Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1902-1966)
Durch seine Familie kam Weber sowohl mit dem rheinischen Reformiertentum als auch mit Freien evangelischen Gemeinden in Kontakt. Von großer Bedeutung war die Prägung durch die Schülerbibelkreise, in denen er aktiv mitarbeitete. Von hier aus ist möglicherweise sein Entschluß zum Theologiestudium zu verstehen. Während der Studienjahre in Bonn und Tübingen (1921-25) orientierte sich W. hauptsächlich an Adolf Schlatter und seiner Theologie, aber auch von Karl Barth empfing er wichtige Impulse. Kirchliche Lebenswirklichkeit lernte er während seines Vikariats in Herchen an der Sieg (1925-27) kennen, wo er auch als Lehrer an der Realschule arbeitete.
Nach dem Zweiten Theologischen Examen wurde er vom Reformierten Bund als Dozent an die Theologische Schule Elberfeld berufen, zu deren Erfolg er, später als Direktor, maßgeblich beitrug (1928-33). In dieser Zeit befestigte er die lebenslange Freundschaft mit dem rheinischen Pfarrer Wilhelm August Langenohl. Durch seine Lehrtätigkeit und durch erste theologische Veröffentlichungen wurde das reformierte Profil von Webers Denken mehr und mehr wahrnehmbar.
Die politischen und kirchenpolitischen Veränderungen des Jahres 1933 stellten auch für W. einen folgenschweren Einschnitt dar. Im Mai wurde er sowohl bei der NSDAP wie auch bei den NS-treuen »Deutschen Christen« Mitglied; hierfür gab er vor allem eine volksmissionarische Motivation an. Reichsbischof Ludwig Müller berief Weber im September als reformierten Vertreter in das Geistliche Ministerium nach Berlin, wo dieser an der Umsetzung der deutsch-christlichen Gleichschaltungspolitik beteiligt war.
Gleichzeitig unternahm er mehrere Versuche, den innerkirchlichen Streit zu befrieden, stand aber dem eigentlichen Anliegen der entstehenden Bekennenden Kirche fern. Nach der Berliner Sportpalastkundgebung im November trat er aus der deutsch-christlichen Bewegung aus, weil er sich mit den dort deutlich gewordenen Zielen nicht mehr identifizieren konnte. Im Dezember trat er als Geistlicher Minister zurück, arbeitete aber als kommissarischer Vertreter des reformierten Bekenntnisses bis Ende 1934 weiter mit.
Zum Sommersemester 1934 wurde Weber zum Professor für Reformierte Theologie an der Universität Göttingen ernannt. Kurz danach veröffentlichte er mit der zweibändigen »Bibelkunde des Alten Testaments« sein erstes größeres Lehrbuch. Darin erkannte er das AT als Teil des christlichen Kanons an, benutzte aber vielfach antisemitische Stereotypen. Einerseits waren seine eigenen Überzeugungen hier wie in anderen Punkten durch die nationalsozialistische Ideologie bestimmt. Andererseits erkannten auch seine kirchenpolitischen Gegner durchaus Webers »Orthodoxie« in Lehre und Forschung an.
Vor allem zu Calvin, dessen Hauptwerk »Institutio Christianae Religionis« er übersetzte (1936-38), publizierte Weber In reduziertem Maße betätigt er sich weiter kirchenpolitisch, vor allem als theologischer Experte des Reformierten Arbeitsausschusses (RAA), der der Reformierten Landeskirche Hannovers nahestand. 1936 wurde er Obmann des Nationalsozialistischen Dozenten-Bundes (NSDB) in der Göttingen theologischen Fakultät. Erst im Sommer 1938 promovierte er, und zwar bei Emanuel Hirsch, dessen Nachfolger als Dekan er im folgenden Frühjahr wurde.
Während der Jahre 1940 bis 1945 war W. als assoziiertes Mitglied Vertreter der Reformierten im Geistlichen Vertrauensrat. In diesem Rahmen beteiligte er sich an einem Brief an Bischof Wurm, in dem der GVR die Ausstoßung »nichtarischer« Christen und Christinnen aus der Deutschen Evangelischen Kirche theologisch rechtfertigte - hier hatte Weber den Rahmen des christlichen Bekenntnisses verlassen. Im Deutschen Reformierten Kirchenausschuß, dem Nachfolgeorgan des RAA, setzte sich Weber für die Wahrung reformierter »Belange« ein, näherte sich daneben einigen Wuppertaler Mitgliedern der Bekennenden Kirche sowohl persönlich wie inhaltlich an. Als Dekan seiner Fakultät amtierte Weber bis zum Kriegsende, mit Ausnahme des Jahres 1943, als er zur Wehrmacht eingezogen wurde und in einem Kriegsgefangenenlager in Oberschlesien Dienst tat.
Der Übergang in die Nachkriegszeit verlief für Weber äußerlich weitgehend unproblematisch; sein Entnazifizierungsverfahren endete 1949 mit der Entlastung (Kategorie V). Dennoch empfand er sein Dasein als sehr von seinem Vorleben geprägt. Gegenüber Karl Barth und anderen (z. B. Martin Niemöller) bekannte Weber seine Schuld - und erfuhr dabei Vergebung. Trotz seines ehrlichen Schuldeingeständnisses war er aber nicht frei davon, in der Rückschau seine Vergangenheit an einigen Stellen apologetisch umzudeuten.
In den letzten Jahren bis zu seinem plötzlichen Tod 1966 verlief Webers Leben bei weitem nicht so bewegt wie zuvor. Theologisch zeigte er sich eindeutig von Karl Barth beeinflußt, über dessen »Kirchliche Dogmatik« er ab 1950 fortlaufend in präzisen Zusammenfassungen berichtete. Von Webers eigenen theologischen Werken sind besonders die zweibändigen »Grundlagen der Dogmatik« (1955 / 1962) zu nennen, in denen er neben einer breiten Aufnahme der Tradition und der Anlehnung an Barth vor allem durch die Verarbeitung personalistischer Denkstrukturen ein eigenes Profil zeigte. In seinen Seminaren an der Universität, aber auch in vielen Vorträgen und Aufsätzen behandelte er immer wieder die Anthropologie.
Wie ein roter Faden zieht sich die Beschäftigung mit Calvin und den reformierten Bekenntnisschriften durch seine Arbeit, weil es ihm ein wichtiges Anliegen war, die Relevanz reformatorischer Theologie in der Gegenwart aufzuzeigen. Aber auch zu neueren Themen wie der Frauenordination oder Wiederaufrüstung und Atombewaffnung nahm er (hier befürwortend - dort ablehnend) Stellung; in politischen Fragen äußerte er sich oftmals gemeinsam mit Ernst Wolf, der ihm unter den Göttinger Kollegen am nächsten stand. Dekan der theologischen Fakultät war Weber auch in den fünfziger Jahren (1950/51 sowie 1957/58), ferner amtierte er als Rektor der Universität Göttingen (1958/59) sowie als erster Gründungsrektor der Universität Bremen (1964-66).
Kirchliche Verantwortung übernahm er als Presbyter der reformierten Gemeinde (seit 1958), als Landessynodaler der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland (1963-65) sowie als Mitglied im Moderamen des Reformierten Bundes (1950-65). - Weber war oft in der ersten Reihe zu finden, beispielsweise es als deutsch-christlicher reformierter Geistlicher Minister 1933, als bedeutender deutscher Vertreter der Barthschen Theologie nach 1950, als Rektor der Göttinger und der Bremer Universität, sowie an anderen Orten. Durch seine Lehrtätigkeit und seine Veröffentlichungen prägte er über 32 Jahre lang nicht nur die studentische Art, reformierte Theologie zu treiben.
Er lebte in vier politischen Systemen und lehrte in allen theologischen Disziplinen (Altes Testament, Neues Testament, Kirchengeschichte, Systematische Theologie, Praktische Theologie). Seine rezeptive Begabung und seine pädagogischen Fähigkeiten, seine Auffassungsgabe und sein Darstellungsvermögen hoben ihn hervor, doch nicht immer dienten ihm seine Anlagen zum Guten.
Man kann Webers Leben auf mehreren Ebenen als ein »gebeugtes Leben« bezeichnen. Einmal in dem Sinne, daß er als gläubiger Christ sich dem Wort Gottes und den kirchlichen Bekenntnissen beugte. Zum zweiten war es ein »gebeugtes Leben«, weil W. sich vielfach den politischen Verhältnissen beugte und sich willig den Herrschenden unterordnete. Besonders im »Dritten Reich« beugte er sich den politischen Gegebenheiten derart, daß dies einer Beugung unter das Wort Gottes konträr gegenüberstand. Drittens: Als Weber sein Fehlverhalten erkannte und bereute, nahm er sein Leben wahr als von der Last der Vergangenheit »gebeugt«.
Quelle: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Dort ein Verzeichnis der Veröffentlichungen Otto Webers sowie von Büchern und Artikeln über ihn. Die Veröffentlichung auf reformiert-info erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Traugott Bautz.
Literatur:
- Vicco von Bülow, Otto Weber (1902-1966). Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker (AKZG.B 34), Göttingen 1999
Reformierte Beiträge zum Kirchenrecht
Gemeinschaftsbindung durch kirchliche Grundrechte
Dr. Arno Schilberg, leitender Jurist der Lippischen Landeskirche und Mitglied im Moderamen des Reformierten Bundes, fasst in einem Artikel der Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht „Reformierte Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht“ zusammen. Reformiert-info stellt in Kürze Auszüge aus dem Text Schilbergs dar.
I. Allgemeine Überlegungen zum evangelischen Kirchenrecht
Bekenntnisse und Ordnungen der Kirche
Zwischen juristischem Rechtspositivismus und theologischem Klerikalismus
Die Ordnung der Kirche als Antwort auf Gottes Handeln: "bekennendes Recht"
II. Kennzeichen reformierten Kirchenrechts
Presbyterial-synodale Kirchenverfassungen in Deutschland
Kirchliche Grundrechte stärken die „Gemeinschaftsbindung“
Die freie Pfarrwahl und das „Gemeindeprinzip“
Unterschiede zwischen lutherischem und reformiertem Verständnis von Kirchenrecht
Die Synode ist kein Kirchenparlament
I. Allgemeine Überlegungen zum evangelischen Kirchenrecht
Bekenntnisse und Ordnung der Kirche
Ende des 19. Jahrhunderts stellte der Kirchenrechtler Rudolph Sohm die These auf: „Das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch ... es ist undenkbar, daß das Reich Gottes menschliche (rechtliche) Verfassungsformen und der Leib Christi menschliche (rechtliche) Herrschaft an sich trage. Das Wesen des Rechts ist dem idealen Wesen der Kirche entgegengesetzt“ (zitiert nach Schilberg, 32).
Die neue Kirchenrechtslehre lehnt Sohms These ab und vertritt einen „ganzheitlichen Kirchenbegriff“: „Die Spaltung des Kirchenbegriffs in Rechtskirche und (rechtsfreie) Liebeskirche ist überwunden. Kirche hat einen Doppelcharakter als geistliche und gesellschaftliche Größe“ (Schilberg, 33). Beide Aspekte der Kirche gehören zusammen.
Kirchliches Recht unterscheidet sich vom staatlichen Recht darin, dass es sich als „eine von christlicher Vernunft geprägte Ordnung“ weiß, die „an göttliche Vorgaben gebunden ist und die Herrschaft Christi in seiner Kirche abbildet“.
Dem Grund der Kirche, Jesus Christus, und ihrem Auftrag folgen Ordnung und Recht in der Kirche. Kirchenrecht ist Konsequenz und Folge des Glaubens.
Besonders in Auseinandersetzung mit dem totalitären Anspruch des Nationalsozialismus wird betont, dass es in der Kirche keine Ordnung und kein Recht geben kann, das ihrem Wesen und Auftrag widerspricht, wie es in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 heißt: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.“
Zwischen juristischem Rechtspositivismus und theologischem Klerikalismus
Das Wort Gottes bietet jedoch nicht „das Rechtsbuch eines ein für allemal verbindlichen Rechtes“: „Wer Recht und Ordnung allein zu einer Funktion der Kirche machen will, ist in Gefahr, sie zu klerikalisieren oder sie womöglich zu einem Instrument der jeweiligen verfaßten Kirche und ihrer leitenden Organe zu machen. Es gibt nicht nur einen juristischen Teufel des Rechtspositivismus, sondern auch einen theologischen des Klerikalismus. Ordnung und Recht in der Kirche haben auch eine kritische Funktion und dürfen nicht einfach der jeweiligen theologischen Erkenntnis ausgeliefert werden.“
Anders formuliert: In der Kirche darf der Geist nicht rechtlos und das Recht nicht geistlos werden.
Die Ordnung der Kirche als Antwort auf Gottes Handeln: „bekennendes Recht“
Die Ordnung der Kirche gestaltet sich als Anwort auf das Handeln Gottes und Christi in Wort und Sakrament. Diese Antwort geschieht im Bekenntnis. Somit muss das Recht der Kirche „bekennendes Recht“ sein.
Diese Bekennen umfasst:
- die Gebundenheit an die „historischen“ Bekenntnisse
- die Notwendigkeit des aktualen Bekennens
- die Bindung an das Wort der Heiligen Schrift und an den Herrn Jesus Christus (das ist das Gemeinsame der verschiedenen Kirchen)
- Abgrenzung gegenüber Irrlehren und Abwehr von Ordnungen, die im Widerspruch zum Auftrag des Evangeliums stehen
Der Barmer Theologischen Erklärung folgend erfährt die Ordnung der Kirche „im aktualen Bekennen ihre entscheidende Zuspitzung“ (Schilberg, 36).
Das an das Bekenntnis gebundene Recht der Kirche muss seine „Mitbedingtheit“ durch die gesellschaftliche Umwelt akzeptieren, so Schilberg (a.a.O., 37). Das bedeutet, die Kirche muss die „Bedingungen und Notwendigkeiten der Veränderung“ ständig reflektieren.
II. Kennzeichen reformierten Kirchenrechts
Das Kirchenrecht ist vom Bekenntnis abgeleitet und muss so von dessen „Geist beseelt und bestimmt sein“. Umgekehrt muss jedoch nicht jeder kirchliche Rechtssatz ein Bekenntnissatz sein.
Die Vielfalt der reformierten Kirchenverfassungen spiegelt die Vielfalt reformierter Bekenntnisse wieder.
Unter den Kirchenverfassungen gibt es zum einen mehr kongregationalistische, zum anderen mehr presbyteriale Grundtypen, zum dritten Mischformen.
Der Kongregationalismus geht von der Selbstständigkeit der einzelnen Gemeinden aus. Eine Gemeinde hat keine Kirchenleitung über sich, Synoden dienen der gemeinsamen Beratung, können aber keine Kirchengesetze erlassen.
In der presbyterialen Verfassung hingegen entscheidet die Synode über Angelegenheiten, die gemeindeübergreifend von Bedeutung sind, erlässt Gesetze und leitet die Kirche. Dabei gehen Reformierte davon aus, dass auch Synoden irren können und die Schrift Richtschnur des Glaubens ist, nicht ein Synodenbeschluss.
In Deutschland hat sich die presbyterial-synodale Verfassung durchgesetzt. Die einzelnen Gemeinden leitet ein Presbyterium, ein „Ältestenrat“, in dem Laien sowie Pfarrerinnen und Pfarrern gemeinsam die Kirche leiten. Die Ämter in der Gemeinde sind grundsätzlich gleichgestellt. Auch andere kirchenleitende Funktionen, wie die Synoden, werden von Pfarrerinnen/Pfarrern und Presbytern übernommen.
Die wichtigen Entscheidungen in der Kirche werden nicht von einer einzelnen Amtsträgerin/einem einzelnen Amtsträger getroffen, sondern von einem Kollegium. Diese Ordnung soll davor schützen, eine „Herrschaft von Menschen über die Kirche zu bilden“, denn Jesus Christus herrscht als König: „Die Königsherrschaft Christi soll aufrechterhalten, Menschenherrschaft abgewehrt werden.“ (Schilberg, 39). Sitzungen und Versammlungen der Presbyterien und Synoden tragen einen „gottesdienstlichen Charakter“.
In der Tradition der Ämterlehre von Calvin und Johannes a Lasco wird zwischen vier Ämtern unterschieden: den Predigern, Ältesten, Diakonen und Lehrern. Heute betont das Moderamen des Reformierten Bundes, es sei angesichts der Vielfalt der Ämter im Neuen Testament nicht möglich, einen einzigen Ordnungstyp oder ein starres Ämterschema als allein biblisch begründet oder geboten auszugeben (vgl. Schilberg, 39).
Presbyterial-synodale Kirchenverfassungen in Deutschland
Vom (preußischen) Niederrhein aus gelangten presbyterial-synodale Einrichtungen nach Berlin, wo 1662 die erste presbyterial-synodale Kirchenordnung in Kraft trat.
Der Konvent von Wesel 1568 den ersten Versuch unternommen, die weit verstreuten reformierten Gemeinden, die sich aus Religionsflüchtlingen aus den Niederlanden zusammensetzten, zu verknüpfen. Die Verfassungsvorstellungen vom Weseler Konvent wirkten noch im 19. und 20. Jahrhundert in den synodalen Verfassungsaufbau der deutschen Landeskirchen.
Heute verknüpfen sich in den Verfassungen der Landeskirchen reformierte und lutherische Traditionslinien: neben den Synoden haben kollegiale Kirchenbehörden und personale Amtsträger – wie SuperintendentInnen, Bischöfe, Präsides – teil an der Leitungsverantwortung.
Die Offenheit des Weseler Modells für künftige Verfassungsänderungen ermöglichte es, die Forderung nach demokratischen Strukturen in Staat und Kirche aufzunehmen. Die staatliche Kirchenhoheit wurde eingegrenzt und eine Trennung von Kirche und Staat eingeleitet: „Kirchliche Strukturen wurden in der Folge dem zeitgenössischen Parlamentarismus nachgebildet. Die entstandenen synodal-konsistorialen Mischverfassungen waren immerhin so tragfähig, daß sie den tiefen Umbruch in der deutschen evangelischen Kirchenrechtsgeschichte 1918/1919 aushielten" (Schilberg, 43).
Kirchliche Grundrechte stärken die „Gemeinschaftsbindung“
Nach dem Zweiten Weltkrieg flossen die Erfahrungen des „Kirchenkampfes“ in die Kirchenverfassungen, die „Königsherrschaft Christi“ wird in unseren Tagen auch in den Grundordnungen klar formuliert.
Einige Beispiele: Die Grundordnung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz hält die „Gleichheit der kirchlichen Amtsträger“ fest; die Verfassungsgrundsätze der Evangelisch-reformierten Kirche und der Lippischen Landeskirche schützen die Menschenwürde auf Grund der Ebenbildlichkeit Gottes und sprechen ein Benachteiligungs- bzw. Diskriminierungsverbot wegen Herkunft oder Geschlecht aus.
Manche Verfassungen formulieren auch einen Gleichheitssatz, der die Herrschaft einer Gemeinde über eine andere, eines Gemeindegliedes über ein anderes, eines Amtes über ein anderes ausschließt. Ferner besteht ein Recht auf Kirchenmitgliedschaft ohne Gewissenszwang.
Während im staatlichen Bereich Grundrechte „in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“ sind (Schilberg, 45), haben Grundrechte in der Kirche eine andere Funktion. Die theologische Begründung von Menschenrechten ist kontrovers und Kirche ist auch keine „Zweckordnung zum friedlichen Ausgleich widerstreitender Interessen“ wie der Staat (Schilberg, 46).
Kirchliche Grundrechte müssen im Licht des Verkündigungsauftrags gesehen werden: „Kirche lebt in der Beziehung zu Gott, Christus wirkt in der Gemeinde und durch die Gemeinde, so daß sich der Leib nach dem Haupt ausrichtet“ (Schilberg, 46).
Der Heilige Geist weckt den Glauben und schafft Gemeinschaft. In seiner Kraft wird die Gemeinde ständig erneuert. Kirchliche Grundrechte dienen wesentlich der Stärkung der „Gemeinschaftsbindung“ (Rainer Mainusch).
Die freie Pfarrwahl und das „Gemeindeprinzip“
Besondere Bedeutung hat im reformierten Kirchenrecht die freie Pfarrwahl. Eine Pfarrerin/ein Pfarrer wird entweder durch den Kirchenvorstand oder durch die Gemeinde auf Vorschlag des Kirchenrates gewählt.
Als „reformiertes Kirchenrechtsprinzip“ versteht Martin Rauhaus in seiner Dissertation (2005) das sog. „Gemeindeprinzip“. Dieses leitet er aus den reformierten Bekenntnisschriften ab. Das sog. Gemeindeprinzip ist „die Rechtsposition der Gemeinden innerhalb einer Landeskriche, die sich dann insbesondere auch auf übergemeindliche Leitungsstrukturen auswirkt.
Dabei geht es nicht um die Frage von ‚oben‘ und ‚unten‘ in dem Sinne, daß die Kirchenleitung ‚oben‘ und die Gemeinden ‚unten‘ wären. Eine solche Sichtweise ist in der Ev. Kirche häufiger anzutreffen, entspricht aber weder CA 7 [Confessio Augustana] noch Frage 65 HK [Heidelberger Katechismus]. Wo immer die Botschaft des Evangeliums verkündigt wird, ist Kirche. Weitere heilsnotwendige kirchenverfassungsrechtliche Voraussetzungen gibt es nicht, insbesondere ist auch die ehrwürdige historische Organisationsform der Kirche nicht heilsnotwendig."
In diesem Sinne baut sich die Kirche nach evangelischem Verständnis – also sowohl nach lutherischem als auch nach reformiertem Verständnis – von den Gemeinden her auf.
Unterschiede zwischen lutherischem und reformiertem Verständnis von Kirchenrecht
Einen Unterschied zwischen lutherischem und reformiertem Verständnis von Kirchenrecht sieht Rauhaus darin, „daß nach luth. Auffassung Kirchenrecht und Kirchenverfassungsrecht überwiegend funktional verstanden würden, während die ref. Verfassungstradition der Annahme eines kirchenrechtlichen Gestaltungsprinzips offener gegenüber stehe“ (Schilberg, 47).
Einen weiteren Unterschied sieht Rauhaus darin, dass in reformierten Bekenntnisschriften „die Verkündigung des Evangeliums sowie die fortwährende Erziehung der Gläubigen und ihrer Bewährung betont würden“, während „das luth. Kirchenverständnis durch die Konzentration auf die Wortverkündigung und auf Predigtamt, das praktisch zum ‚organisierenden Prinzip‘ im luth. Kirchenvertsändnis werde“ geprägt sei (Schilberg, 47).
Von den reformierten Bekenntnisschriften leitet Rauhaus ein Prinzip zur Verfassung der Kirche und zur Aufteilung der örtlichen Leitungsbefugnisse ab:
„Die Ortsgemeinde ist danach originäre Trägerin der Leitungsbefugnisse für den örtlichen Bereich. Auf Grund des Gemeindeprinzips als spezifisch kirchliches Rechtsprinzip kommen überörtlichen kirchlichen Leitungsorganen prinzipiell keine originären Kompetenzen zur Leitung der Ortsgemeinde zu.“ (Schilberg, 47)
Laut Rauhaus gibt es keine „juristische Vorrangstellung“ der Landeskirche vor einer einzelnen Gemeinde. Die Konsequenz aus dieser Sicht auf Ortsgemeinde und Landeskirche ist eine dezentrale Kirchenorganisation. Die Zusammengehörigkeit der einzelnen Gemeinden bringen dann Synoden zum Ausdruck.
Die Synode ist kein Kirchenparlament
Die Vertreter von Kirchenkreisen, einzelnen Gemeinden oder kirchlichen Werken in der Synode, die Synodalen, sind nicht „bloße Repräsentanten partikularer Interessen“. Die Synode ist kein Kirchenparlament, sondern hat den eigenständigen Amtsauftrag, die Kirche zu leiten: „Während Parlamente in der mittelbaren Demokratie den Zweck haben, die Herrschaft des Volkes im Staat zu sichern, gründet sich die Kirche in dem Wort des dreieinigen Gottes. Die Synoden entscheiden über die Angelegenheiten, die ihnen die Kirchenverfassung zuweist oder die eine Mehrzahl von Gemeinden angehen. Ihre Aufsichtsbefugnisse beschränken sich auf Maßnahmen, die unerläßlich sind, um die rechte Verkündigung des Evangeliums sowie die bekenntnisbedingte Ordnung und die Selbstbestimmung der Kirche zu gewährleisten. Die Kirchengemeinden wirken an der Vorbereitung der synodalen Verhandlungen mit. Um der synodalen Gemeinschaft Willen wissen sie sich an die synodalen Entscheidungen gebunden.“ (Schilberg, 48).
Literatur
Arno Schilberg, Reformierte Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht. Zugleich ein Beitrag zur Stellung der Reformierten in der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Band 52 (2007), 30-50
Martin Rauhaus, Das kirchenrechtliche Gemeindeprinzip und seine Auswirkungen auf die kirchliche Verfassungsgestaltung. Dargestellt am Beispiel der Verfassung der evangelisch-reformierten Kirche (Schriften zum Staatskirchenrecht 23), Frankfurt/M. 2005
Barbara Schenck
Bereits im Mai 2007 wählte die Vollkonferenz der Union evangelischer Kirchen in der EKD in Hannover Kirchenrat Dr. Arno Schilberg zum neuen Vorsitzenden des Rechtsausschusses. Anfang 2008 wird Schilberg diesen Vorsitz antreten. Er ist Nachfolger für Oberkirchenrat Professor Jörg Winter, der in den Ruhestand geht.