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Mass und Mitte

Jemand schreibt mir, den das Wort Überalterung ärgert. Mich ärgert im gleichen Moment das Wort Übersterblichkeit, das zu diesen Jahren gehört, in denen die Natur ausser Rand und Band zu geraten scheint, mikrokosmisch durch das Virus und makrokosmisch durch den Klimawandel. Der Natur folgt die Statistik. Beide scheinen Mass und Mitte verloren zu haben, auch so ein Wort dieser Jahre, rhetorisch ein hendiadyoin: eine Aussage in zwei Wörtern, alliterierend und wachsend. Überaus schön. Gute Miene zum bösen Spiel.

Wortbildungen mit Unter und Über setzen Mass und Mitte voraus, ja, sie beanspruchen sogar Definitionsmacht, denn unbemerkt legen sie fest, was normal ist. Wie bei der Überschwemmung ein Übermass an Wasser über ein Tal kommt, wird bei der Überalterung die Gesellschaft mit einem Übermass an Alten überfordert oder bei der Übersterblichkeit mit einem Übermass an Toten überlastet. Über heisst statistisch: deutlich mehr als normal.

Ist es ethisch aber richtig, Mass und Mitte als Norm festzulegen? So, dass ein schlechtes Gewissen haben muss, wer in der Schweiz als Frau 86 oder als Mann 82 geworden ist: Beide sind bereits überaltert, unnormal lebendig, masslos. So dass ein gutes Gewissen haben kann, wer in der Politik wirkungsvolle Massnahmen gegen das Virus ergriffen hat: Er bekämpft das Übermass an Toten, entlastet Intensivstationen und Krematorien, beruhigt Versicherungen.

Nein, Statistik und Ethik dürfen nicht gleichgeschaltet werden. Was stati­stische Norm ist, kann nicht automatisch ethische Devise werden: Eine überaltete Neunzigjährige, die von der shoa erzählen kann, ist womöglich lebendiger als eine unteralterte Zwanzigjährige, die nur selfies einstellt. Und der tote, übersterblich gewesene und elendiglich erstickte Inder drückt seiner Gemeinde hoffentlich aufs Gewissen, ihre Infrastruktur so lange sorgfältig auszubauen, bis ihr Untersterblichkeit droht.

Aber was schreibe ich da: die Wörter unteraltert und untersterblich gibt es ja gar nicht, warum eigentlich?


MK