die Herzogin von Suffolk in der Kunst
Anhang / Literatur
1. Eine katholische Kindheit und erste Ehe
Catherine Willoughby wurde 1519 geboren in einer Ehe zwischen einem adeligen Engländer, William Willoughby, Baron Willoughby de Eresby, und Maria de Salinas, einer spanischen Hofdame der Königin Katharina von Aragon. Die Eheschließung wurde wohlwollend von der königlichen Familie begleitet, Heinrich VIII. nannte eine seiner Kriegsschiffe „Mary Willoughby“ und er schenkte dem Ehepaar Ländereien. Die kleine Catherine verlor früh (1526) ihren Vater, und da sie eine sehr reiche Erbin war – in der Familie Willoughby besaßen auch Frauen das Erbrecht – wurde sie Mündel der Krone. Die Vormundschaft wurde dann wie üblich weiterverkauft, und so wurde die kleine Catherine Mündel des Charles Brandon, Herzog von Suffolk, der damals mit der Schwester des Königs, Mary Tudor, verheiratet war (Richardson). Wenn nicht in London, wohnte das Paar auf dem Gut Westhorpe in Suffolk, und Catherine wurde mit deren fast gleichaltrigen Töchtern Frances – die Mutter von Jane Grey – und Eleanor, und mit dem Sohn Henry, erzogen.
Am 24. Juni 1533 starb Mary Tudor nach längerer Krankheit. Catherine Willoughby war vermutlich bis dahin dem Sohn des Hauses als Braut angedacht, aber der Witwer Charles Brandon heiratete sie selbst im September 1533. Catherine war mit 14 Jahren gerade heiratsfähig, während ihr „Verlobter“ nur zehn Jahre alt war und damit noch zu jung für eine Eheschließung. Charles Brandon hatte gute Gründe sich die Hand Catherines zu sichern:
Charles Brandon hatte in der Ehe mit Mary Tudor Einnahmen von Ländereien sowohl in England als auch in Frankreich. Mary Tudor war in erster Ehe kurz - drei Monate lang - mit Ludwig XII. von Frankreich vermählt gewesen. Nach dessen Tod ging sie eine Liebesehe mit Charles Brandon ein. Deswegen hatte sie Lehen in Frankreich und England, die jedoch nach ihrem Tod an die Krone zurückfielen. Catherine Willoughby dagegen besaß Ländereien in Lincolnshire, welche es Charles Brandon möglich machten, sich dort einen großen zusammenhängenden Gutsbesitz zu beschaffen (Gunn).
1535 und 1537 brachte sie zwei Jungen zur Welt, Henry und Charles. Brandons Sohn Henry aus der ersten Ehe war 1534 gestorben, und es war üblich, nachgeborene Kinder nach ihren toten Geschwistern zu nennen.
Catherine war gut katholisch erzogen. Ihre Mutter war nach ihrer Ehe immer noch der Königin Catherine von Aragon eng verbunden. Als diese in Ungnade fiel, musste Charles Brandon die für ihn unangenehme Aufgabe erfüllen, ihr mitzuteilen, dass ihr Hofstaat gekürzt und ihre Bediensteten entlassen wurden. Sie wurde in die Provinz verbannt, und durfte nur mit Erlaubnis des Königs Besuch empfangen. Als es sich herumsprach, dass sie sehr krank sei, erkämpfte sich Maria de Salinas, Lady Willoughby, den Zutritt zu ihrem Schlafgemach. Wenige Tage später starb die Königin in ihren Armen. Sie wurde in der Kathedrale von Peterborough begraben, und im Trauerzug ging Catherine Brandon (Read 40f).
Als Magnat in Lincolnshire bekam Brandon 1536 die Aufgabe, die Aufstände in Lincolnshire in Verbindung mit dem nördlichen Aufstand gegen die Krone, die „Pilgrimage of Grace“ genannt, niederzuschlagen. Dies tat er schnell und effektiv und wurde dafür mit dem Schloss Tattershall und mehreren Kirchengütern belohnt. Die folgenden Jahre verbrachten er und seine Familie auf Schloss Tattershall. Brandon war 35 Jahre älter als seine Frau, aber die Ehe schien glücklich. 1539 war Catherine unter den vornehmen Frauen, die Anne von Kleve in England empfingen (Read 45f). Als Heinrich VIII. 1541 nach York reiste, um den schottischen König zu treffen, besuchte er die Brandons auf dem Gut Catherines, Grimsthorpe. Das war eine große Ehre, und Brandon ließ das Schloss umbauen, um den Majestät würdig empfangen zu können. Später war Catherine Brandon mit Catherine Parr befreundet. Sie war unter den sehr wenigen Hochzeitsgästen bei der Vermählung Catherine Parrs mit Heinrich VIII. im Jahr 1543.
Charles Brandon war zu Ruhm und Ehre gekommen, weil er ein Freund und Kumpel Heinrichs VIII. war. Wenn er religiöse Überzeugungen hatte, hielt er sie verborgen, und folgte den Anweisungen des Königs (Gunn). Unter seinen Kaplänen und Hauslehrern waren Männer, die zum neuen evangelischen Glauben neigten, aber es ist unsicher, ob Charles Brandon das überhaupt bemerkte. Es kann sein, dass Catherine durch sie die neue Lehre kennenlernte. Als ihr Mann noch lebte, verschaffte sie sich aus Übermut und vielleicht aus religiöser Überzeugung einen mächtigen Feind, Stephen Gardiner, Bischof von Winchester und Lordkanzler. Bei einem Abendessen schlug Brandon Damenwahl vor, und Catherine sagte laut, dass, wenn sie nicht ihren Gatten wählen dürfte, sie den Mann nähme, den sie am wenigsten möge, nämlich Gardiner. Er verzieh es ihr nie. Ähnliche Sticheleien betrieb sie wohl auch in jungen Jahren: sie nannte ihren Hund Gardiner und hatte einen Riesenspaß, wenn sie ihm „Sitz“ oder „Bei Fuß“ kommandierte. Der Hund wurde zudem im Bischofsornat gekleidet und in Prozession getragen. Viele Jahre später hat Gardiner an diese Beleidigungen erinnert. Es ist unsicher, wann genau sie stattgefunden haben, aber es scheinen doch die Späße einer sehr jungen Frau gewesen zu sein. Diese Anekdoten wären belanglos, hätte Gardiner sich nicht so gekränkt gefühlt.
2. Evangelische Witwe
Erst als sie sich nach dem Tod ihres Gatten 1545 mehr am Hofe aufhielt, als Hofdame für Catherine Parr, wurde ihre evangelische Gesinnung offenkundig. Sie gehörte zu dem evangelischen Kreis, den Catherine Parr um sich scharte. Zusammen hörten sie evangelische Predigten und studierten die Bibel in den Gemächern der Königin.
1546 wurde eine evangelische Adelsfrau namens Anne Askew der Ketzerei angeklagt. Sie hatte öffentlich in London gepredigt und dabei eine zwinglische Abendmahlslehre verbreitet. Askew wurde zweimal verhört und für schuldig befunden. Aber bevor sie den Tod auf dem Scheiterhaufen erleiden konnte, wurde sie noch einmal im Tower verhört und zwar von sehr hochrangigen katholischen Mitgliedern des „Privy Councils“, des Geheimrats des Königs. Sie wollten wissen, welche Kontakte Anne Askew zum Hofe hatte, und fragten besonders nach dem Kreis der Damen um die Königin. Viele von denen waren mit evangelisch gesinnten Höflingen verheiratet. Wäre es nur um sie gegangen, könnte man sich einen Angriff Gardiners gegen die evangelischen Ratsherren im Geheimrat vorstellen. Aber die Witwe Catherine Brandon wurde in der Befragung erwähnt. Es ist möglich, dass Gardiner sich den Frauenkreis vornahm, weil er damit die Königin der Ketzerei überführen wollte – Foxe berichtete von einem anderen Versuch Gardiners, die Königin zu beseitigen, der misslang. Aber selbst unter schlimmster Folter gab Anne Askew keine Namen preis. Wenige Tage danach wurde sie sitzend in einem Stuhl verbrannt, da sie nicht mehr stehen konnte (Foxe, 1563 edition, Book 3,732).
1547 starb Heinrich VIII. Er hinterließ eine Witwe und drei Kinder: Maria, Elizabeth und Edward. Edward war als männlicher Erbe der Thronfolger; er war von evangelischen Humanisten erzogen worden und von evangelischen Ratsherrn umgeben. Möglicherweise um das königliche Supremat über die Kirche zu erhalten, ließ Heinrich kurz vor seinem Tod Gardiner entmachten. Edward Seymour, sofort zum lord protector (Vormund des Königs) und Herzog von Somerset ernannt, übernahm die Regierung. Er war ein überzeugter Anhänger des neuen Glaubens. Thomas Cranmer, Erzbischof von Canterbury, schuf mit ihm die Agende: „Book of Common Prayer“ für den evangelischen Gottesdienst.
Catherine Brandon war jetzt in ihrem Element. Sie unterstützte einen evangelischen Drucker und Verleger namens John Day (King 1982, 2002). Eine Reihe von Büchern erschien nach 1548 mit ihrem Wappen, unter anderem ein Andachtsbuch Katherine Parrs. William Cecil, später erster Minister Elizabeths I., jetzt noch Sekretär des Herzogs von Somerset und Nachbar Catherine Brandons, schrieb dazu das Vorwort. Cecil blieb ihr Leben lang ein treuer Freund. Catherine Brandons Briefe an ihn sind eine vergnügliche Lektüre, ihre witzige, direkte Art kommt hier gut zum Vorschein. John Day druckte außerdem die Predigten Bischof Latimers mit einer Widmung an Catherine Brandon.
Bischof Hugh Latimer war eine Entdeckung Anna Boleyns. Schon 1530 predigte er die Fastenpredigten am Hofe. Er war Bischof von Worcester bis Heinrich VIII. gewisse katholische Dogmen für alle verbindlich machte, u. A. die Transsubstantiationslehre (Act of the Six Articles, 1539, Loades 2010, 21f). Latimer stellte seinen Bischofssitz dem König zu Verfügung. Eine Weile verbrachte er im Gefängnis und erst mit der Thronbesteigung Edwards VI. kehrte er zurück zum Hofe und predigte für den König und in London.
Latimer wurde der geistige Berater Catherine Brandons. Von 1552 bis 1554 wohnte er oft auf ihrem Gut Grimsthorpe und predigte dort. Eine Predigtreihe über die zehn Gebote entstand dort. Latimers Predigten kann man immer noch mit Vergnügen lesen. Er war wortgewandt, witzig, ein Meister der gut angebrachten Anekdote und von tiefer Frömmigkeit. In einer seiner Fastenpredigten von 1549 verglich er den Glauben mit einer wunderschönen Herzogin – zu der Zeit gab es in England zwei: die Herzogin von Suffolk und die von Somerset; Latimer nannte keinen Namen. Die Herzogin (der Glaube) hat einen „gentleman usher“, der ihr vorangeht und für sie den Weg bahnt – das ist die Sündenerkenntnis. Danach folgen die Hofdamen – das sind die guten Werke. Damit beschrieb er für alle anschaulich den Glauben als zentral, während Sündenerkenntnis und gute Werke vorher und nachher ihren Platz haben. Selbstverständlich wird angenommen, dass er von Catherine Brandon sprach (Harkrider, 70f).
Nach der Thronbesteigung Marias wurde Latimer mit den anderen evangelischen Bischöfen gefangengenommen. Catherine Brandon unterstützte ihn im Gefängnis mit Essen, Kleidung und Geld, das in den Tudor Gefängnissen benötigt wurde, um zu überleben (Read 96f). 1554 fing der Ketzerprozess gegen ihn an und im Oktober 1555 wurde er auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
In seinem Bestreben, die Englische Kirche zu reformieren, lud Erzbischof Cranmer Reformatoren nach England ein, und nach dem Augsburger Interim folgten viele seinem Ruf. Nach dem Tod Heinrichs 1547 konnte Cranmer mit der Kirchenreformation anfangen und die Edwardianische Kirche bekam eine deutliche reformierte Prägung. Viele englische Theologen waren in der Regierungszeit Heinrichs geflohen und oft reisten sie nach Zürich. Durch sie konnte Bullinger Einfluss auf die Ereignisse in England ausüben. Zürich und allmählich auch Genf wurden die Vorbilder der englischen Reformation. Die Altäre und Bilder verschwanden aus den Kirchen und stattdessen wurden Abendmahlstische aufgestellt. Ein Streit entbrannte über die Ornate der Pastoren.
Die Theologen, die als Glaubensflüchtlinge jetzt nach England kamen, waren berühmte Gelehrte ihres Faches und namhafte Reformatoren: Von Italien kamen Bernardino Ochino und Petrus Martyr Vermigli. Aus Straßburg folgten der Hebraist Paul Fagius und Martin Bucer. Cranmer ließ die beiden Italiener nach Oxford rufen, während Fagius und Bucer Professoren in Cambridge wurden (Brecht, 233-256).
Catherine Brandon ließ ihre beiden Söhne in Cambridge im St. John`s College einschreiben, mitsamt ihrem Tutor, Thomas Wilson (Harkrider, 81, Rex). Sie selbst kaufte sich ein Haus in der Nähe. Bald verband sie mit Bucer eine herzliche Freundschaft, er besuchte sie auf Grimsthorpe und sie schenkte ihm eine Kuh mit Kalb – letzteres wohl damit er Milch hatte. Ihr Verhältnis wurde so innig, dass Fagius durch den Sekretär Bucers in Straßburg, Conrad Hubert, Wibrandis Rosenblatt wissen ließ, dass sie schleunigst zu ihrem Gatten reisen sollte: „…sagend, Herrn Martinus Hausfrau, sie soll sich bald auf die Fahrt machen, oder er wird eine andere kriegen, die Herzogin von Suffolk will ihn haben, ist jetzt eine Wittfrau.“ (Bainton, 96)
Wibrandis Rosenblatt kam nach Cambridge mit der Familie, und als sie wieder wegfuhr, blieb Agnes Capito und kümmerte sich um Bucer. Ihm ging es jedoch gesundheitlich nicht gut. Als Wibrandis Rosenblatt 1550 nach England zurückkam, musste sie ihn im Winter pflegen. Catherine Brandon half ihr, aber trotz ihrer gemeinsamen Anstrengungen starb Bucer im Februar 1551. Catherine Brandon wurde von Edward VI. als Testamentsvollstreckerin an Rosenblatts Seite gestellt. Wibrandis Rosenblatt war jedoch mit den Engländern nicht zufrieden: „Ouch wussen, das mir der Bischof nit mer denn XXXX Lb. fur die Bucher geben hat. Er sagt die Frow (Herzogin Katharina von Suffolk) hab die besten; so hab der Kunig das geschrieben Ding; sin Theil sy zu thur. Ich hab recht genumen, was man mir geben hat; ich kann mich wider sy nit setzen.“ (Zimmerli-Witschi, 120)
Nach dem Tod Bucers wurde für ihn eine Gedenkschrift der Universitätsangehörigen in Cambridge herausgegeben. Darin waren beide Söhne von Catherine Brandon mit Beiträgen vertreten (Collinson 1983, 34). Diesen vielversprechenden jungen Männer war leider kein langes Leben vergönnt. Im Sommer 1551 brach der „Schweiß“ in Cambridge aus. Der sogenannte „Englische Schweiß“ war eine Infektionskrankheit, die innerhalb von kürzester Zeit ihre Opfer wegraffte. Die Brüder wurden sofort aus Cambridge weggebracht, starben aber innerhalb von Stunden, bevor es ihrer Mutter möglich war, zu ihnen zu kommen. Catherine Brandon war untröstlich. Es dauerte lange, bevor sie wieder anfangen konnte, Freude am Leben zu haben (Read).
Nicht nur Gelehrte flüchteten nach England, auch Handwerker und Handelsleute suchten einen Ort, wo sie ihre evangelische Überzeugung ausleben konnten. Für Cranmer war es eine Möglichkeit, reformierte Gemeinden zu gründen. In Canterbury entstand eine Französische Gemeinde (Pettegree 1986, 52f), wie in Glastonbury, wo viele wallonische Weber arbeiteten. In London entstanden gleich zwei Ausländergemeinden: eine französische und eine flämische, mit Johannes a Lasco als deren Superintendent. Zusammen mit den humanistischen Lehrern des Königs unterstützte Catherine Brandon die Gründung der Ausländergemeinden mit einer Bittschrift an den König und mit einer Bürgschaft (Pettegree 1986, 31). Für a Lasco waren es gute Jahren in London, mit Unterstützung vom König und von Cranmer und mit weitreichenden Freiheiten, ein reformiertes Gemeindeleben zu gestalten (Rodgers, Jürgens). Er zeigte sich später Catherine Brandon gegenüber dankbar.
3. Eine neue Familie. Flucht
Unter Edward VI. konnte Catherine Brandon ihre evangelische Gesinnung ausleben. Ihr alter Intimfeind Stephen Gardiner verbrachte diese Jahre im Tower of London und als sie ihn im Vorbeigehen sah, bemerkte sie mit lauter Stimme: „Es ist lustig für die Lämmer, wenn der Wolf weggesperrt ist.“ (Foxe, 1583 edition, Book 12, 2102-2105)
Die kirchlichen Reformen galten vor allem dem Gottesdienst und den Kirchengebäuden (MacCulloch 1999). Die alte katholische Ausstattung wurde aus den Kirchen verbannt, versteckt, verkauft oder verbrannt. Catherine Brandon, die in Lincolnshire Patronatsrechte für viele Kirchen besaß, hatte früher oft Pfründe an von ihren Klöstern vertriebene Mönche vergeben. Jetzt gab sie die Pfründe an verheiratete Männer mit Universitätsausbildung und gründete Schulen (Harkrider 84-94).
Auf Grimsthorpe hatte sie immer Kaplane mit evangelischer Gesinnung – und Hugh Latimer predigte dort als Dauergast.
Ein paar Jahre nach dem Tod ihrer Söhne heiratete sie einen Mann, den sie gut kannte und der ihre Religion teilte: Richard Bertie (1517-1582), ihr „gentleman usher“. Er war vom Adel, aber der niedere Adel tat beim Hochadel Dienst, sowie der Hochadel dem Königshaus diente. Sie heiratete einen Mann, der gebildet war, mehrere Sprachen beherrschte und ihr im Alltag treu zur Seite stand. Der „gentleman usher“ war eine Art Zeremonienmeister und er regelte vermutlich ihren Haushalt. Dennoch heiratete sie unter ihrem Stand. Anscheinend fühlte sie sich nach dem Tod ihrer Söhne frei, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Es war wohl Hugh Latimer, der sie 1553 auf Grimsthorpe traute (Read 92). Während Catherine Bertie im Jahr danach schwanger wurde und 1554 eine Tochter, Susan, gebar, starb Edward im Sommer 1553. Seine Schwester Maria bestieg den Thron. Sie war immer katholisch gewesen, hatte in den vergangenen Jahren deswegen Streit mit ihrem Bruder gehabt und war überzeugt, dass sie das Werkzeug Gottes war, um England wieder zum katholischen Glauben zurückzuführen. Zuerst wurde die Messe wiedereingeführt. Die Gemeinden versuchten, ihre Kirchen so auszustatten, dass sämtliche Riten durchgeführt werden konnten – die Gemeinden, die vorher ihr Inventar versteckt hatten, konnten sich glücklich preisen (Loades 2010).
Sehr viele Engländer waren ohne Zweifel froh, zu den alten Sitten und Ritualen zurückzukehren. Andere hatten sich an die Gottesdienste in der Landessprache gewöhnt, lasen ihre Bibel auf Englisch und sahen die Messe als Götzendienst an. Diese Leute – vor allem in London – trafen sich heimlich zu Gottesdienst und Gebet.
Die ersten, die den Ernst der Lage spürten, waren die Ausländergemeinden. September 1553 bestieg a Lasco mit einem Teil seiner Gemeinde drei Schiffe und fuhr nach Dänemark. Im lutherschen Land war die Gruppe als reformierte nicht willkommen und sie setzte ihre Reise nach Emden und schließlich nach Frankfurt fort. Gardiner, der Lordkanzler Marias geworden war, entwickelte eine Technik, um Ketzer loszuwerden: er lud sie zum Gespräch ein! Meistens wurden diese ob dieser Einladung so erschrocken, dass sie sofort England verließen (Pettegree 1986, 115f).
Ostern 1554 erging dann die Einladung Gardiners an Richard Bertie. Gardiner listete alle die Kränkungen, die Catherine Bertie ihm zugefügt hatte, auf und fragte, wie Catherine es mit der Messe hielt. Die Königin wollte Philipp von Spanien heiraten und bei der Gelegenheit könnte Catherine Bertie – immer noch Herzogin von Suffolk – Anstoß erwecken: sie hatte immer noch nicht die Messe auf Grimsthorpe eingeführt und konnte bei den Hochzeitsfeierlichkeiten nicht teilnehmen, obwohl ihre Mutter dem spanischen Hochadel angehört hatte. Als ihr Gatte war Bertie für sie juristisch und religiös verantwortlich. Er verteidigte ihre Gewissensfreiheit und schlug vor, er solle Geld, das der Kaiser Charles Brandon schuldete, bei Karl V. eintreiben. Dafür erhielt er eine Ausreisegenehmigung und versuchte, Asyl für Catherine und Susan, die im selben Jahr geboren worden war, zu finden. Im Herbst 1554 wurden die mittelalterlichen Ketzergesetze wieder in England eingeführt mit Wirkung vom 20. Januar 1555. Anfang Januar 1555 verließ Catherine Bertie in der Nacht ihr Haus in London mit dem Kind und ein paar Dienstboten (Foxe, Hrsg. Cattley 1839, Bd.8, 569-572).
Maria Tudor hatte vorerst die wichtigsten Geistlichen im Visier: die Bischöfe Cranmer, Ridley und Latimer waren schon in Gefängnis. Am 28. Januar wurde Anklage gegen andere leitende Evangelische erhoben. Alle starben den Märtyrertod – was seitens der Regierung vielleicht nicht vorgesehen oder gar erhofft war (Loades 2010, 81-96). Viele Mitglieder der Oberklasse, vor allem die Schwester der Königin, Prinzessin Elizabeth (http://www.frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=115) und William Cecil, der Freund Catherine Berties, blieben in England und gingen zur Messe. Andere ergriffen die Flucht (Garrett).
Catherine Bertie hatte eine abenteuerliche Reise in die Niederlande vor sich. Den Ärmelkanal im Winter zu überqueren erwies sich als schwierig. Nach Wochen erreichte sie endlich Land, wurde von Richard Bertie (Garrett, 87-89) empfangen und nach Xanten gebracht. Sie wussten, dass sich die wallonische Flüchtlingsgemeinde aus London mit ihrem Pfarrer François Perussel im benachbarten Wesel aufhielt, und wollten auch dorthin. Xanten war katholisch und dort konnten sie nicht bleiben. Während sie noch in Xanten ihren Asylbescheid abwarteten, erfuhren sie, dass sie erkannt worden seien, und beschlossen, zu Fuß nach Wesel zu laufen ohne Bedienstete und Gepäck, nur sie drei, als ob sie einen Spaziergang machten. Es war kalt und frostig und während sie unterwegs waren, regnete es auf den gefrorenen Boden. Völlig durchnässt kamen sie in Wesel an. Keine Herberge wollte sie hereinlassen und am Ende suchten sie Schutz unter dem Vordach der Kirche (St. Willibrord?). Richard Bertie suchte nach Feuerholz und fand mit Hilfe einiger Schuljungen, die mit ihm Latein sprechen konnten, das Haus, wo Pastor Perussel gerade zu Abend aß. Groß war die Freude des Wiedersehens. Die Berties erhielten trockene Kleider und am nächsten Tag wurde ihnen vom Stadtrat Asyl gewährt (Foxe 1839, Bd. 8, 572-574).
Wesel hatte schon 1545 eine Gruppe wallonischer Weber aus Tournai aufgenommen. Man konnte die Handwerker gut gebrauchen und versicherte sich nur, dass die keine Wiedertäufer waren. Sie konnten Predigtgottesdienste in eigener Sprache halten, aber Sakramentsverwaltung wurde ihnen nicht zugestanden. Sie mussten mit der lutherschen Stadtgemeinde die Sakramente empfangen. Sie suchten Rat bei Calvin und er ermahnte sie zur Besonnenheit (CO 20, 419ff, Nr.4169; Weseler Konvent, 28ff). Als Perussel im Herbst 1553 mit den Wallonen aus England ankam, wiederholten sich die Probleme. Die Flüchtlinge hatten in England weitgehende Selbständigkeit genossen. Wieder schrieb Calvin an sie und mahnte zur Geduld (13.3.1554, CO 15, 78ff; a.a.O. 31f). Perussel schrieb allerdings auch an a Lasco und wurde von ihm unterstützt, Selbständigkeit für seine Gemeinde einzufordern. Das ging natürlich nicht gut. Melanchthon wurde um ein Gutachten gebeten, aber die Stadt entschied für sich, dass die Flüchtlinge weiterziehen mussten. Im März 1557 verließen die Engländer Wesel, nachdem sie sich beim Rat für den Aufenthalt bedankt hatten. Sie zogen nach Bern, wo sie sich im Aarau (Garrett, 353-356) niederlassen durften. Perussel zog mit einer Gruppe nach Frankfurt (Denis, 161-222).
Catherine und Richard Bertie waren schon längst nicht mehr in Wesel. Am 12. Oktober 1555 hatte Catherine einen Sohn, Peregrine (Lat. Peregrinus = Fremdling) geboren und ihn am 14. Oktober in St. Willibrord taufen lassen. Sehr viele Engländer hatten im Laufe des Jahres sich ihnen angeschlossen und durften englische Gottesdienste (ohne Sakramentsfeier) abhalten. Zwei frühere Bischöfe waren unter ihnen: Miles Coverdale, der Tyndale`s Bibelübersetzung vervollständigt hatte (Garrett, 132-134), und William Barlow (Garrett, 80). Im Herbst 1555 setzte sich Miles Coverdale beim Pfalzgrafen und Herzog Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken für die Berties ein. Coverdale hatte durch die Empfehlung von Conrad Hubert, Bucers Sekretär, eine Stelle als Schulmeister in Bad Bergzabern inne. 1555 kehrte er dorthin als Kaplan zurück. Dadurch war er dem Pfalzgrafen bekannt. Dessen Vetter, der Kurfürst Ottheinrich von der Pfalz, bot der Herzogin sein Schloss Weinheim als Wohnung an (Harkrider).
Dort kam im Juli 1556 ein Kurier von Maria Tudor an. Im Herbst 1555 hatte das Parlament in London einen Gesetzesvorschlag Marias zu Konfiskation des Besitzes der Glaubensflüchtlinge abgeschmettert. Nach geltendem Recht wurde nur der Besitz von verurteilten Schwerstverbrechern und Aufrührern konfisziert. Das Parlament lehnte es ab, diese Gesetzgebung auf die Glaubensflüchtlinge zu erweitern (Loades 2007, 45f). Maria hatte jedoch im folgenden Jahr Briefe an wohlhabende Glaubensflüchtlingen geschrieben, und ein gewisser John Brett als Kurier sollte sie überreichen. In seinem Report über seine Reise vermied Brett es sorgfältig, sich zum Inhalt der Briefe zu äußern. Ihrerseits wollten die Adressaten sie gar nicht entgegennehmen. In Frankfurt klagten sie über Brett beim Bürgermeister, in Weinheim vertrieben ihn die Dienstboten der Herzogin mit Steinen. Sie verklagte ihn beim Kurfürsten und er verbrachte einiger Zeit in Heidelberg im Gefängnis. In Straßburg schließlich wurde er von einem bewaffneten Mann von den Flüchtlingen ferngehalten (Brett). Unverrichteter Dinge musste Brett zurück nach England.
In Weinheim hatte Catherine Bertie große Ausgaben: sie sollte ihren Lebensstil aufrechterhalten und den Haushalt bezahlen (Harkrider, 109). Es muss sich herumgesprochen haben, dass ihr Geld knapp wurde. In Polen hörte Johannes a Lasco davon (vielleicht stand er immer noch in Verbindung mit Frankfurt?) und ersuchte König Sigismund II. Augustus um Hilfe für sie. Der Wojwode (=Pfalzgraf) von Vilnius, Mikolai Radziwill, selbst überzeugter Reformierter, sorgte dafür, dass der König ein an die Krone heimgefallenes Lehen in Kraziai in Litauen den Berties schenkte.
Dieses königliche Hilfsangebot erfreute die Berties sehr. Sie wagten jedoch nicht das Angebot ohne weiteres anzunehmen, sondern schickten den früheren Bischof von Bath und Wells, William Barlow, nach Polen. Dieser hatte schon für sie in Weinheim die Verhandlungen mit John Brett geführt, da die Berties, wie die anderen Flüchtlinge auch, direkten Kontakt mit Brett und seinen Briefen vermieden. William Barlow wurde auf seiner Reise von John Burcher (Garrett, 100f) begleitet, einem Kaufmann, der angeblich lernen sollte, in Krakau Bier zu brauen, der aber in seinen Briefen an Bullinger von Johannes a Lascos Wirken in Krakau erzählte (Cross). Diese Erkundungsreise war erfolgreich, und die Berties mit ihren Kindern setzten sich in Bewegung. Nördlich von Frankfurt trafen sie Soldaten des Landgrafen (Philipp von Hessen?) und der kleine Spaniel der Herzogin griff sie an. Die Soldaten durchbohrten die Karosse mit ihren Bärenspießen und Bertie mit den Hauskerlen verteidigten sie. Im Kampfgetümmel wurde das Pferd des Kapitäns getötet und die Soldaten waren überzeugt, dass diese Wallonen ihren Kapitän umgebracht hatten. Bertie ritt in die nächste Stadt, um die Angreifer von der Karosse wegzulocken. Dort suchte er Schutz im obersten Stock eines Hauses, wo er sich mit seinem Degen verteidigen konnte, bis der Bürgermeister kam, der Latein sprach. Bertie ergab sich ihm. Am nächsten Tag trafen sowohl die Herzogin als auch der Graf von Erbach ein. Der Graf kannte die Herzogin von früher und verneigte sich tief vor ihr - zum Staunen der Bürger (Foxe, 1839, Bd. 8, 574-576).
Ihre weitere Reise verlief ohne Zwischenfälle. Die nächsten zwei Jahre verbrachten sie in Litauen auf ihrem Gut. Im Winter 1558/59 erfuhren sie die Nachricht vom Tod Marias und der Thronbesteigung Elizabeths. Catherine Bertie schrieb an Elizabeth und beglückwünschte sie. Außerdem schickte sie ein kostbares Neujahrsgeschenk. Mit solchen Geschenken zeigte die Königin ihr Wohlwollen und die Untertanen bezeugten ihre Treue. Bald verstand Catherine Bertie jedoch, dass die so sehnsüchtig erwartete Königin mit äußerster Vorsicht vorging: es war nicht ihre Absicht, eine reformierte Kirche nach dem Vorbild von Genf und Zürich einzuführen. Enttäuscht schrieb die Herzogin an ihren Freund Cecil, dass die Englische Kirche weder katholisch noch reformiert sei. Sie lobte Maria Stuart für ihre konsequente Verteidigung der Messe: Sie habe wenigstens Haltung gezeigt! (Read, 132ff, Bainton, 273f)
4. Puritanerin in England
Im Sommer 1959 fuhren die Berties zurück nach England – Fürst Radziwill kaufte das Lehn von ihnen zurück und machte damit die Heimreise möglich. Bei ihrer Ankunft gab Elizabeth der Herzogin alle ihre Güter zurück und bürgerte den kleinen Peregrine ein. Sie wohnten fortan auf Grimsthorpe.
Miles Coverdale, zurück aus Genf, wo er an der englischen Bibelübersetzung („the Geneva Bible“) mitgewirkt hatte, zog vorerst nach Grimsthorpe. Später siedelte er nach London um.
1562 wurde eine neue Ausgabe von den Predigten Latimers verlegt, und in der Widmung an die Herzogin schrieb der Herausgeber Augustin Bernher, der Assistent Latimers, dass sie alles aufgegeben habe, um „ein Flüchtling für Christus und sein Evangelium zu werden“. Sie sei ohne Zweifel vom Exil zurückgebracht worden, „um die Verzweifelten zu trösten und um ein Werkzeug zu werden, damit sein heiliger Name gepriesen sein soll und sein Evangelium verbreitet“ (Goff 238f, Übersetzung M.N.). Damit hatte Bernher den Wunsch geäußert, Catherine Bertie möge den Puritanern beistehen. In der folgenden Ausgabe der Predigten aus dem Jahr 1578, schrieb Bernher in seiner Widmung: „An etliche gab der gnädige Gott eine solche Tapferkeit (= valiant spirit), dass sie alles aufgegeben haben und geduldig in fremden Ländern reisten…“ (Goff, 317). Für Reformierte wie Bernher war die Flucht, um den Glauben woanders bekennen zu können, eine mutige Handlung. Er selbst war zur Regierungszeit Maria Stuarts in London geblieben, um die heimlichen reformierten Gemeinden pastoral zu betreuen. Seine Ablehnung galt den Personen, die in England geblieben waren und zur Messe gingen. Man denke an Cecil und an Elizabeth. (Vollständige Zitate in der Originalsprache im Anhang.)
In den folgenden Jahren bildete sich in der Englischen Kirche ein reformierter Flügel aus Theologen und Laien, die fanden, die Elizabethanische Kirche sei ungenügend reformiert. Diese Gruppierung wurde Puritaner genannt, aber selbst bezeichneten sie sich als „the godly“ = die Frommen. Selbst die von Elizabeth ernannten Bischöfe meinten, man solle die Kirche weiter reformieren („ecclesia semper reformanda“), wurden aber von der Königin zurückgepfiffen.
Vornehme Familien am Hofe – die Sidneys, die Dudleys und die Russells – gehörten zu den Puritanern, aber Catherine schloss sich diesen Kreisen nicht an. Vielleicht wagte sie es nicht, sich mit Elizabeth anzulegen. Während Robert Dudley, Favorit Elizabeths und Graf von Leicester, puritanische Geistliche im ganzen Königreich untergebrachte, konzentrierte Catherine sich auf Lincolnshire (Harkrider, 115-135).
Viele puritanische Landadelige lebten ihre religiöse Überzeugung im häuslichen Rahmen vor. Andachten, Bibellesungen und eine strenge Lebensführung prägten ihren Tagesablauf. Darüber hinaus versorgte Catherine die Kirchen, wo sie Patronatsrecht hatte, mit an der Universität ausgebildeten Pastoren. Die wichtigste Anforderung an einen puritanischen Pastor war die Predigt – die früheren katholischen Priester waren ja vor allem Messpriester und Sakramentsverwalter gewesen. In London war der Bischof vorsichtig bei der Berufung von Puritanern; um 1565 herum entbrannte ein Streit mit diesen Pastoren, weil sie sich weigerten, Messgewändern zu tragen. Einige wenige Kirchen waren frühere Klosterkirchen und standen somit nicht unter der Aufsicht des Bischofs. Catherine Bertie besaß in London das alte Klarissenkloster The Minories und in der dazugehörigen Kirche Holy Trinity ließ sie ihre Kaplane predigen. Diese Gottesdienste wurden von den Puritanern in London besucht (Collinson 1967, 50, 68, 86, Collinson 1983, 259f, Bainton 275f).
Die puritanische Überzeugung der Herzogin minderte nicht ihren Ehrgeiz für ihre Familie. Sie hatte ja noch Zugang zum Hofe durch Cecil, später Lord Burghley. Zuerst versuchte sie Richard Bertie zu Baron Willoughby de Eresby ernennen zu lassen. Das gelang nicht. Dann wollte sie ihrem Schwiegersohn den Titel des Grafen von Kent zuerkennen. Damit hatte sie Erfolg: zwar lebte der Schwiegersohn nicht lange, aber die Tochter Susan wurde Gräfin. Schließlich wurde ihr Sohn Peregrine Baron Willoughby de Eresby.
1550 hatte der Herzog von Somerset ihr vorgeschlagen, seine Tochter mit ihrem ältesten Sohn, Henry Brandon, zu vermählen. Es war ein ehrenvolles Angebot, aber sie schlug es aus mit der Begründung, die jungen Menschen sollten abwarten, ob sie sich lieben könnten (Bainton, 255f). Als Peregrine dagegen im heiratsfähigen Alter war, verliebte er sich in Lady Mary de Vere. Diese Ehe passte nun der Herzogin gar nicht. Die Familie de Vere neigte eher dem Katholizismus zu („…our religions agree not“ Goff 309) und der Bruder Marys, der Graf von Oxford, hatte seine Frau, die Tochter Cecils, sehr schlecht behandelt. Wie dem auch sei, die Herzogin verbrachte ihre letzten Jahren in Klagen über ihre missratenen Kinder und Schwiegertochter. Erst als Catherine Bertie 1580 starb, wurde die Ehe Peregrines anscheinend glücklicher. Er und seine Frau bekamen sieben Kinder und er leistete erfolgreich Militärdienst für Elizabeth. Susan heiratete 1581 in zweiter Ehe einen Offizier, Sir John Wingfield, der für seine Tapferkeit bekannt war.
In Spilsbys Kirche steht ein imposantes Grabmal für Catherine und Richard Bertie mit Büsten von ihnen und biblischen Texten. Die Inschrift lautet: „Sepulchrum D. Ricardi Bertie et Catherinae Ducissae Suffolkiae, Baronissae de Willoby de Eresby, coniug. ista obiit XIX Septemb. 1580. Ille obiit IX Aprilis, 1582“: Das Grab von Herrn Richard Bertie und von Catherine, Herzogin von Suffolk, Baroness de Willoughby de Eresby, seine Gattin. Sie starb am 19. September 1580. Er starb am 9 April 1582.
5. Würdigung
Das Leben der Catherine Willoughby/Brandon/Bertie war von ihrer hohen Abstammung und großem Reichtum bestimmt. Als Witwe behielt sie den Titel ihres ersten Gemahls und war lebenslänglich als die Herzogin von Suffolk bekannt. Nach dem Tod Heinrichs VIII. spielte sie eine herausragende Rolle in der Regierungszeit Edwards V, war eine Vollstreckerin der königlichen Anordnungen und pflegte wichtige Freundschaften (nur mit Wibrandis Rosenblatt haperte es mit der Freundschafft!).
Sie nahm sich das Recht heraus, aus Liebe zu heiraten. Der jakobitische Bühnenautor John Webster schrieb seine etwas blutrünstige Tragödie „The Duchess of Malfi“ über dieses Thema: eine junge Frau, die trotz ihrem hohen Stand es wagt, ihr Liebesglück nachzustreben.
Catherine Bertie wurde in „The Book of Martyrs” von John Foxe aufgenommen, nicht weil sie auf dem Scheiterhaufen landete, sondern weil sie als Flüchtling Zeugnis ihres Glaubens ablegte. Die Quelle für John Foxe ist zweifelsohne Richard Bertie, der Episoden erzählte, in welcher er selbst eine vorteilhafte Rolle spielte. Bertie diente der Herzogin treu und ergeben. Er blieb nicht ohne Kritik. Goff berichtet (S.215), dass auf seinem Porträt auf Grimsthorpe jemand geschrieben hat: „Cendre Bien delguise Toutefois Cendre“: Selbst gut verkleidet bleibt Asche nur Asche. Das war Richard Bertie gegenüber sehr unfreundlich. Die Rechnungen für das Gut Grimsthorpe zeigen, dass er im feinsten Zwirn gekleidet war (Read 149f).
Die Zeit auf der Flucht war von viel Hilfe geprägt. Der Pastor Perussel, die früheren Bischöfe Coverdale und Barlow, die Pfalzgrafen, Johannes a Lasco und Fürst Radziwill – alle halfen sie der Herzogin und ihrer Familie. Gewissermaßen war sie immer von einer schützenden Hülle umgeben. Die Zeitgenossen bewunderten ihren Mut und Bereitschaft, England für ihren Glauben zu verlassen und in fremden Ländern zu leben.
Trotz aller Frömmigkeit verdarb sie sich ihre letzten Jahre mit ihrem Familienzwist. Sie war nie umgänglich gewesen, ihre „heats“ (= hysterische Anfälle) waren berüchtigt und gefürchtet, und sie kränkte nicht nur Stephen Gardiner. Andererseits blieben Bedienstete bei ihr über Generationen hinweg und ihre Briefe an Cecil zeigen eine sehr charmante Frau.
6. Die Herzogin von Suffolk in der Kunst
Das Schicksal der Herzogin inspirierte Dichter und Regiseure: Thomas Deloney (1543-1600) schrieb eine Ballade: „The most Rare and Excellent history of the Dutchess of Suffolk and her Husband Richard Berties Calamities”.
1624 verfasste Thomas Drue (Drew) ein Schauspiel: „The Life of the Duchess of Suffolk“. Es ist abgedruckt in Goff und von mäßigem Interesse.
John Webster´s oben erwähnte Tragödie: „The Duchess of Malfi“ ist von ihr inspiriert, ohne auf historische Fakten Rücksicht zu nehmen.
In der Fernsehserie „The Tudors“ wird sie Catherine Brooke genannt. Nicht nur was den Namen anbelangt hat die Figur mit der historischen Catherine Willoughby nichts gemeinsam. Auch die erste Ehe von Charles Brandon mit Mary Tudor hat mit historischen Tatsachen wenig zu tun.
Die historische Wirklichkeit ist genauso spannend.
Anhang:
Originaltext von Latimer´s Sermons, Widmung von 1562:
„I have set forth these sermons, made by this holy man of God (scil. Latimer), and dedicated them to your Grace, partly because they were preached in your Grace´s house at Grimsthorpe by this reverend father and faithful prophet of God, whom you did nourish, and whose doctrine you did most faithfully embrace, to the praise of God and unspeakable comfort of all Godly hearts, the which did, with great admiration, marvel at the excellent gifts of God, bestowed upon your Grace, in giving unto you such a princely spirit, by whose power and virtue, you were able to overcome the world, to forsake your possessions, lands and goods, your worldly friends and native country, your high estate and estimation with which you were adorned and to become an exile for Christ and his Gospel´s sake; to choose rather to suffer adversity with the people of God than to enjoy the pleasures of the world with a wicked conscience, esteeming the rebukes of Christ greater riches than the treasures of England, whereas the worldings are far otherwise minded; for they have their pleasures among the pots of Egypt, they eat, drink and make merry, not caring what became of Christ, or his Gospel; they be so drunken with the sweet delicates of this miserable world that they will not taste of the bitter morsels, which the Lord has appointed and prepared for His chosen children and especial friends. Of the which he did make you most graciously to taste, giving unto your Grace His spirit that you were able in all the turmoils and grievances the which you did receive, not only at the hands of those who were your professed enemies but also at the hands of them who professed friendship and good-will but secretly wrought sorrow and mischief; to be quiet and patient and in the end, brought your Grace home again to your native country, no doubt to no other end but that you should be a comfort to the comfortless and an instrument by which His Holy name should be praised and his Gospel propagated and spread abroad: to the glory of His Holy name and your eternal comfort in Christ Jesus, into whose merciful hands I commit your Grace with all yours eternally.” (Goff, 238f)
Latimer´s Sermons, Widmung von 1578: „Unto some, the self same most gracious God gave such a valiant spirit that they were able, by His Grace, to forsake the pleasures & commodities of this world, & being armed with patience, were content to travel into far & unknown countries, with their families & households, having small worldly provision, or none at all, but trusting in His providence, who never forsake them that trust in Him.” (Goff, 317)
Literatur:
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Das Neue Testament als Zuwendung zu Israel
''Israel'' in der Theologie Johannes Calvins
I Calvin als Ausleger des Alten Testaments
Die großen Kommentare sind die Belege: Zeit seines Lebens hat Calvin insbesondere im Alten Testament geforscht. Die Auslegungswerke, deren umfangreiche philologische und historische Arbeiten die deutschen Übersetzungen auch nicht entfernt erahnen lassen, zeichnen sich aus durch eine im Geist des Humanismus durchgeführte strenge und genaue exegetische Forschung am hebräischen Urtext. Wir wissen heute, daß Calvin sich nicht damit begnügte, die schriftgelehrten Kommentare der großen jüdischen Exegeten Ibn Esra (1092-1167), Kimchi (1160-1232) und Raschi (1040-1105) in den Kompendien des Nikolaus von Lyra (1270-1340) zu erarbeiten, wie z.B. Luther es getan hat, sondern daß er diese Kommentare im Grundtext las und sich ständig auf sie bezog.
Ad fontes - »zu den Quellen«, das war die Losung humanistischer Wissenschaft. Calvin suchte die Quellen des hebräischen Sprachverständnisses bei den Juden auf. Sie waren für ihn die authentischen Sprachlehrer. So heißt es immer wieder in den Kommentaren: »Die Juden erklären hier ...« Man kann wohl sagen, daß in Calvins Rezeption der mittelalterlichen Opera jüdischer Gelehrter der Grundstein moderner Bibelwissenschaft gelegt worden ist. Auf das Spezifikum des Lernens von den Juden werde ich noch zurückkommen.
Es entspricht humanistischem Geschichtsverständnis, daß Israel in seiner geschichtlichen Existenz gesehen und im Kontext seiner Geschichte erklärt wird. Ich werde diesen Satz später korrigieren müssen, halte aber zunächst daran fest, daß Calvin in entscheidenden, grundlegenden Phasen seiner Exegese der hebräischen Bibel sich als Historiker erweist. Damit wird dem christlichen Brauch und Bedürfnis das Alte Testament für die Predigt der Kirche zu annektieren, ein Riegel vorgeschoben. Die Botschaft des Mose und der Propheten ist an das geschichtliche Israel gerichtet. Zu Jes 6,10 schreibt Calvin: »Jesaja war nicht zu irgendwem gesandt, sondern zu den Juden.«
Genau wird die jeweilige geschichtliche Situation ermittelt. Selbstverständlich verliert Calvin keinen Augenblick aus dem Auge, daß in der hebräischen Bibel die besondere Bestimmung und Sendung Israels überall aufleuchtet und den Weg des Volkes kennzeichnet. Zu Joh 4,22 erklärt der Genfer Reformator: »Nur deshalb waren die Israeliten von den übrigen Völkern abgesondert worden, daß von ihnen aus die wahre Erkenntnis Gottes schließlich auf die ganze Welt übergehen sollte.« In diesem Sinn ist Joh 4,22 zu verstehen: »Das Heil kommt von den Juden.«
Im Zentrum steht die TORA, das Gesetz. Im Strom der kirchlichen Auslegungstradition steht Calvin wie ein einsamer, herausragender Felsen. Immer wieder war die Exegese der Kirche versucht, der markionitischen Trennung und Entgegensetzung von »Gesetz« und »Evangelium« zu folgen, das »Gesetz« als jüdische, hinfällige Religionsstufe zu erklären und entsprechend abgehoben das »Evangelium« als »Erfüllung« zu feiern. Es kann hier im einzelnen nicht dargelegt werden, inwieweit auch Luther dieser Versuchung erlegen ist. Calvin setzt sich den Aussagen des Alten Testaments aus und nimmt das TORA-Verständnis Israels aus. Und zwar in dem Sinn: Durch Erwählung und Bund ist Israel gewürdigt, Gottes TORA zu empfangen, zu hören und zu befolgen.
Unter dieser TORA zu leben ist keineswegs eine »gesetzliche Strenge« und Sklavendienst, sondern Vorzug und Inbegriff der Freude. Der Name Gottes, »Inbegriff seiner geoffenbarten Gnade und Macht«, ist Israel bekannt gemacht worden. Es heißt in Inst 11.11.11: »Diesem Volk allein hat er die Kenntnis seines Namens zuteil werden lassen, so daß es allein unter allen Völkern ihm gehörte, seinen Bund hat er ihm gewissermaßen in den Schoß gelegt, seine göttliche Majestät hat er ihm gegenwärtig offenbart, mit lauter Vorrechten hat er es geschmückt.« Mit diesen und ähnlichen Sätzen preist Calvin die einzigartigen Vorrechte des erwählten Volkes. Denn Israel war Gottes geliebter »Sohn« (Ex 4,22), die anderen waren Fremde; Israel war von Gott geheiligt, die anderen waren Gottferne (profani). Im Unterschied zu Luther hält Calvin an dem biblisch-alttestamentlichen Tora Verständnis fest. Das zeigt sich am deutlichsten in seiner Erklärung des Dekalogs, der von der Präambel her gedeutet wird: »Ich bin der Herr dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Sklavenhaus herausgeführt habe« (Ex 20,2). Inst. 11.8.15: »Gott hat sein Volk aus elender Sklaverei dazu befreit, daß es nun seinen Befreier in freudiger Bereitschaft gehorsam verehre.«
Der Exodus ist Befreiungsgeschehen. Die Gebote stehen unter diesem Vorzeichen. Calvin kann sagen: Mit seinem Wort und seinen Geboten führt der Gott des Bundes in das »regnum libertatis« (Reich der Freiheit). So könnte man, wie Karl Barth und Kornelis Heiko Miskotte im Anschluß an Calvin gedeutet haben, die Gebote vernehmen als von dem Ruf durchdrungen: »Bleibe bei deinem Befreier, Israel!« Wenn Paulus in Röm 8,2 vom »Gesetz des Geistes« spricht, dann muß man sagen, daß Calvin dieses »Gesetz des Geistes« in Israel wirksam sieht. Inst II.11.8: Die Unterscheidung von Buchstaben und Geist darf man ... nicht so verstehen, als ob der Herr den Juden die TORA ohne Frucht gegeben hätte ...« Vor allem im Ps 119 erkennt Calvin das in Israel effektive »Gesetz des Geistes«.
Man hat Calvin oft den Vorwurf gemacht, mit der Aufrichtung und Preisung des »Gesetzes« habe er eine neue (reformierte) »Gesetzlichkeit« heraufgeführt. Aber hier ist eine einschneidende Neubesinnung notwendig. Denn wir alle kennen den Vorwurf bzw. das Urteil, das Christen Juden gegenüber erheben, wenn sie von »gesetzlicher Religion« oder »Gesetzlichkeit« reden. Calvin aber belehrt uns, daß derartige Urteile vor dem genuinen TORA-Verständnis des Alten Testaments nicht zu halten und zu verantworten sind. Die TORA-Theologie Calvins, so denke ich, öffnet den Christen ein besseres Verständnis der TORA-Frömmigkeit der Juden; sie baut die Schranken ab, die ein traditionelles Vorurteil aufgerichtet hat. Ich halte es darum für ein bemerkenswertes Zeichen, wenn in den durch Calvins Theologie geprägten Niederlanden in den reformierten Gemeinden eine viel größere Offenheit und Vorurteilsfreiheit den Juden gegenüber besteht als bei uns. Aber hier geht es nicht um konfessionelle Eigenart, sondern um Treue gegenüber dem biblischen Wort und um ein vorurteilsfreies TORA-Verständnis, wie es heutzutage in der alttestamentlichen Wissenschaft, vor allem in der Theologie Gerhard von Rads, sich durchgesetzt hat.
II Kirche und Israel
Ich habe zu zeigen versucht, daß das humanistisch geprägte Geschichtsverständnis Calvins die Vereinnahmung des Alten Testaments zurückweist und Israel dadurch in die Distanz zur Kirche rückt. Doch angesichts dieser Tatsache erhebt sich sogleich die Frage: Was verbindet denn die Kirche mit Israel? Was motiviert das Interesse der neutestamentlichen Gemeinde am Alten Testament? Vor allen ekklesiologischen Versuchen der Beantwortung dieser Fragen ist das messianisch-christologische Argument zu bedenken. Jesus als der Christus verbindet die Kirche mit Israel. Genauer sagt Calvin: Der Jude Jesus von Nazareth als der Messias Israels und Herr der Kirche begründet die Gemeinschaft der Kirche mit Israel, dem Gottesvolk des Alten Testaments. Die beiden Akzente: Jesus als »wahrer Jude« und als Messias Israels werden schärfer gesetzt, als es sonst in der christlichen Tradition geschieht.
Calvins Christologie ist eine alttestamentlich bestimmte Messianologie vor allem in der Triplex-munus-Lehre, die der Heidelberger Katechismus in der Frage 31 aufgenommen hat: Als Messias, als Geist-Gesalbter, ist Jesus der endzeitliche Prophet, Priester und König, der sein Charisma den Christen mitteilt und sie an seinen messianischen Gaben partizipieren läßt. In Christus geschieht Bestätigung und Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen und Verheißungen. Augustinus lehrte: »Christus universae scripturae scopus est.« Die Reformatoren, so auch Calvin, bekannten sich zu diesem Satz, allerdings mit unterschiedlicher praktisch-exegetischer Ausführungsweise. In seinen Auslegungen des Alten Testaments erweist sich der Genfer Reformator in der Frage christologischer Interpretation des Alten Testaments als äußerst zurückhaltend und vorsichtig. An entscheidenden Stellen schert er aus der christlichen Auslegungstradition aus
Ich nenne zwei Beispiele: 1. Den Psalm 72 deutete man in der Auslegungstradition der Kirche christologisch. Calvin hingegen eröffnet die Interpretation dieses Psalms mit folgender Erklärung: »Den Psalm ohne weiteres auf das Königtum Christi zu beziehen ist eine Gewaltsamkeit. Wir sollten den Juden keinen berechtigten Anlaß zu dem Vorwurf geben, wir würden alles unbedacht verdrehen, indem wir alle Einzelheiten auf Christus beziehen, die doch durchaus nicht von ihm handeln.« Wann und wo hat es das in der Kirche schon einmal gegeben, daß ein christlicher Theologe sich in seiner Erklärung der Hebräischen Bibel den Juden gegenüber verantwortlich weiß?! Daß er jüdische Reaktion mitbedenkt?! Ursache solcher Aufmerksamkeit ist die Tatsache, daß Calvin ständig in den jüdischen Kommentaren, die ich erwähnte, arbeitete und forschte. 2. Ergebnis solcher intensiven Befassung mit jüdischer Auslegung ist die Leugnung und Ausscheidung des sog. Protevangeliums. Gen 3,15 wurde in der christlichen Auslegungstradition als Protevangelium, d.h. als erste Ankündigung des Evangeliums von der den Satan überwindenden Macht Christi, verstanden: »Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinen Nachkommen und ihren Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.«
Calvin hat sich von den jüdischen Gelehrten des Mittelalters belehren lassen, daß das hebräische Wort sära (Same) keineswegs auf einen speziellen Nachkommen bezogen werden kann, sondern kollektivisch offenbleibt, also den unabsehbaren Konflikt zwischen Schlangen und Menschen ankündigt. Ich zitiere aus dem Genesis-Kommentar Calvins: »Ich meine, daß hier eine wirkliche Schlange gemeint ist, keineswegs aber eine Allegorie vorliegt.« Gen 3,15 ist also so zu verstehen, »daß immerwährend zwischen dem Menschengeschlecht und den Schlangen ein Kriegszustand herrschen wird«. »Es ist nicht erlaubt, den Sammelbegriff sära (Samen oder Nachkommenschaft) auf eine einzige Person zu deuten. Von einer fortwährenden Feindschaft ist die Rede.«
Damit ist das sog. Protevangelium natürlich erledigt, doch sind die Verfasser des Heidelberger Katechismus in dieser Sache keine aufmerksamen Schüler Calvins gewesen, denn sie haben die alte Theorie zu neuem Leben erweckt: »Gott selbst hat anfänglich das heilige Evangelium im Paradies geoffenbart« (Frage 19; die Randnotiz verweist auf Gen 3,15). Man kann sagen, daß durch Calvin Tabus gebrochen wurden, denn tatsächlich hat die Kirche bestimmte Verheißungen und Weissagungen des Alten Testaments christologisch tabuisiert, um auf diese Weise Altes und Neues Testament eng zu verklammern. Wo immer aber Calvin selbst christologische Erklärungen in seine Auslegungen des Alten Testaments einbringt, da geschieht dies in messianischer Perspektive und sachlicher Konsequenz, unter betonter Ausscheidung jeder allegorischen oder typologischen Kunstgriffe.
Es bleibt also zuerst festzustellen: Der Jude Jesus von Nazareth als der vom Alten Testament angekündigte Messias verbindet die Kirche mit Israel. Aber nun bedürfen die christologischen Argumente der ekklesiologischen Konkretisierung. In der Geschichte der Kirche findet man - von den Anfängen an - immer wieder die Enterbungs- oder Substitutionstheorie. Diese Theorie, die das Gewicht eines Dogmas hat, besagt: Israel hat den Bund gebrochen und ist von Gott enterbt worden; Erbe der Erwählung, des Bundes und aller Verheißungen ist die Kirche geworden; ihr gehört das Alte Testament, das für sie nun ohne weiteres zugänglich ist. In der Gestalt der Substitutionsthese heißt dies: An die Stelle Israels ist die Kirche getreten, denn Gott hat sein Volk Israel verstoßen. Daß diese Erklärungen und die entsprechenden Verfahrensweisen der Kirchen von weitreichender Wirkung für ihr Verhältnis zu den Juden wurden, wird uns immer mehr bewußt.
Die Position Calvins in dieser Sache ist die eines einsamen und energischen Widerspruchs, denn er hat stets der Gewißheit Ausdruck gegeben, daß der Bund Gottes mit Israel ewigen Bestand hat und ungekündigt besteht. Wer hier einmal genau hinhört und vergleicht, der wird erkennen müssen, daß es in der Tat eine einsame Stimme in der Kirche ist, die dies zu sagen wagt - gegen ein eingewurzeltes dogmatisches Urteil. Wie kommt Calvin zu dieser außergewöhnlichen Aussage?
Zum einen weist der Ausleger des Alten Testaments darauf hin, daß in der Verheißung des Neuen Bundes Jer 31,31-34 keineswegs von einer Verwerfung Israels die Rede ist, vielmehr wird ja doch ausdrücklich gesagt, der Neue Bund werde mit dem »Haus Israel« und mit dem »Haus Judas« geschlossen. Zum anderen bezieht Calvin sich auf die Ausführungen des Apostels Paulus in Röm 9-11. Es heißt in Röm 11,2 kategorisch: »Gott hat sein Volk nicht verstoßen, welches er zuvor ersehen (erwählt) hat«.
Calvin geht, Paulus folgend, keineswegs an der Tatsache vorüber, daß Israel den Bund gebrochen hat. Aber er schreibt dann folgendes in seiner Erklärung zum Römerbrief:
»Es erhebt sich eine ganz andere Schwierigkeit: Es fragt sich, ob der Bund, den Gott einst mit den Erzvätern geschlossen hat, wirklich habe abgeschafft werden können. War auch die Strafe des Volkes eine wohlverdiente, so wäre es doch ungereimt, wenn der Menschen Treulosigkeit den Bund sollte ins Wanken bringen können. Denn der Grundsatz steht unbedingt fest, daß die Annahme zur Kindschaft ein Werk der freien Gnade ist, nicht auf Menschen, sondern allein auf Gottes Grund gebaut, daß sie also fest und unbeweglich stehen muß, wenn auch aller Unglaube der Menschen sich wider sie auflehnt. Dieser Knoten muß entwirrt werden, wenn nicht der Schein entstehen soll, als hinge Gottes Wahrheit und Erwählung an der Menschen Würdigkeit.«
Soweit Calvin, der zum Ausdruck bringt und stets wiederholt hat: Die Bundestreue Gottes hat kein Ende. Israel ist und bleibt Gottes erwähltes Volk. Wer dem widerspricht, zerstört die Fundamente des Heils, die auf Gottes freier Gnade beruhen und nicht hinfällig werden. Das reformatorische »sola gratia« (allein aus Gnade) ist in Israel verwurzelt und verbürgt. D.h. aber: Israel ist nicht nur, wie in der Kirche bisweilen gedeutet wird, ein Anschauungsunterricht der Bundestreue Gottes für die Kirche. Die Bundestreue Gottes ist und bleibt vielmehr für Israel geschichtlich real und konkret - bis zum Letzten. Dieses »Letzte« wird vom Apostel Paulus mit den Worten bezeichnet, daß am Ende, wenn die Fülle der Heiden in das Reich Gottes eingegangen sein wird, »das ganze Israel gerettet wird« (Röm 11,26).
Sicher nicht sachgemäß versteht Calvin unter »ganz Israel« das Gottesvolk aus Juden und Heiden. Aber beachtlich und bezeichnend sind seine Ausführungen:
»Wenn nämlich die Heiden in Gottes Reich eingegangen sein werden und zugleich auch die Juden ... zum Gehorsam des Glaubens sich sammeln werden, dann wird das Heil des ganzen Israel Gottes, welches er aus beiden sich sammeln will, sein Ziel erreicht haben, doch so, daß die Juden als die Erstgeborenen der Familie Gottes den ersten Platz einnehmen.«
Bis in die eschatologische Vollendung hinein bleibt die Prärogative Israels als der Ersterwählten bestehen. Unermüdlich betont Calvin die Würde und das Vorrecht der Ersterwählten, der Juden. Er bedient sich dabei einer sehr wichtigen ekklesiologischen Bezeichnung. Das Gottesvolk des Alten und des Neuen Testaments bildet zusammen und als Einheit die »familia Dei«, die »Familie Gottes«, in der die Juden die älteren Geschwister sind. Hätte die Kirche, durch Calvin belehrt, so die Juden angesehen: als die älteren Geschwister ein- und derselben Familie Gottes, des Vaters, dann wäre wohl all das Schreckliche nicht möglich gewesen, das Christen den Juden angetan haben an Haß, Verfolgung und Versagung von Beistand und Hilfe in den mörderischen Pogromen.
Calvin weiß wohl um den Schmerz und das Leid der getrennten Wege, auf denen Kirche und Synagoge wandeln. Aber er schaut aus nach der großen Wende und sehnt sie herbei. Im Kommentar zu den Psalmen wird der Stachel spürbar, daß Israel und die Kirche, Juden und Christen, getrennt mit denselben Liedern und Gebeten Gott loben. Calvin spricht diese schmerzliche Tatsache aus und sehnt sich nach der Vollendung, wenn Juden und Christen gemeinsam mit den Psalmen Israels Gott loben und anbeten.
Wenn es sich darum handelt, das Verbindende zwischen Kirche und Israel zu bezeichnen, dann könnte die ekklesiologische Formulierung »familia Dei« wohl eine Hilfe sein. Aber Calvin bemüht sich - vor allem in der Institutio - noch um andere Zuordnungskategorien. Davon muß die Rede sein, auch wenn der Begriff der »Zuordnungskategorien« schon gewisse Schematismen ankündigt, die wir kritisch zur Kenntnis nehmen müssen. Ich setze ein mit dem ekklesiologischen Theologumenon »ecclesia aeterna« (ewige Kirche), das zum unverzichtbaren Inventar des kirchlichen Dogmas gehört: Die Kirche besteht in Ewigkeit.
Die großen Bekenntnisse, die in die Exegese des Alten Testaments hineinwirken, lauten dann z.B. so: Von Anfang der Schöpfung an existiert Kirche. Die Urväter und Erzväter sind die Prototypen der »ecclesia aeterna«. Israel ist Bestandteil der »ewigen Kirche«. Es ist unschwer zu erkennen, daß mit dem Dogma »ecclesia aeterna« das gesamte Alte Testament mitsamt den Erzvätern, Israeliten und Propheten von der Kirche »vereinnahmt«, in die »ewige Kirche« eingeordnet wird. Dies ist im Verlauf der Kirchen- und Theologiegeschichte oft auf sehr plumpe Weise geschehen, immer aber so, als verstehe es sich von selbst, daß sich in der Geschichte der Offenbarung alles allein um die Kirche dreht.
Auch Calvin konnte sich dem Bann der Idee »ecclesia aeterna« nicht entziehen. Aber er rezipierte diese Idee in einer eigenartigen und differenzierten Weise. Und zwar unter Berufung auf neutestamentliche Texte, über deren sachgemäße Interpretation man streiten könnte. In einer Kombination von Gal 3,24 (»Das Gesetz ist unser Zuchtmeister [Erzieher] auf Christus hin gewesen«) und Eph 4,13 (»bis wir gelangen zur Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mannesalter, zum vollendeten Maß der Fülle Christi«) - in der Kombination dieser beiden Texte entwirft Calvin die Vorstellung vorn Wachstum eines Menschen, der unter Gottes Erziehung heranwächst.
Der heranwachsende und im Neuen Testament ausgereifte Mensch lebt im Alten Testament in der »aetas puerilis«, im knabenhaften, kindlichen Zeitalter. Er bedarf der Erziehung durch die Tora, der - wie der humanistische Begriff heißt - eruditio. Inst II.11.2: »Die Menschen des Alten Bundes haben das gleiche Erbe, das auch für uns bestimmt ist; aber in ihrem Alter waren sie noch nicht fähig, dieses Erbe anzutreten oder zu verwalten. Es war unter ihnen die gleiche Kirche (eadem ecclesia) - aber sie stand noch im Kindesalter. So hat sie der Herr unter dieser Erziehung gehalten, und dabei hat er ihnen die geistlichen Verheißungen nicht bloß und offen gegeben, sondern gewissermaßen unter irdischen Verheißungen verdeckt.«
Nach Calvin ist also die Heilsgeschichte Erziehungsgeschichte, die die Kirche durchläuft. Im Unterschied zur Rede von der familia Dei wird jetzt auf Identität und Kontinuität der Kirche (eadem ecclesia) insistiert. Dabei ist nun freilich für die christliche Kirche die Erziehungsphase des Alten Testaments nicht einfach überwunden; sie muß für die Kirche immer noch wirksam sein zur besseren Erkenntnis Christi, zur immer neuen Heranführung an die messianische Erfüllung. Dies ist der eine, durch das Neue Testament motivierte Argumentationsstrang; der andere rekurriert auf Kol 2,17; Hebr 8,5 und Hebr 10,1. In diesen Texten werden Institutionen des Alten Testaments als skia, als »Schatten« des Zukünftigen bzw. des Himmlischen verstanden.
Unter Anleitung dieser Unterscheidung von eschatologischer bzw. himmlischer Realgestalt und deren vorankündigenden, vorauflaufenden »Schatten« wird das Alte Testament gedeutet. Und es kann nicht übersehen werden, daß Calvin hier platonischen Ideen Einlaß gibt, wenn die neutestamentliche Unterscheidung durch das Schema platonischer Philosophie in ein Urbild-Abbild-Verhältnis gerückt wird. Und immer steht, auch in diesen Variationen, die Idee der »ecclesia aeterna« im Hintergrund. Auf diese Weise wird der Zugang zum Alten Testament reguliert und erleichtert. Es wird eine Aneignung der Texte Israels möglich.
Deutlich unterscheidet sich diese systematisch-dogmatische Kategorisierung von dem humanistisch-historischen Ansatz der Exegese, den ich im 1. Teil schilderte. Aber man wird die Unterschiede nicht dramatisieren und überschätzen dürfen. Denn stets, sowohl in der humanistisch angeleiteten historischen Forschung wie auch auf den Bahnen der Regulierung durch das »Erziehungs«- und »Schatten«-System, fragt Calvin nach dem »Wort Gottes« im Zeugnis der Heiligen Schrift. Er sucht die Anrede Gottes in den alttestamentlichen Texten - des Gottes, der für ihn, den Christen, der »Gott Israels« ist und bleibt: in der Unverwechselbarkeit seines heiligen Namens.
Wir müssen uns heute kritisch von all den Aneignungsregulationen, mit denen die Kirche sich des Alten Testaments zu bemächtigen sucht, distanzieren. Denn es geschieht zumeist nichts anderes als eine oft latente, häufig manifeste »Enterbung Israels«. Wenn in dieser Sache ein zwiespältiger Eindruck bei der Kenntnisnahme der Israel Theologie Calvins entsteht und der Bann der Idee der »ecclesia aeterna« nicht geleugnet werden kann, so sind doch die positiven, für die Begründung eines neuen Verhältnisses von Christen und Juden dominanten Züge unverkennbar. Und dies gilt auch für die Stellung der Kirche zum Alten Testament. Immer wieder kennzeichnet Calvin die Grenze der geschichtlichen und durch Erwählung herausgehobenen Eigenexistenz Israels, der die Kirche gegenübersteht.
Würde man ihn fragen, mit welchem Recht die Kirche sich auf das Alte Testament bezieht, so gilt für ihn nicht nur die messianische Perspektive, sondern - oft betont - der Abraham-Bund, der Anteil am Segen Israels allen Völkern verheißt. Wollte man die Teilhabe der Kirche am Weg Israels, wie Calvin sie in seinen Kommentaren zum Alten Testament praktiziert, genauer beschreiben, dann könnte man Dietrich Bonhoeffer zitieren: »... wir ziehen, uns selbst vergessend und verlierend, mit durch das Rote Meer, durch die Wüste, über den Jordan ins gelobte Land, wir fallen mit Israel in Zweifel und Unglauben und erfahren durch Strafe und Buße wieder Gottes Hilfe und Treue, und das alles ist nicht Träumerei, sondern heilige, göttliche Wirklichkeit« (Gemeinsames Leben, S. 43).
Es geht zunächst um den Sprachgebrauch, um den Kontext der Bezeichnungen. Da ist zu unterscheiden zwischen einem biblischen und einem nachbiblischen Begriff »Juden« in der Theologie Calvins. Als nach der Zerstörung des Nordreichs Israel im Jahr 722 v.Chr. nur noch das Südreich »Juda« existiert, liegt es nahe, die Einwohner dieses Südreichs »Judaei«, »Juden« zu nennen. So verfährt auch Calvin, wobei jedoch die Unterscheidung keine Scheidung vollzieht, sondern in der Bezeichnung »Juden« - »Israel« meint. Dies ist um so bemerkenswerter, als Calvin seine frühmittelalterlichen Lehrer und Gewährsmänner von Raschi bis Ibn Esra auch »Judaei«, »Juden« nennt - ohne eine unterscheidende Erklärung einzufügen. So stehen die biblische und die nachbiblische Bezeichnung oft unvermittelt nebeneinander. Und dies hat natürlich Grund und Voraussetzung in der von mir erwähnten Tatsache, daß der Bund mit Israel ungekündigt ist und, wie dem alttestamentlichen Israel, so auch den in der nachbiblischen Ära lebenden Juden gilt. Sie gehören zusammen, sie sind eine Einheit: Israel und die Juden. Dies ist in der kirchlichen Tradition - ich sagte es schon - ein Novum, ein einsamer Vorstoß mit erheblichen Folgen.
Um das Israel des Alten Testaments, ja überhaupt die hebräische Heilige Schrift zu verstehen, müssen Christen bei den Juden in die Schule gehen. Sie müssen einen umfassenden und tiefreichenden »Sprachunterricht« nehmen. Denn wer anders als der Jude kann Auskunft geben über die Idiome der hebräischen Sprache? Christen sind immer wieder versucht, ihre ethnisch-griechische Begrifflichkeit in die Erklärung des Alten Testaments zu transportieren und sich mit Allegorie und Typologie die fremden Aussagen anzueignen, sie auf ein neutestamentliches »Niveau« emporzuheben. Allen diesen Versuchen und Versuchungen widerspricht Calvin scharf und streng. Unter Berufung auf die hebräischen Lehrer klagt er über den Unverstand der allegorischen Exegese, der auch Luther verfallen war.
Nehmen wir als Beispiel die Überschrift zum 22. Psalm, wörtlich zu übersetzen: »Ein Psalm Davids, vorzusingen nach der Weise »Die Hirschkuh, die früh gejagt wird«. Luther übersetzt »Hände der Morgenröte«. Calvin fragt »die Juden« (ein namentliches Zitieren gab es damals noch nicht), was diese Überschrift wohl bedeutet, und nimmt die Erklärung auf: Es handelt sich um ein profanes Volkslied, ein Jagdlied, das für Ps 22 die »Melodie« angibt. Man muß diese einfache und sachliche Erklärung nun einmal vergleichen mit all dem allegorischen Zauber, den christliche Exegeten in die Überschrift hineingeheimnißt haben, zumal in diesem Psalm das Wort Jesu am Kreuz »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« zu finden ist. Luther nimmt die Erwähnung der »Morgenröte« zum Anlaß, einen heilsgeschichtlichen Sonnenaufgang angekündigt zu sehen. Was der historisch-kritischen Forschung heute kein Problem mehr ist, war zur Zeit der Reformation eine erstaunliche Provokation: der Ausbruch aus einem klerikalisierten Welt- und Sprachverständnis.
Zu seiner Zeit, in der ersten Hälfte des 16. Jh.s, hatte Calvin kaum eine Gelegenheit, Juden zu begegnen. In Genf gab es keinen Judenbezirk, keine Synagoge. Ein Dialog zwischen Kirche und Synagoge, Christen und Juden lag - nach Jahrhunderten währender Trennung - außerhalb der Möglichkeiten. Zeittypisch war vielmehr die Anschuldigung aus der Distanz, wie sie aus Luthers Traktat »Von den Juden und ihren Lügen« (1543) bekannt ist. Um so erstaunlicher ist es, daß sich in der schriftlichen Hinterlassenschaft Calvins, veröffentlicht in CR XXXVII, 653-674, ein Dokument mit folgender Überschrift findet: »Ad quaestiones et objecta Iudaei cuiusdam« (Zu Fragen und Einwänden eines Juden), also ein Dialog des Genfer Reformators mit einem (ungenannten und unbekannten) Juden.
Anders als der berühmte »Dialog mit dem Juden Tryphon« des Apologeten Justin aus dem 2. Jh. n.Chr. führt Calvin nicht einen fiktiven Dialog, in dem es nur darum geht, die Wahrheit des Christentums an einem Zerrbild des Judentums darzutun. Es werden vielmehr theologische Fragen an Calvin gerichtet, die in erster Linie das rechte Verständnis der Auslegung des Alten Testaments und die Messianität Jesu betreffen. [1] Ich kann diesen umfangreichen Dialog jetzt nicht referieren, sondern nur ein paar zusammenfassende Bemerkungen vortragen. Die Fragen des Juden, auf die geantwortet wird, erstrecken sich auf die allgemein bekannten Unterschiede und Konflikte zwischen Juden und Christen. Sie sind offensichtlich von Calvin zusammengestellt worden.
Ich möchte nun zwei positive Kennzeichen dieses Dialogs zuerst benennen: 1. Calvin erweist sich als ein aufmerksamer, aufgeschlossener Zuhörer, der die Pointen der Frage sorgfältig wiederholt, Rückfragen stellt und seinem »Gegenüber« gerecht werden will. 2. Die Fragen werden auf dem gemeinsamen Grund der Hebräischen Bibel ausgetragen, in exegetischen Hinweisen und Erklärungen. Beides ist, auf der Folie traditioneller Verfahrensweise gesehen, ungewöhnlich und eben wohl auch beispielhaft.
Sicher nicht positiv zu bewerten ist die Schlußpassage jeder »Antwort«. Letztlich ist es für Calvin - wie er immer wieder betont - »ein Leichtes«, die in den Fragen des Juden enthaltenen Einwände gegen den Christus-Glauben der Christen zu widerlegen. Calvin will nicht zugestehen, daß der Jude (wie es Bonhoeffer einmal ausgedrückt hat) »die Christusfrage offenhält«. Für ihn ist letztlich doch alles im Kontext des kirchlichen Dogmas abgeschlossen und besiegelt. Auch Calvin weiß sich im Lager der ecclesia triumphans gegenüber den Juden. Ein Exodus aus dieser Position zeichnet sich - bei allen positiven Ansätzen - nicht ab. Auch er behaftet, wie es in der Kirche üblich war, die Juden mehr bei ihren »Übertretungen« - statt nun gerade ihnen gegenüber von der ewigen Bundestreue des Gottes Israels zu reden, wie er es doch in der theologischen Theorie getan hat.
Aber diese Feststellung bedarf nun doch einer in den Bibelauslegungen zu beobachtenden Klärung. Wenn im Alten Testament, vor allem in den prophetischen Anklage- und Gerichtsbotschaften, die Schuld Israels aufgedeckt wird, ja wenn im Neuen Testament von der Schuld der Juden, der Pharisäer und Schriftgelehrten, die Rede ist, dann unternimmt Calvin es nicht, die Schuldaussage für Israel und die Juden festzuschreiben, sie auf Israel und die Juden zu fixieren. Vielmehr erweist er sich darin als Hörer der Anrede des Wortes Gottes im Alten und Neuen Testament, daß er selbst sich in jeder Schuldenthüllung als der Getroffene weiß, daß er die christliche Kirche als die akut Angesprochenen erkennt.
Die apostolische Mahnung »Sei nicht stolz, sondern fürchte dich!« (Röm 11,20) erklärt diese Grundhaltung. Denn dies eine kann man Calvin nicht nachsagen, daß er ein Vertreter jenes kirchlichen Stolzes und Hochmuts dem Judentum gegenüber gewesen sei, wie ihn die Kirchengeschichte allüberall in Erscheinung treten läßt. Tief eingeprägt in die gesamte Theologie Calvins ist das Paulus-Wort: »Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich« (Röm 11,18). Israel ist der Geschichtsgrund der Kirche. Auf diesem Grund erhebt sich das Haus der Kirche. Das tragende Fundament bestimmt bis in die Einzelheiten das ganze Gebäude. Dieser Tatsache entsprechend ist das Neue Testament auszulegen - eben nicht in der ständigen Antithese zum Judentum, wie sie vor allem von Markion und den zahlreichen Markioniten in der Kirche betrieben wurde, sondern in der permanenten Zuwendung zu dem tragenden Geschichtsgrund Israel.
Hier müßte nun eigentlich ein Kapitel »Calvin als Ausleger des Neuen Testaments« folgen, in dem gezeigt werden könnte, wie konsequent Calvin mit allen philologischen und historischen Erkenntnismitteln aufweist, daß Begriffe und Aussagen des Neuen Testaments aus der Wurzel Israel, aus dem Alten Testament hervorgegangen und entsprechend zu erklären sind. Calvin ist in der Neuzeit der erste Repräsentant einer Israel-Theologie der Kirche, wie sie heute von denjenigen erstrebt und verfochten wird, die den Dialog mit den Juden aufgenommen und demgemäß auch die Entwicklung des kirchlichen Dogmas kritisch zu befragen begonnen haben. Ich meine dies im Sinne der These des neuen Buches von Friedrich-Wilhelm Marquardt »Von Elend und Heimsuchung der Theologie«, wo es auf S. 35 heißt: »Grund der Theologie ist die biblisch bezeugte und bis heute sich weiter ereignende Geschichte des Gottes Abrahams, Isaaks, Jakobs und des Vaters Jesu Christi mit dem Volk Israel und allen Völkern um es herum. - Theologie bekennt sich zu ihrem Grund, wenn sie sich zur nachdenkenden Teilnahme an dieser Geschichte bekennt.«
Abschließend aber möchte ich noch einmal zu bedenken geben, welche Konsequenzen die Begegnung und der Dialog zwischen Christen und Juden hat, wenn ausgegangen wird von der Gewißheit, daß der Bund mit Israel unkündbar besteht. »Gottes Gaben und Berufung sind unkündbar«, sagt der Apostel Paulus in Röm 11,29. Israel lebt. Bis auf den heutigen Tag. Diese Tatsache bestimmt die Begegnung mit dem Alten Testament und mit dem Judentum; sie führt die Kirche in Buße und Umkehr, die Theologie in einen bis in die Wurzel des Denkens und Forschens reichenden Umsturz.
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Quelle: Hans-Joachim Kraus, Rückkehr zu Israel. Beiträge zum christlich-jüdischen Dialog, Neukirchen-Vluyn 191, S. 189-199
[1] Anm. der Redaktion reformiert-info: Die Schrift „Zu den Fragen und Einwürfen irgendeines Juden“ (ca. 1563) ist in lateinischer Fassung und deutscher Übersetzung, eingeleitet von Achim Detmers abgedruckt in: Calvin Studienausgabe, Bd. 4: Reformatorische Klärungen, hrsg. von E. Busch, M. Freudenberg, A. Heron, Chr. Link, P. Opitz, E. Saxer, H. Scholl, S. 366-405, Neukirchen-Vluyn 2002. Sehr wahrscheinlich hat Calvin die 23 Fragen eine hebräischen Übersetzung des Matthäusevangeliums, einer Abschrift von Schemtobs „Eben bochan“ entnommen. Calvin spricht in seiner Schrift seine jüdischen Gegner nicht persönlich an, sondern schreibt in der 3. Person über sie. „Calvin wandte sich also nicht an eine jüdische, sondern eindeutig an eine christliche Leserschaft […] Calvin beabsichtigte, Gegenfragen für den christlichen Gebrauch zu formulieren.“ (Ebd. 361)
Prof. Dr. Hans-Joachim Kraus (1918-2000)
Hans-Joachim Kraus, „Israel“ in der Theologie Calvins (1988).pdf