Skepsis oder Zuversicht?

Erwartungen der Bevölkerung zur Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland


Horst Gorski, Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD; Foto: EKD

Horst Gorski, Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD zu einer repräsentativen Umfrage des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD.

SI-Studie: Skepsis oder Zuversicht? (pdf) (488,87 kB)

Zu Weihnachten erklingt in den Kirchen überall auf der Welt der Ruf der Engel von Bethlehem: „Fürchtet euch nicht!“ Was aber, wenn Menschen Angst haben? Es ist normal, Angst zu haben. Wahrscheinlich ist es sogar ein bisweilen lebensrettender Mechanismus. Angst löst einen Flucht- oder Verteidigungsreflex aus. Das ist uns biologisch eingegeben. Und in vielen Situationen ist das gut so.

Wir leben aber nicht mehr auf den Bäumen und mit der Axt in der Hand. Wir leben in einer Zivilgesellschaft, in der es geregelte Mechanismen der Angstbewältigung gibt und dem Staat das Gewaltmonopol zukommt. Nur er darf Gefahren mit Mitteln staatlicher Gewalt abwehren, und er muss dies auch.

In den letzten Monaten erleben wir, dass Begriffe und Kategorien durcheinander geraten. Da steht die Angst vor Terror neben der Sorge, was ist, wenn 300m neben meinem Haus eine Flüchtlingsunterkunft errichtet wird. Da steht reflektierte Vorsorge, wie Integration gelingen kann, neben zur Hetze missbrauchter Angst. Wie kann man über Sorgen und Ängste in diesen Zeiten sprechen, ohne in die Vermischung mit Missbrauch und Hetze zu geraten?

Es braucht saubere Unterscheidungen der Begriffe und der Dinge. Tabuisierung von Ängsten ist kein Weg. Er führt allenfalls dazu, dass Ängste größer werden und dass die von Tabus bestimmte gesellschaftliche Debatte an Glaubwürdigkeit verliert.

Einer solchen Unterscheidung der Begriffe und der Dinge dienen sozialwissenschaftliche Untersuchungen. Deshalb ist das Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland dankbar, dass das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD kurzfristig eine Umfrage zu Skepsis und Zuversicht in der Bevölkerung im Blick auf die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland vorgenommen hat. Wir hoffen, damit als evangelische Kirche einen Beitrag zur Differenzierung und zur Versachlichung der öffentlichen Debatte beitragen zu können.

Einige Ergebnisse der Befragung im Einzelnen:

85% der Befragten haben Sorge vor einem Anwachsen des Rechtsextremismus. Damit scheint dies die am meisten verbreitete Sorge in der Bevölkerung zu sein. Man kann diesen herausragenden Befund aber von zwei Seiten lesen. Denn wenn dies die am meisten verbreitete Sorge ist, heißt das auch: 85% der Befragten stehen dem Rechtsextremismus kritisch oder ablehnend gegenüber.

Als weitere vorrangige Sorgen wurden die Sorgen um die individuellen und gesellschaftlichen Existenzgrundlagen Wohnung (77,6%), Arbeit (77,2%) und Sicherheit/staatliche Ordnung (63,9%) genannt. Unter der Voraussetzung, dass Rechtsextremismus dort Platz greift, wo soziale Grundbedingungen nicht oder nur stark eingeschränkt gegeben sind, kann man annehmen, dass die Sorge vor einem Anwachsen des Rechtsextremismus geringer wird, wenn diese existentiellen Probleme gelindert bzw. behoben werden.

Aus Sicht der evangelischen Kirche sind aber auch einige andere Ergebnisse von Bedeutung: Die größte Zustimmung in der gesamten Befragung (88%) erreicht die ethische Option für die Aufnahme von Flüchtlingen: „Deutschland steht damit Menschen in existenzieller Not zur Seite“. Entsprechend sind über 80% der Befragten der Meinung, die Kirche solle sich für die Aufnahme von Flüchtlingen einsetzen. Und ebenfalls 80% der Befragten können sich vorstellen, selbst etwas zur Aufnahme der Flüchtlinge beizutragen, und sei es durch eine schlichte Sachspende. Das signalisiert eine nach wie vor extrem hohe Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. Ein „Kippen“ dieser Bereitschaft, nach der in den letzten Wochen immer wieder gefragt worden ist, deutet sich nicht an.

Etwas pauschal gesagt: Die deutsche Gesellschaft geht mit der ungewohnten Situation gelassen und vernünftig um. Die Politik, staatliche Organe, die zivilgesellschaftlichen Akteure und die Medien tragen zu einer hohen Stabilität der Gesamtsituation bei.

Über 60% der Befragten sind unentschieden in ihrer Meinung, ob Deutschland die Herausforderung durch den Zustrom von Flüchtlingen bewältigen wird. Es gibt hier also eine breite Mitte sowie zwei mit jeweils ca. 15% ungefähr gleich große Ränder, die sich sicher sind, dass Deutschland die Herausforderung bewältigen wird bzw. nicht bewältigen wird.

Dieser Wert zeigt, dass bei aller Stabilität der Situation insgesamt noch lange nicht alles getan ist. Viel wird davon abhängen, wie die nächsten Schritte, die man unter der Überschrift „Integration“ zusammenfassen kann, gelingen. Dazu gehören das Erlernen der deutschen Sprache, das Hineinfinden in die deutsche Kultur und ihr Rechtssystem, die Aufnahme in das Bildungssystem und den Arbeits- und Wohnungsmarkt. Die o.g. Sorgen formulieren den Auftrag, es insbesondere auf dem Bildungs-, Arbeits- und Wohnungssektor nicht zu einer Konkurrenz der Benachteiligten kommen zu lassen.

Es gibt also einen breiten Gestaltungsraum. Die hohe Bereitschaft, sich selber zu engagieren, zeigt aber auch eine hohe Gestaltungsbereitschaft. Das Ergebnis, dass persönliche Erfahrungen im Kontakt mit Flüchtlingen fast immer positiv sind und die Sicht insgesamt positiv beeinflussen, ist zwar sozialwissenschaftlich nur die Bestätigung bekannter Zusammenhänge. Dennoch verdient auch dieses Ergebnis Beachtung, weil es in diesem Zusammenhang heißt: Die hohe Bereitschaft, sich selber für Flüchtlinge einzusetzen und dabei auch mit ihnen persönlich in Kontakt zu kommen, wird zu einer positiven „Spirale“ der Stabilisierung innerhalb des Integrationsprozesses der nächsten Jahre führen. Zumindest besteht diese Möglichkeit. Und es lohnt sich, gemeinsam daran zu arbeiten.

„Fürchtet euch nicht!“ Das heißt also nicht: Leugnet eure Ängste. Oder: Seid naiv. Es heißt vielmehr: Es ist möglich, auf Ängste vernünftig und human zu reagieren. Es gibt Halt auch in zerbrechlichen Zeiten. Als Christinnen und Christen glauben wir, dass wir diesen Halt auch aus einer Kraft beziehen, die wir geschenkt bekommen. Dieser Halt buchstabiert sich aber auch ganz konkret im gesellschaftlichen Handeln. Hinderlich ist die Angst vor der Angst. Es ist aber möglich, trotz Angst als Gesellschaft stabil und menschlich zu bleiben. Darin können sich die Perspektiven aller gesellschaftlichen Kräfte, gleich welcher religiösen oder weltanschaulichen Farbe, treffen.

Dr. Horst Gorski
Theologischer Vizepräsident
Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland