Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1886-1968)
Karl Barth wurde am 10. Mai 1886 als Sohn des Theologieprofessors Fritz Barth (1856-1912) und seiner Frau Anna, geb. Sartorius (1863-1938) in Basel geboren. 1889 zog die Familie nach Bern um. Dort verbrachte er seine Jugendjahre, in die auch von 1901 bis 1902 der Konfirmandenunterricht bei Pfarrer Robert Aeschbacher und von 1896 bis 1904 der Besuch des Freien Gymnasiums fiel. Von 1904 bis 1908 studierte Barth evangelische Theologie in Bern, Berlin, Tübingen und Marburg, war 1908/09 Redaktionsgehilfe bei der in Marburger scheinenden „ChristlichenWelt“ und übernahm von 1909 bis 1911 eine Hilfspredigerstelle in Genf.
Von 1911 bis 1921 wirkte Barth dann als Pfarrer in der aargauischen Gemeinde Safenwil. Aus der 1913 mit seiner früheren Konfirmandin Nelly Hoffmann (1893-1976) geschlossenen Ehe gingen fünf Kinder hervor: Franziska (1914-1994), Markus (1915-1994), Christoph (1917-1986), Matthias (1921- 1941) und Hans Jakob (1925-1984). Erschüttert durch das Versagen der damals herrschenden „liberalenTheologie“ angesichts der Herausforderungen jener Zeit exponierte sich Barth einerseits politisch, indem er 1915 in die Sozialdemokratische Partei der Schweiz eintrat und die Arbeiter seiner Kirchengemeinde zu gewerkschaftlicher Solidarität anhielt. Andererseits ging es ihm um eine fundamentale Neuherausarbeitung des Wesens von Theologie und Kirche.
Als Frucht dieser Bemühungen erschien 1919 und, völlig überarbeitet, nochmals 1922 „Der Römerbrief“, ein Kommentar zu jener neutestamentlichen Schrift des Paulus, an der er die Bibel ganz neu zu lesen lernte. Die große Wirkung dieses Buches bis in unsere Gegenwart hinein ist unter anderem daran abzulesen, daß es 14 Auflagen erreicht hat. Mit dem Erscheinen des „Römerbriefes“ begann die akademische Lehrtätigkeit Karl Barths.Sie war durch eine Dynamik gekennzeichnet, die sowohl in der Person als auch in den überstürzenden Ereignissen unseres Jahrhunderts begründet war. Von 1921 bis 1925 ging Barth als Honorarprofessor für reformierte Theologie nach Göttingen.
In diese Zeit fiel auch der Beginn zahlreicher ihm zuteil werdender Ehrungen: Dr. theol. h.c. der Universität Münster 1922, Glasgow und Ehrenprofessor Sárospatak 1930, Utrecht 1936, St. Andrews 1937, Oxford 1938, Entzug 1939 und Neuverleihung 1946 des Dr. h.c. von Münster, Budapest 1954, Edingburgh 1956, Straßburg 1959, Chicago 1962, Sorbonne/Paris 1963.
Von 1922 bis 1933 war er als Mitbegründer und Mitarbeiter der Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“ zusammen mit Emil Brunner, Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann, die später ihre eigenen Wege gingen, und dem getreuen Freund Eduard Thurneysen der Hauptvertreter der um diese Zeitschrift sich versammelnden „Dialektischen Theologie“. Von 1925 bis 1930 war Barth Professor für Dogmatik und neutestamentliche Exegese in Münster, sodann von 1930 bis 1935 Professor für systematische Theologie in Bonn. Seit 1929 begleitete ihn seine Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum (1899-1975), die ihr Leben ganz in den Dienst der Arbeit an dieser Theologie stellte.
1931 trat er in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein. Barths Hauptwerk „Die Kirchliche Dogmatik“ nahm 1932 ihren Anfang mit dem Erscheinen des erstenTeilbandes (KD I/1), der zusammen mit dem zweiten (KD I/2) von1938 als „Die Lehre vom Wort Gottes“ die Prolegommen abildet. Dieses trotz seiner über 9000 Seiten unvollendet gebliebene Werk ging als die bedeutendste systematisch-theologische Leistung des 20. Jahrhunderts in die Geschichte ein. Auf der Arbeit an diesem Werk lag in den folgenden Jahrzehnten Barths Hauptaugenmerk, so daß zwei Bände Gotteslehre (KD II/1 1940, II/2 1942), vier Bände Schöpfungslehre (KD III/1 1945, III/2 1948, III/3 1950, III/4 1951) und vier Bände Versöhnungslehre (KD IV/1 1953, IV/2 1955, IV/3 1-2 1959, IV/4 (Fragment) 1967) erscheinen. Barths wache Zeitgenossenschaft spiegelt sich besonders deutlich in der für den Weg der Bekennenden Kirche in Deutschland grundlegenden Schrift „Theologische Existenz heute!“ von 1933 und in der hauptsächlich aus seiner Feder stammenden „Theologischen Erklärung“ von Barmen 1934 wider.
1935 wurde er aufgrund der Verweigerung des bedingungslosen Eides auf die Person des „Führers“ von der Bonner Universität entlassen. Von 1935 bis 1962 setzte Barth seine Lehrtätigkeit als Professor für systematische Theologie in Basel fort. Der von Anfang an maßgebend am Widerstand gegen den Nationalsozialismus Beteiligte blieb auch von Basel aus mit dieser Thematik beschäftigt - er beteiligte sich 1940 als Soldat im bewaffneten Hilfsdienst am nationalen Widerstand der Schweiz gegen Hitler - und mit der Bekennenden Kirche in Deutschland in enger Verbindung.
Auch in der Nachkriegszeit bewahrte sich Barth seine eigenständige Haltung. Dies zeigte sich sowohl in seiner deutlichen Absage an jeden Revanchismus gegenüber den Deutschen als auch an seiner Haltung im Ost-West-Konflikt: Hier ließ er sich weder zum Kreuzzug gegen den Kommunismus gewinnen noch vor den Karren einer antiamerikanisch gefärbten Weltfriedensbewegung spannen. Damit stieß er hier wie dort auf viel Unverständnis und Ablehnung. Barths Arbeit an der Erneuerung der Theologie und als Mahner der Kirche, ihrem Auftrag treu zu bleiben, wurde dadurch jedoch nicht geschmälert.
Eine gelegentliche Reise- und Vortragstätigkeit in Ost und West, oft verbunden mit der Entgegennahme von Auszeichnungen aller Art, war unter anderem ein Beweis dafür: So reiste er 1936 und 1948 nach Ungarn, folgte 1946 und 1947 dem Ruf auf eine Gastprofessur nach Bonn und besuchte 1962 die Vereinigten Staaten von Amerika; 1952 wurde ihm der Britische Verdienstorden „For Service in the Cause of Freedom“, 1963 der Sonning-Preis für besondere Verdienste um die europäische Kultur in Kopenhagen und 1968 der Sigmund-Freud-Preis der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt verliehen, nachdem er zuvor zum „Membre Accocie de l’Academie des Sciences Morales et Politiques del’Institut de France“ und zum Ehrensenator der Universität Bonn ernannt worden war.
Neben seiner akademischen Tätigkeit lag Barth das Predigen stets am Herzen. Seit 1954 tat er es fast ausschließlich in der Basler Strafanstalt. Im Jahr 1956 nahm er das Mozart-Jubiläum zum Anlaß, seine tiefe Liebe zu der Musik dieses Komponisten wiederholt auszusprechen. Mit der im Wintersemester1961/62 gehaltenen Vorlesung „Einführung in die evangelische Theologie“ verließ er das universitäre Amt. In den Folgejahren empfing er zahlreiche Gäste und Besuchergruppen aus der ganzen Welt in Basel, die ihn zu Gesprächen aufsuchten, und nahm von 1966 bis 1968 Seminarübungen an der Basler Theologischen Fakultät wieder auf.
Obwohl Barth seine reformierte Herkunft und Haltung zu keiner Zeit verleugnete, wurde die ökumenische Bedeutung seines Werkes erkannt. Dies ist unter anderem auch daran abzulesen, daß ihm an der ersten ökumenischen Weltkirchenkonferenz 1948 in Amsterdam das einleitende Hauptreferat „Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan“ übertragen wurde. Steigende Beachtung wurde ihm auch innerhalb der römisch-katholischen Kirche zuteil, deren sichtbaren Höhepunkt 1966 der Besuch des Vatikans und die Begegnung mit Papst Paul VI. in Rom darstellte.
Am 10. Dezember 1968 starb Karl Barth im Alter von 82 Jahren in seinem Haus in Basel. Die Gesellschaft möchte zu eigenem Nachdenken des von Barth Gedachten einladen und Mut machen, mit Barth neu zu den Texten der Bibel zu greifen, die unseren Alltag heilsam unterbrechen, indem sie uns alle an den einen Jesus Christus verweisen, der in Kreuz und Auferstehung uns Menschen näher kommt und näher ist, als jeder von uns sich selber nahe zu kommen und nahe zu sein vermag. Durch eine Mitgliedschaft in der Karl Barth-Gesellschaft unterstützen Sie deren Ziele. Als Mitglied unserer Gesellschaft erhalten Sie regelmäßig Berichte über unsere Tätigkeit und Einladungen zu unseren Veranstaltungen sowie Informationen über den jeweiligen Stand der Gesamtausgabe und die Subskriptionsbedingungen.
Weiterführende Informationen:
Auf den Spuren König Davids
Johannes Calvin als Ausleger der Psalmen
Ein Aspekt aus Johannes Calvins Wirken, der für den reformierten Protestantismus von elementarer Bedeutung ist, verdient Aufmerksamkeit: das Hören und Lesen der Bibel und ihre Auslegung in der Predigt. Von Anfang an versteht sich die Reformierte Kirche als Kirche des Wortes, insofern sie von seiner Kraft her lebt sowie ihr Reden und ihr Tun immer wieder an die ausgelegte biblische Botschaft als ihr Kriterium zurückbindet. Theologischer Unterricht heißt für Calvin Auslegung der Schrift.
1. Calvins Psalmenauslegung als authentischer Ausdruck seiner Theologie
Calvins Auslegung der Psalmen[1] erschien erstmals vor 450 Jahren, im Jahr 1557, und ist somit ein Spätwerk, dem die Reife der Auslegungskunst anzumerken ist. Seine Erklärungen sämtlicher 150 Psalmen, die den Umfang von mehr als 1300 enggedruckten Spalten haben, gehen auf seine Genfer Vorlesungen zurück. Calvin hält sich nach dem Vorbild Ulrich Zwinglis (1525) und Leo Juds (1532) möglichst eng an den hebräischen Urtext und übersetzt ihn wortgetreu – gelegentlich auch unter Verzicht auf sprachliche Eleganz oder poetische Schönheit – ins Lateinische. Er hat die so entstandene und manchmal schwer verständliche Übersetzung selbst „barbarisch“ genannt, doch er hat sie bewusst in Kauf genommen, weil es ihm um die „hebraica veritas“, also um den authentischen historischen Schriftsinn, ging.
Calvins Beschäftigung mit den Psalmen fällt in eine Zeit heftiger Auseinandersetzungen um den Weg der Genfer Kirche: Anfang der 50er Jahre findet die Kontroverse mit Hieronymus Bolsec um die Erwählung statt, außerdem der Streit mit Michael Servet über die Dreieinigkeit Gottes sowie Kämpfe in der Gemeinde um Kirchenzucht und Abendmahlsausschluss. Anfeindungen, Verleumdungen und Kämpfe, von denen die Psalmen sprechen, gewinnen für Calvin eine unerwartete Aktualität und lassen den Psalter für Calvin zu einem Trostbuch ersten Ranges werden. Immer wieder trägt Calvin direkt oder indirekt seine eigenen Kämpfe in die Auslegung ein, so etwa zu Psalm 41,10 („Auch mein Freund, dem ich vertraute, der mein Brot aß, tritt mich mit Füßen“), wo er erklärt: „Die Aufzählung seiner Leiden beschließt David mit der Klage darüber, dass er sogar von einem seiner besten Freunde Treulosigkeit erfahren musste. Vielleicht ist aber trotz der Einzahl an mehrere treulose Freunde zu denken.“ Auch setzt er das Leiden des Psalmisten in Beziehung zum Leiden Christi, um über die christliche Gemeinde zu sagen, sie habe ihre Feinde innerhalb und außerhalb der Gemeinde.
Wie hoch Calvin die Psalmen geschätzt hat, geht auch aus seiner Vorrede zur französischen Psalmenübersetzung von Louis Budé (1551) hervor. Das Buch der Psalmen sei ein Spiegel, der uns zeigt, was uns zum Gebet sowie zum Dank und Lobpreis Gottes führen soll, wenn er unser Gebet erhört. Die Beziehung von Gott und Mensch erkennt Calvin als das große Thema der Psalmen. Der Calvinforscher Herman Selderhuis nennt darum die Psalmen zu Recht das „Herz“ der calvinischen Theologie.[2] Wir begegnen Calvin als einen mit seiner ganzen Person engagierten Interpreten, der ein Gespräch mit dem Text einerseits und mit den Hörern bzw. Lesern andererseits führt.
Schon die Vorrede gibt einen Hinweis auf seine persönliche Präsenz in der Auslegung: „Die Leser müssen wohl erkennen, dass die Erfahrungen, die mich Gott … im Kampf hat erleiden lassen, mir mehr als gewöhnlich geholfen haben, nicht nur alle Lehrstücke … für den gegenwärtigen Gebrauch anwendbar zu machen, sondern auch die Absichten der Schriftsteller jedes Psalms besser zu erkennen.“ Calvin ist der festen Überzeugung, dass seine eigenen Erfahrungen die Arbeit am Text nicht behindern, sondern im Gegenteil ihn tiefer in den Sinn der Texte blicken lassen.
Er selbst erkennt sich in der Gestalt Davids wieder – also im Autor der Psalmen nach der Sicht der Alten Kirche und der Reformation. In seiner unerwarteten Berufung zum Reformator, in seiner oft angefochtenen Stellung in Genf, in seinen Kämpfen und Niederlagen bei der Arbeit an der Erneuerung der Kirche: Hier identifiziert sich Calvin mit David. Hinter diesen persönlichen Erfahrungen wird das Bild der alttestamentlichen Gemeinde sichtbar, in der Calvin das Vorbild der Kirche Jesu Christi erkennt. Deshalb spricht er von den „mannigfachen und glänzenden Reichtümern“, die „dieser Schatz [der Psalmen]“ enthält. Die Psalmen sollen letztlich „dem Aufbau der Kirche dienen“.
Seit 1549 predigt Calvin nahezu Sonntag für Sonntag über die Psalmen, bis er 1554 auch den letzten Psalm ausgelegt hat. Leider sind die Predigten im Unterschied zu den Vorlesungen zum großen Teil verloren gegangen. Ein weiteres Indiz für die einzigartige Bedeutung, die er den Psalmen beigemessen hat, liegt darin, dass er seiner Sonntagspredigt sonst durchweg neutestamentliche Perikopen zugrunde legt und nur bei den Psalmen eine Ausnahme macht. Parallel zu diesen Predigten macht er die Psalmen ab 1552 zum Thema seiner Vorlesungen an der Genfer Akademie. Calvin hat sich nahezu ein ganzes Jahrzehnt so intensiv mit den Psalmen beschäftigt, dass sie ihm in dieser Zeit zur wichtigsten biblischen Grundlage seiner Theologie wurden. Und es ist interessant zu beobachten, wie diese exegetische Arbeit auf die Endfassung des „Unterrichts in der christlichen Religion“ von 1559 eingewirkt hat: Manche Spur führt von den Psalmen zur Behandlung der Vorsehung, der Erwählung, den Abschnitten zum christlichen Leben und zum Gebet.
Calvin stellt seiner Psalmenauslegung eine bemerkenswerte Vorrede voran, die eine der wichtigsten Quellen für sein biographisches Selbstzeugnis ist. Das wiegt umso schwerer, da Calvin sonst relativ selten über sein eigenes Leben spricht. Berühmt ist die Vorrede in erster Linie wegen des Satzes von der „plötzlichen Hinwendung zur Gelehrsamkeit“ (subita conversio ad docilitatem). Man sollte darunter nicht ein ganz bestimmtes Datum der Bekehrung oder reformatorischen Wende erkennen, sondern den Ausdruck dafür, dass seine Hinwendung zur Reformation unerwartet geschah.
Dieses Unerwartete, dass der Jurist und Humanist zum Reformator wurde, sieht dieser unter dem Vorzeichen, dass Gott diesen Prozess in ihm ausgelöst hat: In der Sache unerwartet habe Gott ihn mit den Gaben ausgerüstet, die ihn zur Übernahme der Aufgabe in Genf befähigten. Von der Vorrede fällt ein Licht auf Calvins Selbstverständnis als Prediger des Evangeliums von der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes. Denn hier begegnet uns Calvin in seiner theologischen Leidenschaft, an der Seite von König David dem Reichtum der Gottesrede auf den Grund zu gehen. Auf intensives Drängen hin habe er sich zur Veröffentlichung dieses Werkes entschlossen – beflügelt durch die Annahme, dass sein Werk von erheblichem Nutzen für das Verständnis der Gebete und Lieder Israels sein werde, die er als „Kostbarkeiten“ und „Schatzhaus“ bezeichnet.
Zwei Argumentationslinien verdienen besondere Aufmerksamkeit. Erstens legt Calvin seiner Auslegung den Gedanken zu Grunde, dass die Psalmen eine Zergliederung aller Teile der Seele seien, so dass jeder in ihnen ein Spiegelbild seiner inneren Regungen zu finden vermag. Demnach führt der Heilige Geist in ihnen Schmerzen, Traurigkeit, Befürchtungen, Zweifel, Hoffnungen, Sorgen, Ängste und Verwirrungen lebendig vor Augen. Sie bieten den Menschen die Möglichkeit, sich selbst in ihrem zwischen Trost und Trostbedürftigkeit schwankenden Seelenzustand wiederzuerkennen.
Das gesamte Spektrum menschlicher Empfindungen einschließlich ihrer Gottesbeziehung begegnet in den Psalmen in der Weise, dass die Menschen es mit ihrem eigenen Leben in Beziehung setzen können. Ziel dieses Identifikationsprozesses ist die Aufrichtigkeit, in der die Menschen ihres eigenen Lebens samt ihrer Grenzen, Schwächen und Abgründe ansichtig werden. Aufklärung des Menschen über sich selbst statt naive Selbsttäuschung verspricht Calvin dem, der die Psalmen studiert. Darüber hinaus bewirkt ihre Lektüre die Zunahme an „himmlischer Weisheit“ und leitet zuverlässig zur Anrufung und zum Lob Gottes im Gebet an. Vermittlung von himmlischer Weisheit und Anleitung zum Gebet: darauf zielt die gesamte Auslegung der Psalmen.
Hinzu kommt eine zweite Argumentationslinie: Calvin entdeckt im Psalmisten David sein eigenes Leben und das der bedrängten Kirche wieder. Um David und seine gelegentlich klagende Rede zu Gott zu verstehen, macht sich Calvin über sein eigenes Leben Gedanken und nimmt identisches Erleben und ähnliches Erleiden wahr. Davids Erfahrungen gelten ihm als „Spiegel“ seines eigenen Erlebens, manchmal auch als Vorbild. Das Leben und Erleben Davids wird ihm zur Vorabbildung der eigenen Biographie. So geschehen Selbstvergewisserung und Selbstzeugnis, angestoßen und geweckt durch die Beschäftigung mit den Psalmen.
Es geht beim Verstehen der Psalmen um eine theologische Bemühung, die sich biographisch auswirkt. Von Gott redet Calvin gleichsam als dem Autor, der seine Biographie schreibt: „Wie [David] von den Schafhürden zur höchsten Würde erhoben worden ist, so hat Gott auch mich von den dunkelsten und geringsten Anfängen emporgehoben und hat mich gewürdigt, das hohe Amt eines Verkündigers und Dieners des Evangeliums zu bekleiden.“ Calvin betont in alldem die Souveränität und Subjektivität Gottes, der in Davids und in seiner eigenen Biographie von sich reden macht, indem er die Ausrichtung des Lebens bestimmt. Diesen Gedanken hat im 20. Jahrhundert Elie Wiesel einmal so umschrieben: „Gott will am Anfang und auch am entscheidenden Ende unserer Handlungen sein. Er ist Frage und Antwort zugleich.“[3]
Es ist spannend zu beobachten, wie sich in der Psalmenauslegung die Theologie biographisch konkretisiert und umgekehrt die Biographie theologisch reflektiert wird. Das Verständnis von Gott als dem Autor des eigenen Lebens erweist nach Calvins Selbstzeugnis seine besondere Kraft im Bestehen der Not. Auch in dieser Überzeugung weiß sich Calvin mit David verbunden, der weniger als machtvoller König denn als nachdenklicher Dichter gezeichnet wird. In einer Predigt über Psalm 27 sagt Calvin: „David war ganz Mensch, den gleichen Leidenschaften unterworfen, die uns dann und wann quälen und umtreiben. Doch um eine feste Führung zu haben, gibt er Acht auf das, was Gott ihn sehen lässt.“ Und am Ende der Psalmenvorrede spricht Calvin vom Trost, in David ein Vorbild zu haben, und schließt: „Die Leser werden (...) merken, dass ich, wenn ich die geheimen Gedanken Davids (...) entwickle, wie von persönlich Erlebtem rede.“ Calvin zeigt auf, wie die Gotteserkenntnis die Basis für die Deutung des eigenen Lebens bildet.
2. Das Reden von Gott in den Psalmen
2.1. Gott der König
Aus der Fülle der Gottesbezeichnungen ist die Bezeichnung „König“ besonders vielsagend, weil sie in Nachbarschaft zum reformierten Leitgedanken des „Allein Gott die Ehre“ (soli Deo gloria) steht. Auf den ersten Blick steht die Redeweise von Gott als König in Spannung zu unserer Wirklichkeit, der die Vorstellung des Königtums weithin abhanden gekommen ist. Wenn Calvin die Jahwe-Königs-Psalmen 47, 93 und 96-99 auslegt, kann man feststellen: Calvin versteht unter dem Königtum Gottes seine Weltregierung und zieht Konsequenzen für das Leben der Gläubigen. Wo von Gottes Königtum die Rede ist, geht es sogleich um die Stellung des Christen in der von Gott regierten Welt.
Die Hervorhebung Gottes als König mit Macht begründet die Zuversicht der Gemeinde, in den Bedrängnissen dieser Welt bei Gott Schutz zu finden. Würden die Christen Gottes universales Wirken in Abrede stellen, gerieten sie unweigerlich in Furcht und Zittern. Calvin wörtlich: „Darin also steht Gottes Ruhm, dass das Menschengeschlecht nach seinem Willen regiert wird.“ (Ps 93,1). Gottes Sorge um die Welt und den einzelnen Menschen vollzieht sich mit „wunderbarer Weisheit und Gerechtigkeit“ (Ps 93,1f.). Und seine ordnende Herrschaft überragt nicht nur alles Irdische, sondern auch alle himmlische Herrlichkeit und alles, was sonst göttlich genannt wird (Ps 95,3). Wie sich Gottes Herrschaft in kosmische Dimensionen hinein erstreckt, so dehnt sie sich auch auf der ganzen Erde bis in die äußersten Winkel aus (Ps 47,9).
Calvin legt den Akzent auf die ökumenische Sammlung der Gemeinde, um sie unter dem Wort und der Lehre Gottes zu einer Einheit zu formen. An anderer Stelle unterstreicht er die Lebensdienlichkeit von Gottes königlicher Herrschaft: Heil, völliges Glück und Gerechtigkeit leuchten in aller Welt, ausgehend von den Juden bis hin zu den Völkern, unter Gottes königlicher Herrschaft auf (Ps 97,1). Diese Macht Gottes schließt die Bestrafung des Unrechts und die Bewahrung der Juden als seinem auserwählten Volk vor den sie umgebenden Feinden ein – ein Satz, der angesichts der Vernichtungsdrohungen gegen Israel bis heute aktuell ist. Macht und Recht, so Calvin, sind in dieser königlichen Herrschaft miteinander verbunden mit dem Ziel, dass auch im Zusammenleben der Menschen Gerechtigkeit wachse (Ps 99,1.4).
Gottes Herrschaft bedeutet also bei Calvin Schutz und Ordnung der Welt, keineswegs aber Tyrannei (Ps 145,10; 99,4). Calvins Zentralerkenntnis der Souveränität Gottes, die in der Neuzeit gelegentlich als Triumph Gottes über den Menschen missverstanden wurde, steht nicht im Gegensatz zur menschlichen Freiheit. Schließlich geht es bei Calvin um die Souveränität des Gottes des Evangeliums und nicht um eine abstrakte Überlegenheit und Mächtigkeit. Calvins Theologie hat darum nicht einen, sondern zwei Brennpunkte: die Ehre Gottes im Sinne seiner gerechten Souveränität und das Heil des Menschen im Sinne seiner Befreiung durch Gottes Barmherzigkeit.
Beides bleibt aufeinander bezogen, wie Calvin im Genfer Katechismus (1545) erklärt: „Gott selbst hat in seiner unendlichen Güte alles so gestaltet, daß alles, was zu seiner Ehre dient, auch für uns heilvoll ist.“ (Frage 258). Mit der Souveränität Gottes ist also keine schrankenlose, absolute Herrschaft gemeint. Es geht vielmehr um seine ihm zukommende gerechte Macht, und zwar eine Macht, in der er daran gebunden ist, in allem, was er tut, Gott zu sein. Diese Macht steht nicht im Widerspruch zu dem, was er faktisch tut, und nicht im Widerspruch zu seinem guten Willen zu Gunsten des Menschen. In seiner Souveränität behauptet sich Gott gegen alle Egomanie des Menschen, der gefährdet ist, selbst nach göttlicher Verehrung zu streben.
Calvins Einsicht in Gottes Regieren bedeutet zugleich eine seelsorgerliche Vergewisserung der Menschen. Zwar sei es keineswegs so, dass das Erkennen und Anerkennen Gottes zwangsläufig ein geordnetes, ruhiges und friedliches Leben nach sich zieht: „Wohin ein Mensch auch blickt, er wird umringt von einem Labyrinth von Gefahren“ (Ps 30,6). Und an anderer Stelle: „Das Verlassen des Mutterschoßes ist der Eintritt in tausend Tode“ (Ps 71,5). Calvin muss einräumen, dass ein unendlicher Kontrast zwischen unserem verletzlichen kurzen Leben und Gottes ewigem Regieren besteht (Ps 102,13).
Seine Wirklichkeitserfahrung, die durch sein Leiden an der Genfer Gemeinde geprägt ist, lässt ihn von einem vollständigen Durcheinander (confusio) der Welt und der menschlichen Verhältnisse sprechen (Ps 25,13; 30,7). Wo Gott und Mensch einander begegnen, treffen Leben und Tod aufeinander, und zwar so, dass der Mensch mitten in der chaotischen Welt die Festigkeit des Reiches Gottes wahrnehmen (Ps 1,5) und innere Ruhe finden kann (Ps 37,29). Die Paradoxie lässt sich nur dadurch auflösen, dass das Fundament dieser inneren Ruhe außerhalb des Menschen in Gott liegt. Die Argumentation zielt auf das Einstimmen in den Weg, den Gott mit den Menschen beschreitet (Ps 25,13).
Es fällt auf, dass Calvin im Angesicht des wahrgenommenen irdischen Chaos – man denke nur an die Glaubensflüchtlinge und die Gemeinden unter dem Kreuz, die Calvins Leserschaft waren – die Spannung zwischen himmlischer Ordnung und irdischem Geschick nicht harmonisiert. Im Gegenteil: Das irdische Leben ist unter dem Zeichen des Kreuzes verborgen (vgl. Inst. II,16). Auch wenn der Christ unter der Herrschaft Gottes lebt, ist und bleibt er ein Fremder und Durchreisender auf Erden (Ps 37; 4,7).
2.2. Gott als der Schöpfer von Himmel, Erde und Mensch
Calvin legt in der Auslegung der Schöpfungspsalmen großen Wert darauf, dass Gott und seine Schöpfung auf Dauer zusammengehören. Mit großem Nachdruck unterstreicht er, dass Gott aktiv – also „niemals nichts tuend“ (non otiosus) – an der ganzen Wirklichkeit teilnimmt. Er wendet sich entschieden gegen den griechischen Philosophen Epikur (341-270 v. Chr.), dem zufolge die Erde zufällig aus der Verbindung von allerlei Atomen entstanden sei: „Die Welt ist nicht ewig ..., sondern die wunderbare Ordnung, die wir vor uns sehen, ist auf Gottes Befehl ... entstanden.“ (Ps. 148,7).
Er vertieft den Gedanken in die Richtung, dass die Welt durch das Wort geschaffen ist (Ps. 33,6). Schon in seinem schöpferischen Handeln ist Gott gnädig, um Land zum Leben entstehen zu lassen (Ps. 136,4). Gemäß dem Grundprinzip seiner Theologie bezweckt die Schöpfung ein Doppeltes: Gottes Ehre und das Heil des Menschen. Alles hat Gott geschaffen, damit die Menschen seinen Namen preisen (Ps. 113,1) und sich im Loben Gottes üben (Ps. 11,10): „Wir wissen, dass wir auf diese Erde niedergesetzt sind, um mit einem Herzen und aus einem Munde Gott zu loben, und dass dies das Ziel unseres Lebens ist.“ (Ps. 6,6).
Wie der Mensch um Gottes willen geschaffen ist, so kann Calvin nun auch umgekehrt erklären, dass die Welt um des Menschen willen gemacht ist (Ps. 147,7): „Gott hat die Menschen geschaffen und in diese Welt gesetzt, damit er für sie ein Vater sein kann.“ (Ps. 89,47). Das ist der Grund von Gottes Sorge für die Welt: dass wir seine väterliche Fürsorge bemerken und seine Wohltaten genießen (Ps. 115,16). Das ideale Leben kann sich Calvin nicht anders als ein Leben mit Gott vorstellen, und ein solches Leben trägt die Züge von Heiterkeit und Zufriedenheit (Ps. 16,9).
Dass Calvins Psalmauslegung eine entscheidende Station auf dem Weg zur Endfassung der Institutio war, zeigt sich auch an der Bezeichnung der Schöpfung als „Schauspiel der Ehre Gottes“ (theatrum gloriae Dei): Er nennt die Welt „das Schauspiel von Gottes Güte, Weisheit, Gerechtigkeit und Kraft“ (Ps. 125,13; vgl. Ps. 19,7). Und in der „Institutio“ erklärt er, Gott habe die gesamte Welt „zu dem Ziel erschaffen, dass sie Schauspiel seiner Herrlichkeit sein sollte“ (Institutio III,9,4). An anderer Stelle spricht er vom Weltall als dem Spiegel von Gottes Pracht (Ps. 19,1). Aber auch in seinen Geschöpfen offenbart Gott, wer er ist: „Ist nicht der Walfisch, der mit seinen Bewegungen nicht nur das ganze Meer, sondern auch das Herz eines Menschen in Aufruhr versetzt, ein schlagender Beweis der beeindruckenden Macht Gottes?“ (Ps. 104,25). Um Gott aber vollkommen zu verstehen, ist noch eine andere Stimme als die der Natur nötig: sein Wort, ohne das der Mensch für Gottes Wesen blind bleibt.
Aufs Engste gehören Schöpfung und Freiheit zusammen: Die Beziehung, die Gott in der Schöpfung zum Menschen eingeht, ist geprägt von seiner Freiheit. Gott erschafft die Welt nicht, weil er sie braucht, sondern weil er sie will. Wie schon in sich selbst, so bleibt Gott auch in der Zuwendung zu seinen Geschöpfen frei. Anders als bei Martin Luther, der von der vollkommenen Selbstbindung Gottes an das Geschöpfliche spricht (finitum capax infiniti), finden wir bei Calvin die Freiheit Gottes betont: Zu seiner Gottheit gehört es, sich den Bedingungen der Endlichkeit zu entziehen.
Der Mensch hingegen soll seine irdische Verfasstheit annehmen und akzeptieren: „Warum den Flug in die Luft nehmen und den festen Boden verlassen, der doch der Schauplatz der Güte Gottes ist? ... Es muss der Fuß fest auf der Erde stehen, ist sie doch die Stätte, auf der wir nach Gottes Anordnung eine Zeitlang weilen.“[4] Was auf Erden geschaffen ist, steht aber unter dem Vorzeichen des Unendlichen, von dem her alles Leben sein Recht bekommt. Dieses kritische Potential sorgte dafür, dass auf Seiten der Reformierten eine Abneigung dagegen entstand, natürliche Vorgänge in der Welt als Schöpfungsordnungen hochzustilisieren. Calvins Schöpfungsvorstellung hat damit eminente politisch-ethische Konsequenzen, da hier die Überzeugung wurzelt, dass sich das Vorletzte vor dem Letzten verantworten muss.
Es ist interessant zu sehen, an welcher Stelle Calvin Jesus Christus in die Auslegung der Schöpfungspsalmen einführt. Angesichts der Tatsache, dass der Mensch die gute Ordnung Gottes verwirrt hat, bedarf es ihrer Wiederherstellung. Diese geschieht bei der Wiederkunft Christi, der endzeitlich dafür sorgen wird, dass alles wieder vollkommen in Ordnung kommt (Ps. 72,2). Die Kirche als Leib Christi ist der Ort, an dem sich schon jetzt Spuren der wiederhergestellten Schöpfung abzeichnen – dies gesagt als Trost für die, die das Leben um sie herum als chaotisch erleben (Ps. 102,26). Nicht zuletzt darum liegt Calvin soviel daran, dass die Kirche ihre Ordnung hat und gleichsam in guter Ordnung ist. Oder mit der 3. Barmer These gesagt: Die Kirche bezeugt mit ihrer Botschaft und mit ihrer Ordnung, dass sie Kirche der begnadigten Sünder ist und von Christi Trost her lebt.
2.3. Gott als der gerechte Richter
In den Psalmen wird auch über Recht und Gerechtigkeit, Zorn und Strafe geredet. Immer wieder rufen die Psalmisten Gott auf, als Richter aufzutreten und Unrecht zu bestrafen. Wie geht Calvin mit diesen dunklen Seiten Gottes um? Calvin blendet diese Texte nicht aus, sondern zeichnet Gott so als Richter, dass er wohl Respekt einflößt, aber keine Angst einjagt.
Er versteht die Gerechtigkeit Gottes primär als Treue und Barmherzigkeit, mit der er die Gläubigen beschützt (Ps. 5,9; 7,18): Gottes Gerechtigkeit „ist sein fortwährender Schutz, mit dem er über die Seinen wacht, und die Güte, mit der er sie hegt“ (Ps. 40,11). Wie Luther geht es Calvin um die Gerechtigkeit, die Gott schenkt und – hier liegt der besondere Akzent Calvins – mit der er seine Bundestreue beweist. Die Gerechtigkeit Gottes vergilt nicht jedem nach dem, was ihm zukommt, „sondern ist ein Beweis seiner Güte, Gnade und Treue“ (Ps. 98,1). Allerdings fordert Gott von Seiten des Menschen eine entsprechende Gerechtigkeit und mahnt insbesondere die soziale Gerechtigkeit gegenüber Witwen, Waisen und Flüchtlingen an (Ps. 94,5). Gerade die Kinder, die besonders verletzlich und schutzbedürftig sind, bedürfen der Fürsorge gegen alles Böse, da Unrecht gegen Wehrlose Gottes Zorn weckt (Ps. 94,5).
Gottes Gerechtigkeit und der Anspruch an die Menschen, füreinander einzutreten, hat allerdings eine Kehrseite: seine strafende Gerechtigkeit gegenüber den Feinden Israel und der christlichen Gemeinde (Ps. 5,5). Dieses Urteil Gottes über die Feinde ist der Ausdruck seiner Liebe zu den Gläubigen (Ps. 74,3): „Kein Wunder also, wenn die Gottlosen aus ihrem erträumten Glück plötzlich herausgerissen werden!“ Denn: „Jedes Mal, wenn sie über ihr Leben Rechenschaft geben müssen, erkennen sie, wie vom Schlaf erwacht, dass es nur ein Traum gewesen ist, als sie sich – kaum recht bei Besinnung – für glücklich hielten.“ (Ps. 1,5).
Sollte es den Menschen allerdings gelingen, Gott vom Thron zu holen und ihm das Amt des Richters zu nehmen, dann hätten Gottlosigkeit und Unmenschlichkeit ihren Höhepunkt erreicht. Die Botschaft Calvins ist deutlich: Eine Gottesrede, in der Gott kein über alles regierender König und kein strafender Richter wäre, wäre keine Gottesrede und würde auch die Unmenschlichkeit befördern. Calvin will Gott keineswegs auf die Gestalt des Richters festlegen. Aber er will beim Sünder das Verlangen wecken, bei Gott Zuflucht zu suchen (Ps. 19,12) und ihn um Vergebung zu bitten (Ps. 25,18).
Gottes Strafe ist eine väterliche, und wenn er straft, lässt er darin immer seine Gnade und Liebe fühlen: „Er mäßigt die Strafe nicht nur, sondern indem er die Strafe mit Trost würzt, macht er sie selbst angenehm.“ (Ps. 39,11). Strafe gegenüber den Gläubigen ist Strafe auf Zeit und mit dem Ziel der Freude (Ps. 85,6). Im Hintergrund steht der calvinische Gedanke der göttlichen Pädagogik, durch die Gott die Menschen dazu anhält, ihr Leben zu bessern.
Schließlich wagt sich Calvin auch in die Region von Gottes Zorn vor. Die Rede von Gottes Zorn ist aber ein uneigentliches Reden, weil sein Zorn immer mit Gnade vermischt ist (Ps. 6,2). Selbst wenn er zürnt, hört er nicht auf, Vater zu sein (Ps. 74,9). Von Gott wird etwas ausgesagt, was faktisch nicht auf ihn zutrifft: Denn Zorn drückt emotionale Erregung aus – eine Eigenschaft, die eigentlich nicht zu Gott passt (Ps. 74,1). In seinem Zorn setzt sich Gott gleichsam eine Maske auf, damit wir seinen Widerwillen gegen die Sünde merken (Ps. 106,23).
2.4. Gott als der liebende Vater
Öfter als über Gottes Zorn spricht Calvin von Gott als liebendem Vater. Seine Gottesaussagen münden immer wieder in die Erklärung, dass die Vaterschaft Gottes das endgültige Ziel seines Handelns ist und sich das Leben im Glauben als eine Vater-Kind-Beziehung darstellt. Die Gewissheit des Glaubens wächst, wo Gott wie ein Vater für seine Kinder sorgt. Weniger die subjektive Frage, ob jemand ein Kind Gottes ist, interessiert ihn, sondern die grundsätzliche Frage, ob Gott angesichts des Schreckens und Elends in der Welt für den einzelnen Menschen Sorge trägt.
Glaubensgewissheit bedeutet, „geduldig auf Gnade zu warten, wenn sie auch verborgen ist, und sich an sein Wort zu hängen, wenn es auch so lange dauert, bevor etwas von diesem Wort zu bemerken ist“ (Ps. 52,11). Und an anderer Stelle heißt es: Der Glaube weiß den Himmel mit der Erde zu verbinden, so dass wir „in all den Schiffbrüchen, die uns treffen, den Anker unseres Glaubens und unserer Gebete in den Himmel auswerfen“ (Ps. 88,7).
Diese Gewissheit wandelt sich in Freude an Gott. Die Freude ist nach Calvin ein wesentlicher Bestandteil des Glaubens und geradezu gleichbedeutend mit ihm (Ps. 51,9): „Obwohl wir nicht immun gegen Schmerz sind, ist es doch nötig, dass die Freude des Glaubens darüber hinaussteigt, die uns zum Singen über die zukünftige Freude bringt.“ (Ps. 13,6). Solche Freude an Gott inmitten des Unglücks zu empfinden: das ist die Botschaft Calvins für die Asylsuchenden in Genf und für die Verfolgten in Frankreich. Wiederum wird das Bewusstsein Calvins dafür deutlich, dass die Psalmen Orte und Zeiten überwinden, um in der eigenen Gegenwart das Ihre zu sagen – theologisch und existenziell.
3. Die Psalmen und Jesus Christus
Calvin geht in seiner Psalmenauslegung von einer wichtigen Voraussetzung aus, nämlich der Einheit zwischen Altem und Neuem Testament. Die ganze Bibel bezeugt den einen Gnadenbund, so dass auch im Alten Testament und besonders in den Psalmen Gottes Gnade und Treue begegnen. Zugleich gibt es in der Bibel eine fortschreitende Bundesgeschichte, wobei der Unterschied zwischen der Zeit vor und nach dem Erscheinen Christi eher graduell ist: „Christus war zwar schon den Juden unter dem Gesetz bekannt; er tritt uns aber erst im Evangelium entgegen.“ (Institutio II,9,1).
Die Einheit des Gottesbundes wird so stark betont, dass das Erscheinen Christi lediglich die Erneuerung der Zeiten ist (Ps. 48,8). Für das Verständnis der Kirche entscheidend ist die Auskunft, dass das Erscheinen Christi keineswegs der Anfang der Kirche ist, sondern lediglich der Beginn einer neuen Epoche in der Kirche (Ps. 96,7). Calvin sieht die Kirche zutiefst im Bund Gottes mit Israel verwurzelt, und die Psalmen sind ihm ein elementares Zeugnis für diesen Sachverhalt.
Vom Grundsatz der Einheit des Gottesbundes aus kommt Calvin dann allerdings auch zur Unterscheidung des Reiches Davids und des Reiches Christi (Ps. 21,4), wobei gilt: „Das Königreich Christi beginnt bei dem Königreich Davids, denn bei David wird das Fundament für Christus gelegt.“ (Ps. 118,25). Calvin folgt der altkirchlichen Tradition, die Psalmen auf Jesus Christus zu beziehen. So finden wir immer wieder die Auskunft, dass Christus das Ziel der Verheißungen der Psalmen ist.
Calvins Bezugnahmen auf Christus sind vielfältig. Zunächst liegt ihm daran, dass auch die Gemeinde, die Christus als ihren Herrn bekennt, allen Anlass hat, auf die Worte der Psalmen zu hören: „Auch wir, deren Leben mit Christus in Gott verborgen ist, müssen unser ganzes Leben hindurch dieses alte Lied bedenken.“ (Ps. 118,17). Der Bezug der Psalmen auf Christus ist auch dadurch gegeben, dass David Christus bereits bildhaft in sich trug, da Israel unter ihm und seinen Nachfolgern bis zum Erscheinen Christi lebte.
Der irdische Thron Davids stellt sich für Calvin als Abbild der ewigen Herrschaft Christi dar. Was in den Psalmen über das Königreich David gesagt wird, „trifft eigentlich [erst] auf die Person Christi zu, und alles, was dunkel und schattenhaft in David angedeutet war, ist vollständig [erst] in Christus zu Tage getreten“ (Ps. 118,26). Calvin bedient sich der Typologie und verdichtet diese durch den Hinweis, dass Gottes Gnade im Alten Bund „das Vorspiel der Erlösung“ gewesen sei, „die man endlich von Christus erhoffen durfte“ (Ps. 118,27).
Die Grundlinien, die Calvin zieht, zeigen eine Theologie, die die besondere Stellung Israels wahrnimmt. Calvin wirbt geradezu dafür, Gottes Hinwendung zum Volk seines Bundes wahrzunehmen, und spricht von einer auf Gottes Gnade beruhenden „heiligen Verbindung“ mit Israel (Ps. 24,1). Auch die Verwendung des Begriffs „ecclesia“ für Israel ist ein deutliches Indiz für die Zusammengehörigkeit von Synagoge und Kirche. Er liest die Aussagen der Psalmen über Gottes Volk als Aussagen über die Kirche, ohne dabei den Bezug der Psalmen auf Israel aufzulösen. Jesus Christus ist nicht nur der Erlöser, sondern auch das Bindeglied zwischen Israel und der Kirche (Ps. 45,17).
Israeltheologisch bedeutsam ist schließlich Calvins Überzeugung, dass die Juden mit der Ankunft des Evangeliums keineswegs außerhalb des Gottesbundes gestellt sind, sondern umgekehrt Menschen aus den Völkern dem Bund hinzugefügt und aus Gottes Gnade in das Haus Abrahams aufgenommen wurden (Ps. 47,10; 110,2; 98,3). Die Juden sind die Quelle, aus der heraus Gott die ganze Erde befeuchtet (Ps. 97,8). Und selbst wenn die Juden Christus als Erlöser ablehnen, behält Israel seine herausragende Stellung (Ps. 47,10). Die Kirche ist folglich nicht an die Stelle Israels getreten, sondern die Gläubigen unter den Völkern werden in Gottes Bund mit Israel aufgenommen, um mit ihnen gemeinsam Gott zu loben (Ps. 150,5).
4. Verbindliches Reden von Gott
Die Einblicke in die Gottesrede, die Calvin in den Psalmen erkennt, können auch uns als Anleitung dienen, von Gott verbindlich zu reden. Calvins Ringen mit den Psalmen kann sich auch für unsere Gottesrede – insbesondere die der Predigt – als inspirierend auswirken. Denn die Schwierigkeiten, angemessen von Gott zu reden, sind offenkundig: Selbst da, wo sich die Predigt als Anwältin des biblischen Textes erweist, entsteht doch von Zeit zu Zeit die Verlegenheit, wie man dem Beziehungsreichtum Gottes auch sprachlich nachkommen kann statt monoton und steril die Vokabel Gott im Mund zu führen.
Inspiration tut Not: biblische Inspiration von der Buntheit der Gottesbezeichnungen, die nicht zuletzt in den Psalmen wahrzunehmen sind. Calvin hat sich der Vielfalt der Gottesbezeichnungen gestellt und diese nicht auf Gott als Menschenfreund begrenzt. So weiß er von der Freiheit Gottes und seiner Andersartigkeit. Er spricht vom Schöpfer des Kosmos und seiner Fürsorge für den Menschen. Er stellt sich dem richtenden und sein Recht ausübenden Gott. Er tastet sich in die Bereiche der Verborgenheit und des Zorns Gottes vor. Er weiß von ihm als dem Heiligen zu reden und sieht ihn zugleich in seiner Bundesgemeinschaft mit den Menschen. Es ist gerade die bunte Vielfalt in der Einheit Gottes, die Calvin in den Psalmen entdeckt und der er sich stellt. Er tritt dafür ein, dass das genaue Hören auf die biblischen Texte der menschlichen Gottesrede zur Sprache verhilft.
Wer unter Anleitung Calvins von Gott redet, bringt ihn zugleich als den zur Sprache, der im Bund mit den Menschen für diese heilsam gegenwärtig ist. Gott erweist sich als ein Gott in Beziehungen, so dass konsequent auch das Reden von Gott diesen nicht einfach als „höchstes Gut“ anspricht, sondern als den, der redet und handelt. Wer unter dieser Voraussetzung von Gott redet, bringt dann auch die eigene Person in ihren Regungen und Empfindungen ins Spiel und versteht sich selbst als von Gott angesprochenes Wesen. Eine solche Lesekunst, wie sie bei Calvin erkennbar ist, kann das eigene Leben in die Schrift gleichsam einzeichnen, um in der Gegenwart Israels von dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der zugleich der Vater Jesu Christi ist, zu reden.
Im Gespräch mit Calvins Psalmenauslegung wird auch uns die Aufgabe zugemutet, das Wagnis einzugehen, in den Grenzen menschlicher Worte von Gott zu reden. Nur unter der Voraussetzung, dass Gott selbst zum Menschen redet, kann eine solche Gottesrede gewagt werden. Wenn diese dem Schweigen und dem Geschwätz vorgezogen und gewagt wird, dann wird diese Gottesrede verbindlich sein. Auf diesen Weg weist uns auch die 6. Barmer These, die den Auftrag der Kirche anmahnt, „die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“.
Die verbindliche Rede von Gott muss seiner Personalität entsprechen. Statt einer göttlichen Kraft, wie es gelegentlich heißt, eignet Gott die Anrede als Person und mit Namen, was ein gemeinsames Anliegen der jüdischen und der christlichen Gottesrede ist. Der Aufruf „Allein Gott die Ehre“ entfaltet sein ideologiekritisches Potenzial bis heute: Wer Gott allein die Ehre gibt, wird alles Geschaffene achten, nicht aber verehren, und dem Menschen als Geschöpf Gottes seine Würde zusprechen. Wo Gott die Ehre zukommt, kann auch der Mensch menschlich leben.
5. Zu Gott reden im Gebet und Psalmengesang
Die Aufgabe der christlichen Gemeinde, verkündigend und bekennend von Gott zu reden, schließt die Aufgabe in sich, zu Gott zu reden. Darauf zielt ja überhaupt alle Theologie: auf die Anrufung Gottes im Gebet. Nach Calvin ist das Gebet der Hauptort des Gesprächs von Mensch und Gott. Ohne das Gebet würde der Glaube leblos werden (Ps 119,58). „Familiär“, so wie ein Kind mit seinen Eltern spricht, ist der Umgang der Bundespartner Mensch und Gott im Gebet (vgl. Ps 10,13). Es ist ein unvorstellbares Vorrecht, dass sich der Mensch frei an Gott wenden darf (Ps 65,2; 50,14; 145,18).
Nicht zu beten hieße, Gott die Ehre zu entziehen, weil man seine Hilfe ignorierte (Ps 17,1). So wird das Reden zu Gott im Gebet gleichsam zur Sehhilfe des Glaubens. Eng verwandt mit Calvins Hochschätzung des Gebetes sind seine Initiativen für die Gestaltung des reformierten Gottesdienstes, insbesondere bei der Einführung des Psalmengesangs. Wie schon beim Gebet sollte sich auch im Psalmengesang zeigen, dass das rechte Reden von Gott eine Anleitung zur Anrufung Gottes ist. In den Artikeln zur Ordnung der Kirche von 1537 schreibt Calvin: „Weiter ist es zum Aufbau der Kirche eine überaus nützliche Sache, einige Psalmen als öffentliche Gebete zu singen, und so Bitten an Gott zu richten, oder ihn singend zu loben.“[5]
Die Psalmen sollen nach der Genfer Gottesdienstordnung von 1542 als „ehrbare Lieder, welche die Liebe und Ehrfurcht gegenüber Gott lehren“ gesungen werden. Und: „Wir werden keine besseren und geeigneteren Lieder finden als die Psalmen Davids (...) Wenn wir sie singen, so sind wir sicher, dass Gott uns die Worte in den Mund legt, als ob er selbst in uns sänge, um seine Ehre zu erhöhen.“[6] Am Ende dieses liturgisch innovativen Weges steht der französische Hugenottenpsalter bzw. Genfer Psalter von 1562 mit der Bereimung und Vertonung sämtlicher 150 Psalmen. Diese Vertonung unterstreicht Calvins Leidenschaft dafür, dass zur Rede von Gott die Rede zu Gott hinzutritt.
[1] Die Auslegung trägt den lateinischen Titel „In librum Psalmorum, Iohannis Calvini Commentarius“ und findet sich in Calvini opera (CO), Bände 31 und 32. Eine lateinisch-deutsche Auswahledition der Psalmenauslegung wird im Rahmen der Calvin-Studienausgabe derzeit erarbeitet und erscheint 2008. Als ältere Übersetzung liegt vor: Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, Bd. 4/1 und 4/2: Die Psalmen, Neukirchen o.J. (1914).
[2] Herman J. Selderhuis, Gott in der Mitte. Calvins Theologie der Psalmen, Leipzig 2004, 19f. Auch im Folgenden verdankt der Autor dieser Monographie wichtige Einsichten in Calvins Psalmenauslegung.
[3] Elie Wiesel, Eines Menschen Gebet, in: ders., Macht Gebete aus meinen Geschichten, Freiburg i.Br. 1986, 39.
[4] Auslegung zu Gen 2,8, in: CO 23,37; vgl. J. Calvin, De aeterna praedestinatione dei: „theatrum gloriae dei, in: CO 8,294.
[5] Artikel zur Ordnung der Kirche (1537), in: Calvin-Studienausgabe, hg. v. E. Busch u.a., Bd. 1.1, Neukirchen-Vluyn 1994, 115.
[6] Genfer Gottesdienstordnung (1542), in: Calvin-Studienausgabe, hg. v. E. Busch u.a., Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 1997, 159.
Matthias Freudenberg
Matthias Freudenberg, Johannes Calvin als Ausleger der Psalmen. PDF