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Biografien A bis Z
(1818 - 1898)
Im Februar 1863 wurde in Genf ein „Internationales Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege“ gegründet, um Henry Dunants Ideen zur Versorgung von Kriegsverletzten umzusetzen. Zu den Gründungsmitgliedern gehörte Louis Appia, ein reformierter Pfarrerssohn aus Frankfurt/M.
Bendix Balke, Pfarrer der Französisch-reformierte Gemeinde Frankfurt/M., erzählt von dem Sohn eines seiner Vorgängers:
Louis Paul Amédée Appia wurde am 13. Oktober 1818 in Hanau geboren. Schon in seinem ersten Lebensjahr zog seine Familie nach Frankfurt am Main. Sein Vater Paul Appia war Pfarrer und übernahm 1819 die Pfarrstelle der französisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt. Kindheit und Jugend in diesem Frankfurter Pfarrhaus blieben für das weitere Leben von Louis Appia prägend.
Sein humanitäres Engagement hat tiefe religiöse Wurzeln. In seinen Publikationen machte er immer wieder deutlich, dass sein evangelisch-reformierter Glaube, angeregt von der damaligen Erweckungsbewegung, den Hintergrund für seinen rastlosen Einsatz für Kriegsverletzte darstellte. Sein Leben lang verstand er sich als Arzt, doch im Alter von 72 Jahren schloss er noch ein Theologiestudium in Paris ab. „Die Quelle meiner Erleuchtung war der Unterricht im Wort Gottes, als einziger unfehlbarer Offenbarung. Ich finde dort alles, was ich brauche, um mich aufzuklären über die Bedingungen des Heils“ schrieb er in einem Lebensrückblick 1897. Gelebte Nächstenliebe als Kern des Christentums, wie es Louis Appia als Grundüberzeugung mit den anderen, ebenfalls vom Calvinismus geprägten Vätern des Roten Kreuzes teilte, verbanden sie mit großer Toleranz gegenüber anderen Glaubensformen: So billigten sie bereits 1876 die Verwendung des Roten Halbmondes als muslimisches Äquivalent zum Roten Kreuz.
Louis Appia wuchs in zwei Sprachen und in Beziehung zu drei Kulturräumen auf: Sein Vater stammte aus Torre Pellice in Norditalien. Er gehörte zu den Waldensern, einer vorreformatorischen Kirche aus dem 12. Jahrhundert, die zahlreiche Verfolgungen nur in zwei Alpentälern überleben konnte. Zum Theologiestudium kam Paul Appia nach Genf und heiratete dort Charlotte Develey, die aus christlicher Frömmigkeit heraus mit großer Hingabe Arme und Kranke versorgte. In der Familie und in der Gemeinde sprach Louis Appia Französisch, in der Schule und mit Freunden Deutsch. Die zweisprachige Erziehung trug sicherlich dazu bei, dass er bald auch Englisch und Italienisch fließend beherrschte und bis ins hohe Lebensalter Sprachen wie Japanisch und Chinesisch lernte, um besser zum Aufbau der entstehenden nationalen Rotkreuz-Gesellschaften beitragen zu können.
Louis Appia begegnete von klein auf herausragenden Gestalten aus Wirtschaft, Politik und Kultur, die sich zur Französisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt zählten. Die Gemeinde bestand aus Nachkommen von wallonischen und französischen Glaubensflüchtlingen, die als Kaufleute, Bankiers, Künstler und Gelehrte oft großen Erfolg hatten. Diplomaten der in Frankfurt residierenden Bundesversammlung des Deutschen Bundes gehörten zu den regelmäßigen Besuchern der Gottesdienste. Der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy wurde von Pfarrer Appia mit der Tochter eines früheren Pfarrers der Gemeinde getraut. In dieser illustren Umgebung erwarb Louis große Sicherheit im Umgang mit bekannten Persönlichkeiten, was ihm seine späteren Verhandlungen für das Rote Kreuz erleichterte.
Louis Appia schloss das Gymnasium Francofurtanum (damals Frankfurts einziges Gymnasium) mit dem Abitur ab und ging im Alter von 18 Jahren nach Genf, um dort die Hochschulreife zu erlangen. Zwei Jahre später begann er an der Universität in Bonn und Heidelberg ein Medizinstudium und promovierte 1842, um anschließend als Arzt nach Frankfurt zurückzukehren. Als politisch aufgeweckter Mensch hatte er sich in Heidelberg einer Studentenverbindung angeschlossen, die Demokratie und nationale Erneuerung forderte.
Die Unruhen in der Schweiz 1847 veranlassten Louis Appia nach Genf zu reisen. Ein Jahr später half er, Verwundete bei den Auseinandersetzungen der Februarrevolution in Paris und der Märzrevolution in Frankfurt zu versorgen. Da neben der Medizin auch militärische Auseinandersetzungen eine große Faszination auf ihn ausübten, galt sein spezielles Interesse fortan der Militärmedizin und der Verbesserung der Versorgung von Kriegsopfern.
Aus seinen Erfahrungen mit Schlachtfeldern entwickelte er unter anderem ein Gerät zur Ruhigstellung eines gebrochenen Arms oder Beines während des Transports. Darüber hinaus verfasste er Abhandlungen über die chirurgische Versorgung von Kriegsverletzungen.
1849, nach dem Tod des Vaters und nach der politischen Restauration, verließ Louis Appia mit seiner Mutter und anderen Verwandten Deutschland und ließ sich als praktischer Arzt und Militärarzt in Genf nieder, wo er später die Schweizer Staatsbürgerschaft annahm. 1853 heiratete er Anne Caroline Lassere und hatte mit ihr zwei Söhne und zwei Töchter. Sein Sohn Adolphe Appia wurde später als Architekt und Bühnenbildner bekannt.
In dem Arzt Theodor Maunoir fand Louis Appia in den ersten Genfer Jahren einen Mentor und väterlicher Freund. Sie verband die gleiche Sorge um die „modernen“ Formen der Kriegsführung (Krimkrieg 1853-56 mit hunderttausenden Verletzten und Toten), denen das überkommene Lazarettwesen nicht gewachsen war. Die Briefe seines Bruders Georg, der Pfarrer in Italien wurde, ließen Louis Appia 1859 im italienischen Befreiungskrieg ärztliche Hilfe leisten, so auch in der Schlacht von Solferino, deren Zeuge ebenfalls der zufällig anwesende Genfer Kaufmann Henry Dunant wurde. Dessen drei Jahre später erschienener Erlebnisbericht "Eine Erinnerung an Solferino" wurde zum Appell für die Pflege der Verwundeten und löste eine weltweite Bewegung aus.
Louis Appia und Henry Dunant gründeten, zusammen mit dem Rechtsanwalt Gustav Moynier, dem General Wilhelm Dufour und dem erwähnten Arzt Theodor Maunoir im Frühjahr 1863 das „Fünfer-Komitee“, den Vorläufer des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.
Appia setzte sich bei der ersten Genfer Konferenz dafür ein, dass Mediziner und Pflegepersonal durch ein weißes Armband für alle Kriegsbeteiligte geschützt wurden. Historisch nicht eindeutig belegbar bleibt, ob nun Louis Appia oder General Dufour vorschlugen, das Rote Kreuz als Umkehrung der Schweizer Landesflagge zum Erkennungszeichen der neuen Bewegung zu machen.
Auf jeden Fall war Louis Appia der erste, der dieses Abzeichen trug: Im deutsch-dänischen Krieg von 1864 war Appia als Beobachter des Komitees auf Seiten von Preußen tätig, so wie sein niederländischer Kollege van de Velde auf dänischer Seite. Er brachte den Generälen und Offizieren die Beschlüsse der ersten Genfer Konferenz näher und leistete praktische ärztliche Hilfe. Seine Erfahrungen schrieb er in einem umfangreichen Bericht nieder. Noch im gleichen Jahr entstand die erste Genfer Konvention, der Grundpfeiler des humanitären Völkerrechts.
Zwei Jahre später, im Juni 1866, engagierte Appia sich erneut ohne Rücksicht auf die eigene Person im Rahmen der italienischen Befreiungskriege und behandelte auch Anführer Garibaldi nach einer Beinverletzung.
Ebenso war Appia im deutsch-französischen Krieg 1870/71 unter dem Schutz der Rotkreuz-Armbinde tätig. Nach dem Ausschluss Dunants 1867 wurde Appia bis 1870 sein Nachfolger als Sekretär des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Er war ein unermüdlicher Förderer und Propagandist der Idee des Roten Kreuzes. Im Oktober 1872 reiste er nach Ägypten und verhandelte mit dem ägyptischen Vizekönig Ismail Pascha, um die Gründung einer ersten außereuropäischen Rotkreuz-Organisation zu ermöglichen. Er unterstützte darüber hinaus Clara Barton brieflich beim Aufbau des US-amerikanischen Roten Kreuzes.
Louis Appia verfasste zahlreiche Publikationen. Auf vielen Konferenzen engagierte er sich für die Prinzipien des Roten Kreuzes und verhalf ihnen zum Durchbruch. Appia trat dafür ein, dass über den Einsatz im Krieg hinaus die nationalen Hilfsgesellschaften bei Naturkatastrophen und Epidemien Beistand leisten sollten. In Kriegszeiten erwartete er vom Roten Kreuz auch Hilfe bei der Versorgung von Flüchtlingen und Gefangenen. Der sonst so ruhige und zurückhaltende Appia konnte bei diesen Themen leidenschaftliches Engagement zeigen, womit er auch im Leitungskreis des Roten Kreuzes manchmal aneckte.
Bis 1892 nahm Louis Appia an den Rotkreuz-Konferenzen teil. Er starb am 1. März 1898 im Alter von fast 80 Jahren in Genf. In seiner Geburtsstadt Hanau und seinem Sterbeort Genf sind Straßen nach ihm benannt.
Gedenkstein an den Düppeler Schanzen (Schleswig) zur Erinnerung an Louis Appia und Charles van de Velde als erste IKRK-Beobachter 1864
Die 1789 erbaute Französisch-reformierte Kirche am Frankfurter Goetheplatz, 1944 zerstört.
Pfr. Bendix Balke, Französisch-reformierte Gemeinde Frankfurt/M., Januar 2014
Calvin und die Natur
Von Dr. Otto Schäfer, Pfarrer und Biologe in Bern
„Deus arcanus est agricola“ (Comm. Ps. CIV, v. 13)
Der Gott Calvins ist in der Tat der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der aus der Bibel spricht. Man kommt jedoch nicht umhin – trotz all seiner bedachtsamen Hinweise auf die Verderbtheit der Natur – die authentische, manchmal bis ins Lyrische hinein sich äußernde Liebe festzustellen, die Calvin für die Schöpfung empfindet. Möglicherweise ist er unbewusst, ohne dass dies die expliziten Formulierungen seiner Theologie beträfe, ein Vorläufer des Deismus. Noch deutlicher erweist sich das in seiner Predigt, in der die einfachen Menschen dazu aufgefordert werden, dem Zeugnis ihrer Sinne zu vertrauen, um sich eine Vorstellung von Gottes Größe zu machen.
Cottret, Bernard: Calvin. Biographie. Paris, J.-C. Lattès, 1995, S. 319 (Übersetzung OS)
Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft …
Calvin scheint den Geisteswissenschaftlern zu gehören. Als Stylist steht er am Anfang der modernen französischen Sprache, als Theologe ist er ein eindrucksvoller Denker und Leser der Schrift, als Jurist begründet er neuartige Organisationsmodelle, die in die Geschichte der Institutionen eingehen; vom Stofflichen und Lebendigen scheint der französische Reformator weit entfernt. Allenfalls gesteht man ihm zu, diese Dimensionen der Wirklichkeit dort zu berühren, wo er in einer, wie man meint, höchst zweideutigen Weise die Ökonomie und die Sexualität beeinflusst hat – mit einer „puritanischen“ Moral, was immer das heißen mag.
Ziel I:
Das Calvin-Klischee korrigieren und aufzeigen, dass auch die Natur ein bedeutendes Thema bei Calvin und im Calvinismus ist.
Das eben beschriebene verengte Calvinbild sollte nicht unwidersprochen weiterwirken. Der begründete Widerstand gegen das Calvin-Klischee ist ein Argument dafür, dass wir für einen Themenbereich „Calvin und die Natur“ im Rahmen von Calvin 09 plädieren. Gewiss, Calvin spricht eher von Schöpfung als von Natur – er ist Theologe – aber mit Rücksicht auf die Naturkundler und die Naturwissenschaften kann er durchaus den nüchtern beschreibenden Gebrauch des Begriffs Natur zulassen. Dem schließen wir uns an, auch deshalb weil eine nicht spezifisch kirchliche Redeweise einem weltoffenen theologischen Erbe durchaus dienlich sein kann.
Calvins Naturverhältnis ist ein – vor allem in der breiten Öffentlichkeit (1) - verkannter und unterschätzter Aspekt seiner Modernität. Es gehört jedoch zu seinem Profil und ist bezeichnend für seine Theologie und seine Persönlichkeit. Calvin vergleicht die Natur mit einem „schönen Theater“, das uns Gott selbst vor Augen führt. Er bringt damit seine starke visuelle und ästhetische Sensibilität zum Ausdruck (auch sie fehlt völlig im gängigen Calvin-Klischee).
Er sagt auch etwas aus über die Natur, die als Gegenstand gläubiger Betrachtung die Anbetung des Schöpfers hervorruft. Oder lenkt sie etwa doch den Blick auf die ihr selbst innewohnende Göttlichkeit ? Der Deismus ist nicht die einzige denkbare und reale Abdriftung von Calvins Theologie der Natur. Diese ist gerade dadurch besonders spannend, dass sie, historisch betrachtet, ein System kommunizierender Röhren mit ihren Vermummungen und Verkehrungen bildet.
Bedeutende Anreger und Vordenker des modernen Naturgefühls und der modernen Bewegung für Natur- und Umweltschutz sind weitaus stärker von Calvin und vom Calvinismus abhängig, als ihre Polemik vermuten lässt. Sowohl Rousseau und der Rousseauismus als auch der unitarische Transzendentalismus Emersons und Thoreaus stehen mit dem Calvinismus in einem komplexen Verhältnis einer sich gerade in der Abgrenzung bestätigenden Verbundenheit.
Geistige Erben, die so unterschiedlich, so kontrastreich sind, werfen zwangsläufig Fragen auf zu dem Autor, der sie inspiriert. Calvin hat womöglich noch nicht alles gesagt in Sachen theologischer Deutung der Natur und Mensch-Natur-Verhältnis: neuere Forschungen (z. B. die von Christian Link) legen dies in der Tat nahe.
Ziel II:
Die naturbezogenen Wissenschaften und Berufe für Calvin 09 interessieren und sie daran erinnern, wie sehr ihre eigenen Traditionen von Calvin und vom Calvinismus geprägt sind.
"Naturforschung und Naturschutz sind in den protestantischen Ländern entstanden" (Bernard Charbonneau). Ein zweites Argument, das hier vorgebracht werden soll, bezieht sich auf ein bestimmtes soziales und kulturelles Milieu, das unter Verweis auf seine eigenen tragenden Traditionen an den Gedenkveranstaltungen von Calvin 09 beteiligt zu werden verdient. Die Naturwissenschaften (hier insbesondere die Bio- und Geowissenschaften), sowie die dazugehörigen technischen Anwendungen, Kosmologie, Geographie und Ökologie, die „Naturberufe“ bis hin zu Landwirtschaft und Tourismus tragen geschichtliche Impulse in sich, die von Calvin und vom Calvinismus herkommen. „Der Aufschwung der modernen Naturwissenschaften in Genf" (der Wissenschaftshistoriker René Sigrist gab seiner allgemeinverständlichen französischsprachigen Darstellung diesen Titel) (2) weist eine augenfällige und wesensmäßige Verbindung mit dem Protestantismus der „Cité de Calvin“ auf. „Eine intensive, anhaltende und couragierte Neugierde" zeichnet "calvinistisch-protestantische" Wissenschaftler und Entdecker aus, an die einer ihrer Nachfolger in der Gegenwart, der Genfer Botaniker Hervé Burdet, erinnert.
Schon ein flüchtiger Überblick gibt wenigstens eine Vorstellung von der entscheidenden Bedeutung des Calvinismus für Bereiche wie etwa die Landwirtschaftskunde (Olivier de Serres, "Vater der französischen Agronomie"), die Gartengestaltung der Neuzeit (Bernard Palissy, Claude Mollet usw.), die Entdeckungsreisen (Jean de Léry), Zoologie und Botanik (Guillaume Rondelet, Charles de l’Ecluse usw.). Die bisher Genannten sind allesamt Vorläufer, sogar regelrechte Gründerfiguren in mehreren Fällen; der calvinistische Einfluss wirkt jedoch weit über die Renaissance hinaus. Ein Beispiel ist die kulturelle Aneignung des Hochgebirges im 18. Jahrhundert (Albrecht v. Haller, Horace-Bénédict de Saussure), eine mentalitätsgeschichtliche Umwälzung, die den Alpinismus begründet und mit ihm zum großen Teil den heutigen Tourismus und die inzwischen banalisierte Ästhetik der Steingärten. Im 19. Jahrhundert verkörpert das systematisch umfassende naturkundliche Werk von Louis Agassiz, gerade auch als Ausdruck der Atlantisierung des Calvinismus (Westeuropa und Vereinigte Staaten), in herausragender Weise alte Motive wie "das Buch der Natur" und den "Plan Gottes" (eine Deutung, die mit den derzeitigen Debatten über Intelligent Design und Kreationismus zu verknüpfen wäre, wo man sich – ob wirklich zu Recht? –auf Agassiz beruft). Diese große Tradition von naturkundlich tätigen Gelehrten und Reisenden setzt sich im 20. Jahrhundert fort, etwa mit Théodore Monod. Im übrigen ist weder das derzeitige „Umweltprofil“ des intellektuellen und internationalen Genf noch der überdurchschnittliche Anteil französischsprachiger Protestanten an Umweltberufen zufällig, wenn man die hier skizzierte Perspektive berücksichtigt.
Ziel III:
Den ritualisierten Vorwurf "Calvinismus = naturzerstörerischer Kapitalismus" überwinden und innerhalb der reformierten Kirchen eine "öko-christliche" Dynamik fördern.
Wir kommen damit zu einem dritten Argument : die ökologische Krise hat seit vierzig Jahren ein vertieftes Nachdenken über die Stellung des Menschen in der Natur ausgelöst. Die zunehmende Störung der ökologischen Gleichgewichte, der schwindelerregende Verlust an Biodiversität und die Beeinträchtigung des Grundrechts auf eine gesunde Umwelt für gegenwärtige und künftige Generationen bewirken, dass die "Natur" zu einer Hauptsorge der Menschen wird.
Man übersieht oft, dass die heftige Diskussion über die "christliche Anthropozentrik" und über die historische Schuld des Christentums an der Zerstörung der Umwelt in einem calvinistischen Kontext entstanden ist. Die Absicht war ausgesprochen konstruktiv im Sinne einer Reform des westlichen theologischen Denkens und der von ihm geprägten Mentalität. In seinem Artikel „The historical roots of our ecological crisis“ von 1967 setzt sich der Kulturgeschichtler, Mediävist und Spezialist für Technikgeschichte Lynn White Jr. für ein durch die Wiederaufnahme seines franziskanischen Erbes erneuertes Christentum ein. White, der mehr berühmt als wirklich bekannt ist, nannte sich „einen Mann der Kirche“; er war der Sohn eines presbyterianischen Pfarrers und auch persönlich in dieser sich von Calvin ableitenden Kirche aktiv.
Seit dieser Zeit und in einem weltweiten Rahmen sind die reformierten Kirchen (und der Reformierte Weltbund/RWB) engagiert dabei, die sustainable society (nachhaltige oder zukunftsfähige Gesellschaft) und die integrity of creation (Bewahrung der Schöpfung) voranzubringen. Sie tun es auch durch ihren Beitrag zur ökumenischen Bewegung und zum Wirken des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Texte über die Schöpfung, die von verschiedenen ökumenischen Versammlungen der 70er, 80er und 90er Jahre verabschiedet wurden, tragen eine mehr als merkliche reformierte Handschrift. So stellt man etwa fest, um nur ein einziges konkreteres Beispiel zu erwähnen, dass sich gerade die Reformierten früh und stark für den Klimaschutz eingesetzt haben (vgl. die zusammenfassende Darstellung von Lukas Vischer, Churches on Climate Change. TEAÖS Nr. 18, Bern, SEK, 1992).
In diesem ökumenischen Kontext sind es Katholiken, die mit Aufmerksamkeit und Sympathie etwas herausarbeiten, was man als "calvinischen Kryptofranziskanismus" bezeichnen könnte.
So verdankt Calvin – in seinem Vorwort zur Genfer Bibel - seinem neu belebten Umgang mit den Psalmen einen umso größeren Eifer, es dem Sonnengesang nachzutun und die Schöpfung zu feiern : „Es sangen die singenden Vöglein für Gott, es schrien die wilden Tiere nach ihm, es fürchteten ihn die Elemente und die Berge hallten von ihm, blinzelnd blickten Flüsse und Quellen ihn an und Kräuter und Blumen lachten ihm zu.“ Ein Gemälde, das eines großen Epikers würdig wäre - eine Art biblischer Ronsard! (3)
Bastaire, Jean et Hélène, Pour une écologie chrétienne, Paris, Cerf, 2004, S. 49 (4) (freie Übersetzung OS)
Es wäre sehr schade, wenn diejenigen, die sich auf Calvin berufen, es vernachlässigen würden, sein Gedenken auch an diesem wichtigen Punkt zu pflegen, für den, wie man sieht, auch katholische Freundinnen und Freunde durchaus sensibel sind.
(1) Die wissenschaftliche Theologie ist diesem Thema durchaus schon länger auf der Spur. Vgl. z.B. die Arbeit des Straßburger Kirchenhistorikers Richard Stauffer: Dieu, la création et la Providence dans les prédications de Calvin. Bern, Lang 1978.
(2) René Sigrist: L’essor des sciences modernes à Genève, Collection "La savoir suisse", Lausanne 2004.
(3) Pierre de Ronsard ist der bedeutendste epische Dichter der französischen Renaissance.
(4) Das Buch enthält ein ganzes Kapitel über Calvins Beitrag zur Schöpfungsspiritualität.
Dr. Otto Schäfer
Barbara Schenck
Kirchengemeinden, diakonische Einrichtungen und kirchliche Träger von sozialen Einrichtungen können hohe Zuschüsse des Bundes für klimaschützende Maßnahmen in Anspruch nehmen.