Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1519 - 1580)
Catherine, Baronin Willoughby de Eresbury (1519-1580) war in erster Ehe mit dem Herzog von Suffolk, Charles Brandon verheiratet. Unter Edward VI. wurde sie überzeugt evangelisch. Sie war befreundet mit Reformatoren wie Martin Bucer und Johannes a Lasco, während diese in England weilten. Als Maria Tudor den Thron nach Edward VI. bestieg und den Katholizismus in England wiedereinführte, flüchtete sie mit ihrem zweiten Gatten, Richard Bertie, und ihrer Tochter nach Wesel. Von dort ging die Reise nach Weinheim (Pfalz) und weiter nach Litauen, dank der Fürsprache Johannes a Lascos, der für sie beim polnischen König eintrat. Nach der Thronbesteigung Elizabeths I. kehrte sie mit ihrem Mann und zwei Kindern nach England zurück. Sie unterstützte bis zu ihrem Tod puritanische Pfarrer.
1. Eine katholische Kindheit und erste Ehe
2. Evangelische Witwe
3. Eine neue Familie. Flucht
4. Puritanerin in England
5. Würdigung
6. Die Herzogin von Suffolk in der Kunst
Anhang / Literatur
1. Eine katholische Kindheit und erste Ehe
Catherine Willoughby wurde 1519 geboren in einer Ehe zwischen einem adeligen Engländer, William Willoughby, Baron Willoughby de Eresby, und Maria de Salinas, einer spanischen Hofdame der Königin Katharina von Aragon. Die Eheschließung wurde wohlwollend von der königlichen Familie begleitet, Heinrich VIII. nannte eine seiner Kriegsschiffe „Mary Willoughby“ und er schenkte dem Ehepaar Ländereien. Die kleine Catherine verlor früh (1526) ihren Vater, und da sie eine sehr reiche Erbin war – in der Familie Willoughby besaßen auch Frauen das Erbrecht – wurde sie Mündel der Krone. Die Vormundschaft wurde dann wie üblich weiterverkauft, und so wurde die kleine Catherine Mündel des Charles Brandon, Herzog von Suffolk, der damals mit der Schwester des Königs, Mary Tudor, verheiratet war (Richardson). Wenn nicht in London, wohnte das Paar auf dem Gut Westhorpe in Suffolk, und Catherine wurde mit deren fast gleichaltrigen Töchtern Frances – die Mutter von Jane Grey – und Eleanor, und mit dem Sohn Henry, erzogen.
Am 24. Juni 1533 starb Mary Tudor nach längerer Krankheit. Catherine Willoughby war vermutlich bis dahin dem Sohn des Hauses als Braut angedacht, aber der Witwer Charles Brandon heiratete sie selbst im September 1533. Catherine war mit 14 Jahren gerade heiratsfähig, während ihr „Verlobter“ nur zehn Jahre alt war und damit noch zu jung für eine Eheschließung. Charles Brandon hatte gute Gründe sich die Hand Catherines zu sichern:
Charles Brandon hatte in der Ehe mit Mary Tudor Einnahmen von Ländereien sowohl in England als auch in Frankreich. Mary Tudor war in erster Ehe kurz - drei Monate lang - mit Ludwig XII. von Frankreich vermählt gewesen. Nach dessen Tod ging sie eine Liebesehe mit Charles Brandon ein. Deswegen hatte sie Lehen in Frankreich und England, die jedoch nach ihrem Tod an die Krone zurückfielen. Catherine Willoughby dagegen besaß Ländereien in Lincolnshire, welche es Charles Brandon möglich machten, sich dort einen großen zusammenhängenden Gutsbesitz zu beschaffen (Gunn).
1535 und 1537 brachte sie zwei Jungen zur Welt, Henry und Charles. Brandons Sohn Henry aus der ersten Ehe war 1534 gestorben, und es war üblich, nachgeborene Kinder nach ihren toten Geschwistern zu nennen.
Catherine war gut katholisch erzogen. Ihre Mutter war nach ihrer Ehe immer noch der Königin Catherine von Aragon eng verbunden. Als diese in Ungnade fiel, musste Charles Brandon die für ihn unangenehme Aufgabe erfüllen, ihr mitzuteilen, dass ihr Hofstaat gekürzt und ihre Bediensteten entlassen wurden. Sie wurde in die Provinz verbannt, und durfte nur mit Erlaubnis des Königs Besuch empfangen. Als es sich herumsprach, dass sie sehr krank sei, erkämpfte sich Maria de Salinas, Lady Willoughby, den Zutritt zu ihrem Schlafgemach. Wenige Tage später starb die Königin in ihren Armen. Sie wurde in der Kathedrale von Peterborough begraben, und im Trauerzug ging Catherine Brandon (Read 40f).
Als Magnat in Lincolnshire bekam Brandon 1536 die Aufgabe, die Aufstände in Lincolnshire in Verbindung mit dem nördlichen Aufstand gegen die Krone, die „Pilgrimage of Grace“ genannt, niederzuschlagen. Dies tat er schnell und effektiv und wurde dafür mit dem Schloss Tattershall und mehreren Kirchengütern belohnt. Die folgenden Jahre verbrachten er und seine Familie auf Schloss Tattershall. Brandon war 35 Jahre älter als seine Frau, aber die Ehe schien glücklich. 1539 war Catherine unter den vornehmen Frauen, die Anne von Kleve in England empfingen (Read 45f). Als Heinrich VIII. 1541 nach York reiste, um den schottischen König zu treffen, besuchte er die Brandons auf dem Gut Catherines, Grimsthorpe. Das war eine große Ehre, und Brandon ließ das Schloss umbauen, um den Majestät würdig empfangen zu können. Später war Catherine Brandon mit Catherine Parr befreundet. Sie war unter den sehr wenigen Hochzeitsgästen bei der Vermählung Catherine Parrs mit Heinrich VIII. im Jahr 1543.
Charles Brandon war zu Ruhm und Ehre gekommen, weil er ein Freund und Kumpel Heinrichs VIII. war. Wenn er religiöse Überzeugungen hatte, hielt er sie verborgen, und folgte den Anweisungen des Königs (Gunn). Unter seinen Kaplänen und Hauslehrern waren Männer, die zum neuen evangelischen Glauben neigten, aber es ist unsicher, ob Charles Brandon das überhaupt bemerkte. Es kann sein, dass Catherine durch sie die neue Lehre kennenlernte. Als ihr Mann noch lebte, verschaffte sie sich aus Übermut und vielleicht aus religiöser Überzeugung einen mächtigen Feind, Stephen Gardiner, Bischof von Winchester und Lordkanzler. Bei einem Abendessen schlug Brandon Damenwahl vor, und Catherine sagte laut, dass, wenn sie nicht ihren Gatten wählen dürfte, sie den Mann nähme, den sie am wenigsten möge, nämlich Gardiner. Er verzieh es ihr nie. Ähnliche Sticheleien betrieb sie wohl auch in jungen Jahren: sie nannte ihren Hund Gardiner und hatte einen Riesenspaß, wenn sie ihm „Sitz“ oder „Bei Fuß“ kommandierte. Der Hund wurde zudem im Bischofsornat gekleidet und in Prozession getragen. Viele Jahre später hat Gardiner an diese Beleidigungen erinnert. Es ist unsicher, wann genau sie stattgefunden haben, aber es scheinen doch die Späße einer sehr jungen Frau gewesen zu sein. Diese Anekdoten wären belanglos, hätte Gardiner sich nicht so gekränkt gefühlt.
2. Evangelische Witwe
Erst als sie sich nach dem Tod ihres Gatten 1545 mehr am Hofe aufhielt, als Hofdame für Catherine Parr, wurde ihre evangelische Gesinnung offenkundig. Sie gehörte zu dem evangelischen Kreis, den Catherine Parr um sich scharte. Zusammen hörten sie evangelische Predigten und studierten die Bibel in den Gemächern der Königin.
1546 wurde eine evangelische Adelsfrau namens Anne Askew der Ketzerei angeklagt. Sie hatte öffentlich in London gepredigt und dabei eine zwinglische Abendmahlslehre verbreitet. Askew wurde zweimal verhört und für schuldig befunden. Aber bevor sie den Tod auf dem Scheiterhaufen erleiden konnte, wurde sie noch einmal im Tower verhört und zwar von sehr hochrangigen katholischen Mitgliedern des „Privy Councils“, des Geheimrats des Königs. Sie wollten wissen, welche Kontakte Anne Askew zum Hofe hatte, und fragten besonders nach dem Kreis der Damen um die Königin. Viele von denen waren mit evangelisch gesinnten Höflingen verheiratet. Wäre es nur um sie gegangen, könnte man sich einen Angriff Gardiners gegen die evangelischen Ratsherren im Geheimrat vorstellen. Aber die Witwe Catherine Brandon wurde in der Befragung erwähnt. Es ist möglich, dass Gardiner sich den Frauenkreis vornahm, weil er damit die Königin der Ketzerei überführen wollte – Foxe berichtete von einem anderen Versuch Gardiners, die Königin zu beseitigen, der misslang. Aber selbst unter schlimmster Folter gab Anne Askew keine Namen preis. Wenige Tage danach wurde sie sitzend in einem Stuhl verbrannt, da sie nicht mehr stehen konnte (Foxe, 1563 edition, Book 3,732).
1547 starb Heinrich VIII. Er hinterließ eine Witwe und drei Kinder: Maria, Elizabeth und Edward. Edward war als männlicher Erbe der Thronfolger; er war von evangelischen Humanisten erzogen worden und von evangelischen Ratsherrn umgeben. Möglicherweise um das königliche Supremat über die Kirche zu erhalten, ließ Heinrich kurz vor seinem Tod Gardiner entmachten. Edward Seymour, sofort zum lord protector (Vormund des Königs) und Herzog von Somerset ernannt, übernahm die Regierung. Er war ein überzeugter Anhänger des neuen Glaubens. Thomas Cranmer, Erzbischof von Canterbury, schuf mit ihm die Agende: „Book of Common Prayer“ für den evangelischen Gottesdienst.
Catherine Brandon war jetzt in ihrem Element. Sie unterstützte einen evangelischen Drucker und Verleger namens John Day (King 1982, 2002). Eine Reihe von Büchern erschien nach 1548 mit ihrem Wappen, unter anderem ein Andachtsbuch Katherine Parrs. William Cecil, später erster Minister Elizabeths I., jetzt noch Sekretär des Herzogs von Somerset und Nachbar Catherine Brandons, schrieb dazu das Vorwort. Cecil blieb ihr Leben lang ein treuer Freund. Catherine Brandons Briefe an ihn sind eine vergnügliche Lektüre, ihre witzige, direkte Art kommt hier gut zum Vorschein. John Day druckte außerdem die Predigten Bischof Latimers mit einer Widmung an Catherine Brandon.
Bischof Hugh Latimer war eine Entdeckung Anna Boleyns. Schon 1530 predigte er die Fastenpredigten am Hofe. Er war Bischof von Worcester bis Heinrich VIII. gewisse katholische Dogmen für alle verbindlich machte, u. A. die Transsubstantiationslehre (Act of the Six Articles, 1539, Loades 2010, 21f). Latimer stellte seinen Bischofssitz dem König zu Verfügung. Eine Weile verbrachte er im Gefängnis und erst mit der Thronbesteigung Edwards VI. kehrte er zurück zum Hofe und predigte für den König und in London.
Latimer wurde der geistige Berater Catherine Brandons. Von 1552 bis 1554 wohnte er oft auf ihrem Gut Grimsthorpe und predigte dort. Eine Predigtreihe über die zehn Gebote entstand dort. Latimers Predigten kann man immer noch mit Vergnügen lesen. Er war wortgewandt, witzig, ein Meister der gut angebrachten Anekdote und von tiefer Frömmigkeit. In einer seiner Fastenpredigten von 1549 verglich er den Glauben mit einer wunderschönen Herzogin – zu der Zeit gab es in England zwei: die Herzogin von Suffolk und die von Somerset; Latimer nannte keinen Namen. Die Herzogin (der Glaube) hat einen „gentleman usher“, der ihr vorangeht und für sie den Weg bahnt – das ist die Sündenerkenntnis. Danach folgen die Hofdamen – das sind die guten Werke. Damit beschrieb er für alle anschaulich den Glauben als zentral, während Sündenerkenntnis und gute Werke vorher und nachher ihren Platz haben. Selbstverständlich wird angenommen, dass er von Catherine Brandon sprach (Harkrider, 70f).
Nach der Thronbesteigung Marias wurde Latimer mit den anderen evangelischen Bischöfen gefangengenommen. Catherine Brandon unterstützte ihn im Gefängnis mit Essen, Kleidung und Geld, das in den Tudor Gefängnissen benötigt wurde, um zu überleben (Read 96f). 1554 fing der Ketzerprozess gegen ihn an und im Oktober 1555 wurde er auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
In seinem Bestreben, die Englische Kirche zu reformieren, lud Erzbischof Cranmer Reformatoren nach England ein, und nach dem Augsburger Interim folgten viele seinem Ruf. Nach dem Tod Heinrichs 1547 konnte Cranmer mit der Kirchenreformation anfangen und die Edwardianische Kirche bekam eine deutliche reformierte Prägung. Viele englische Theologen waren in der Regierungszeit Heinrichs geflohen und oft reisten sie nach Zürich. Durch sie konnte Bullinger Einfluss auf die Ereignisse in England ausüben. Zürich und allmählich auch Genf wurden die Vorbilder der englischen Reformation. Die Altäre und Bilder verschwanden aus den Kirchen und stattdessen wurden Abendmahlstische aufgestellt. Ein Streit entbrannte über die Ornate der Pastoren.
Die Theologen, die als Glaubensflüchtlinge jetzt nach England kamen, waren berühmte Gelehrte ihres Faches und namhafte Reformatoren: Von Italien kamen Bernardino Ochino und Petrus Martyr Vermigli. Aus Straßburg folgten der Hebraist Paul Fagius und Martin Bucer. Cranmer ließ die beiden Italiener nach Oxford rufen, während Fagius und Bucer Professoren in Cambridge wurden (Brecht, 233-256).
Catherine Brandon ließ ihre beiden Söhne in Cambridge im St. John`s College einschreiben, mitsamt ihrem Tutor, Thomas Wilson (Harkrider, 81, Rex). Sie selbst kaufte sich ein Haus in der Nähe. Bald verband sie mit Bucer eine herzliche Freundschaft, er besuchte sie auf Grimsthorpe und sie schenkte ihm eine Kuh mit Kalb – letzteres wohl damit er Milch hatte. Ihr Verhältnis wurde so innig, dass Fagius durch den Sekretär Bucers in Straßburg, Conrad Hubert, Wibrandis Rosenblatt wissen ließ, dass sie schleunigst zu ihrem Gatten reisen sollte: „…sagend, Herrn Martinus Hausfrau, sie soll sich bald auf die Fahrt machen, oder er wird eine andere kriegen, die Herzogin von Suffolk will ihn haben, ist jetzt eine Wittfrau.“ (Bainton, 96)
Wibrandis Rosenblatt kam nach Cambridge mit der Familie, und als sie wieder wegfuhr, blieb Agnes Capito und kümmerte sich um Bucer. Ihm ging es jedoch gesundheitlich nicht gut. Als Wibrandis Rosenblatt 1550 nach England zurückkam, musste sie ihn im Winter pflegen. Catherine Brandon half ihr, aber trotz ihrer gemeinsamen Anstrengungen starb Bucer im Februar 1551. Catherine Brandon wurde von Edward VI. als Testamentsvollstreckerin an Rosenblatts Seite gestellt. Wibrandis Rosenblatt war jedoch mit den Engländern nicht zufrieden: „Ouch wussen, das mir der Bischof nit mer denn XXXX Lb. fur die Bucher geben hat. Er sagt die Frow (Herzogin Katharina von Suffolk) hab die besten; so hab der Kunig das geschrieben Ding; sin Theil sy zu thur. Ich hab recht genumen, was man mir geben hat; ich kann mich wider sy nit setzen.“ (Zimmerli-Witschi, 120)
Nach dem Tod Bucers wurde für ihn eine Gedenkschrift der Universitätsangehörigen in Cambridge herausgegeben. Darin waren beide Söhne von Catherine Brandon mit Beiträgen vertreten (Collinson 1983, 34). Diesen vielversprechenden jungen Männer war leider kein langes Leben vergönnt. Im Sommer 1551 brach der „Schweiß“ in Cambridge aus. Der sogenannte „Englische Schweiß“ war eine Infektionskrankheit, die innerhalb von kürzester Zeit ihre Opfer wegraffte. Die Brüder wurden sofort aus Cambridge weggebracht, starben aber innerhalb von Stunden, bevor es ihrer Mutter möglich war, zu ihnen zu kommen. Catherine Brandon war untröstlich. Es dauerte lange, bevor sie wieder anfangen konnte, Freude am Leben zu haben (Read).
Nicht nur Gelehrte flüchteten nach England, auch Handwerker und Handelsleute suchten einen Ort, wo sie ihre evangelische Überzeugung ausleben konnten. Für Cranmer war es eine Möglichkeit, reformierte Gemeinden zu gründen. In Canterbury entstand eine Französische Gemeinde (Pettegree 1986, 52f), wie in Glastonbury, wo viele wallonische Weber arbeiteten. In London entstanden gleich zwei Ausländergemeinden: eine französische und eine flämische, mit Johannes a Lasco als deren Superintendent. Zusammen mit den humanistischen Lehrern des Königs unterstützte Catherine Brandon die Gründung der Ausländergemeinden mit einer Bittschrift an den König und mit einer Bürgschaft (Pettegree 1986, 31). Für a Lasco waren es gute Jahren in London, mit Unterstützung vom König und von Cranmer und mit weitreichenden Freiheiten, ein reformiertes Gemeindeleben zu gestalten (Rodgers, Jürgens). Er zeigte sich später Catherine Brandon gegenüber dankbar.
3. Eine neue Familie. Flucht
Unter Edward VI. konnte Catherine Brandon ihre evangelische Gesinnung ausleben. Ihr alter Intimfeind Stephen Gardiner verbrachte diese Jahre im Tower of London und als sie ihn im Vorbeigehen sah, bemerkte sie mit lauter Stimme: „Es ist lustig für die Lämmer, wenn der Wolf weggesperrt ist.“ (Foxe, 1583 edition, Book 12, 2102-2105)
Die kirchlichen Reformen galten vor allem dem Gottesdienst und den Kirchengebäuden (MacCulloch 1999). Die alte katholische Ausstattung wurde aus den Kirchen verbannt, versteckt, verkauft oder verbrannt. Catherine Brandon, die in Lincolnshire Patronatsrechte für viele Kirchen besaß, hatte früher oft Pfründe an von ihren Klöstern vertriebene Mönche vergeben. Jetzt gab sie die Pfründe an verheiratete Männer mit Universitätsausbildung und gründete Schulen (Harkrider 84-94).
Auf Grimsthorpe hatte sie immer Kaplane mit evangelischer Gesinnung – und Hugh Latimer predigte dort als Dauergast.
Ein paar Jahre nach dem Tod ihrer Söhne heiratete sie einen Mann, den sie gut kannte und der ihre Religion teilte: Richard Bertie (1517-1582), ihr „gentleman usher“. Er war vom Adel, aber der niedere Adel tat beim Hochadel Dienst, sowie der Hochadel dem Königshaus diente. Sie heiratete einen Mann, der gebildet war, mehrere Sprachen beherrschte und ihr im Alltag treu zur Seite stand. Der „gentleman usher“ war eine Art Zeremonienmeister und er regelte vermutlich ihren Haushalt. Dennoch heiratete sie unter ihrem Stand. Anscheinend fühlte sie sich nach dem Tod ihrer Söhne frei, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Es war wohl Hugh Latimer, der sie 1553 auf Grimsthorpe traute (Read 92). Während Catherine Bertie im Jahr danach schwanger wurde und 1554 eine Tochter, Susan, gebar, starb Edward im Sommer 1553. Seine Schwester Maria bestieg den Thron. Sie war immer katholisch gewesen, hatte in den vergangenen Jahren deswegen Streit mit ihrem Bruder gehabt und war überzeugt, dass sie das Werkzeug Gottes war, um England wieder zum katholischen Glauben zurückzuführen. Zuerst wurde die Messe wiedereingeführt. Die Gemeinden versuchten, ihre Kirchen so auszustatten, dass sämtliche Riten durchgeführt werden konnten – die Gemeinden, die vorher ihr Inventar versteckt hatten, konnten sich glücklich preisen (Loades 2010).
Sehr viele Engländer waren ohne Zweifel froh, zu den alten Sitten und Ritualen zurückzukehren. Andere hatten sich an die Gottesdienste in der Landessprache gewöhnt, lasen ihre Bibel auf Englisch und sahen die Messe als Götzendienst an. Diese Leute – vor allem in London – trafen sich heimlich zu Gottesdienst und Gebet.
Die ersten, die den Ernst der Lage spürten, waren die Ausländergemeinden. September 1553 bestieg a Lasco mit einem Teil seiner Gemeinde drei Schiffe und fuhr nach Dänemark. Im lutherschen Land war die Gruppe als reformierte nicht willkommen und sie setzte ihre Reise nach Emden und schließlich nach Frankfurt fort. Gardiner, der Lordkanzler Marias geworden war, entwickelte eine Technik, um Ketzer loszuwerden: er lud sie zum Gespräch ein! Meistens wurden diese ob dieser Einladung so erschrocken, dass sie sofort England verließen (Pettegree 1986, 115f).
Ostern 1554 erging dann die Einladung Gardiners an Richard Bertie. Gardiner listete alle die Kränkungen, die Catherine Bertie ihm zugefügt hatte, auf und fragte, wie Catherine es mit der Messe hielt. Die Königin wollte Philipp von Spanien heiraten und bei der Gelegenheit könnte Catherine Bertie – immer noch Herzogin von Suffolk – Anstoß erwecken: sie hatte immer noch nicht die Messe auf Grimsthorpe eingeführt und konnte bei den Hochzeitsfeierlichkeiten nicht teilnehmen, obwohl ihre Mutter dem spanischen Hochadel angehört hatte. Als ihr Gatte war Bertie für sie juristisch und religiös verantwortlich. Er verteidigte ihre Gewissensfreiheit und schlug vor, er solle Geld, das der Kaiser Charles Brandon schuldete, bei Karl V. eintreiben. Dafür erhielt er eine Ausreisegenehmigung und versuchte, Asyl für Catherine und Susan, die im selben Jahr geboren worden war, zu finden. Im Herbst 1554 wurden die mittelalterlichen Ketzergesetze wieder in England eingeführt mit Wirkung vom 20. Januar 1555. Anfang Januar 1555 verließ Catherine Bertie in der Nacht ihr Haus in London mit dem Kind und ein paar Dienstboten (Foxe, Hrsg. Cattley 1839, Bd.8, 569-572).
Maria Tudor hatte vorerst die wichtigsten Geistlichen im Visier: die Bischöfe Cranmer, Ridley und Latimer waren schon in Gefängnis. Am 28. Januar wurde Anklage gegen andere leitende Evangelische erhoben. Alle starben den Märtyrertod – was seitens der Regierung vielleicht nicht vorgesehen oder gar erhofft war (Loades 2010, 81-96). Viele Mitglieder der Oberklasse, vor allem die Schwester der Königin, Prinzessin Elizabeth (http://www.frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=115) und William Cecil, der Freund Catherine Berties, blieben in England und gingen zur Messe. Andere ergriffen die Flucht (Garrett).
Catherine Bertie hatte eine abenteuerliche Reise in die Niederlande vor sich. Den Ärmelkanal im Winter zu überqueren erwies sich als schwierig. Nach Wochen erreichte sie endlich Land, wurde von Richard Bertie (Garrett, 87-89) empfangen und nach Xanten gebracht. Sie wussten, dass sich die wallonische Flüchtlingsgemeinde aus London mit ihrem Pfarrer François Perussel im benachbarten Wesel aufhielt, und wollten auch dorthin. Xanten war katholisch und dort konnten sie nicht bleiben. Während sie noch in Xanten ihren Asylbescheid abwarteten, erfuhren sie, dass sie erkannt worden seien, und beschlossen, zu Fuß nach Wesel zu laufen ohne Bedienstete und Gepäck, nur sie drei, als ob sie einen Spaziergang machten. Es war kalt und frostig und während sie unterwegs waren, regnete es auf den gefrorenen Boden. Völlig durchnässt kamen sie in Wesel an. Keine Herberge wollte sie hereinlassen und am Ende suchten sie Schutz unter dem Vordach der Kirche (St. Willibrord?). Richard Bertie suchte nach Feuerholz und fand mit Hilfe einiger Schuljungen, die mit ihm Latein sprechen konnten, das Haus, wo Pastor Perussel gerade zu Abend aß. Groß war die Freude des Wiedersehens. Die Berties erhielten trockene Kleider und am nächsten Tag wurde ihnen vom Stadtrat Asyl gewährt (Foxe 1839, Bd. 8, 572-574).
Wesel hatte schon 1545 eine Gruppe wallonischer Weber aus Tournai aufgenommen. Man konnte die Handwerker gut gebrauchen und versicherte sich nur, dass die keine Wiedertäufer waren. Sie konnten Predigtgottesdienste in eigener Sprache halten, aber Sakramentsverwaltung wurde ihnen nicht zugestanden. Sie mussten mit der lutherschen Stadtgemeinde die Sakramente empfangen. Sie suchten Rat bei Calvin und er ermahnte sie zur Besonnenheit (CO 20, 419ff, Nr.4169; Weseler Konvent, 28ff). Als Perussel im Herbst 1553 mit den Wallonen aus England ankam, wiederholten sich die Probleme. Die Flüchtlinge hatten in England weitgehende Selbständigkeit genossen. Wieder schrieb Calvin an sie und mahnte zur Geduld (13.3.1554, CO 15, 78ff; a.a.O. 31f). Perussel schrieb allerdings auch an a Lasco und wurde von ihm unterstützt, Selbständigkeit für seine Gemeinde einzufordern. Das ging natürlich nicht gut. Melanchthon wurde um ein Gutachten gebeten, aber die Stadt entschied für sich, dass die Flüchtlinge weiterziehen mussten. Im März 1557 verließen die Engländer Wesel, nachdem sie sich beim Rat für den Aufenthalt bedankt hatten. Sie zogen nach Bern, wo sie sich im Aarau (Garrett, 353-356) niederlassen durften. Perussel zog mit einer Gruppe nach Frankfurt (Denis, 161-222).
Catherine und Richard Bertie waren schon längst nicht mehr in Wesel. Am 12. Oktober 1555 hatte Catherine einen Sohn, Peregrine (Lat. Peregrinus = Fremdling) geboren und ihn am 14. Oktober in St. Willibrord taufen lassen. Sehr viele Engländer hatten im Laufe des Jahres sich ihnen angeschlossen und durften englische Gottesdienste (ohne Sakramentsfeier) abhalten. Zwei frühere Bischöfe waren unter ihnen: Miles Coverdale, der Tyndale`s Bibelübersetzung vervollständigt hatte (Garrett, 132-134), und William Barlow (Garrett, 80). Im Herbst 1555 setzte sich Miles Coverdale beim Pfalzgrafen und Herzog Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken für die Berties ein. Coverdale hatte durch die Empfehlung von Conrad Hubert, Bucers Sekretär, eine Stelle als Schulmeister in Bad Bergzabern inne. 1555 kehrte er dorthin als Kaplan zurück. Dadurch war er dem Pfalzgrafen bekannt. Dessen Vetter, der Kurfürst Ottheinrich von der Pfalz, bot der Herzogin sein Schloss Weinheim als Wohnung an (Harkrider).
Dort kam im Juli 1556 ein Kurier von Maria Tudor an. Im Herbst 1555 hatte das Parlament in London einen Gesetzesvorschlag Marias zu Konfiskation des Besitzes der Glaubensflüchtlinge abgeschmettert. Nach geltendem Recht wurde nur der Besitz von verurteilten Schwerstverbrechern und Aufrührern konfisziert. Das Parlament lehnte es ab, diese Gesetzgebung auf die Glaubensflüchtlinge zu erweitern (Loades 2007, 45f). Maria hatte jedoch im folgenden Jahr Briefe an wohlhabende Glaubensflüchtlingen geschrieben, und ein gewisser John Brett als Kurier sollte sie überreichen. In seinem Report über seine Reise vermied Brett es sorgfältig, sich zum Inhalt der Briefe zu äußern. Ihrerseits wollten die Adressaten sie gar nicht entgegennehmen. In Frankfurt klagten sie über Brett beim Bürgermeister, in Weinheim vertrieben ihn die Dienstboten der Herzogin mit Steinen. Sie verklagte ihn beim Kurfürsten und er verbrachte einiger Zeit in Heidelberg im Gefängnis. In Straßburg schließlich wurde er von einem bewaffneten Mann von den Flüchtlingen ferngehalten (Brett). Unverrichteter Dinge musste Brett zurück nach England.
In Weinheim hatte Catherine Bertie große Ausgaben: sie sollte ihren Lebensstil aufrechterhalten und den Haushalt bezahlen (Harkrider, 109). Es muss sich herumgesprochen haben, dass ihr Geld knapp wurde. In Polen hörte Johannes a Lasco davon (vielleicht stand er immer noch in Verbindung mit Frankfurt?) und ersuchte König Sigismund II. Augustus um Hilfe für sie. Der Wojwode (=Pfalzgraf) von Vilnius, Mikolai Radziwill, selbst überzeugter Reformierter, sorgte dafür, dass der König ein an die Krone heimgefallenes Lehen in Kraziai in Litauen den Berties schenkte.
Dieses königliche Hilfsangebot erfreute die Berties sehr. Sie wagten jedoch nicht das Angebot ohne weiteres anzunehmen, sondern schickten den früheren Bischof von Bath und Wells, William Barlow, nach Polen. Dieser hatte schon für sie in Weinheim die Verhandlungen mit John Brett geführt, da die Berties, wie die anderen Flüchtlinge auch, direkten Kontakt mit Brett und seinen Briefen vermieden. William Barlow wurde auf seiner Reise von John Burcher (Garrett, 100f) begleitet, einem Kaufmann, der angeblich lernen sollte, in Krakau Bier zu brauen, der aber in seinen Briefen an Bullinger von Johannes a Lascos Wirken in Krakau erzählte (Cross). Diese Erkundungsreise war erfolgreich, und die Berties mit ihren Kindern setzten sich in Bewegung. Nördlich von Frankfurt trafen sie Soldaten des Landgrafen (Philipp von Hessen?) und der kleine Spaniel der Herzogin griff sie an. Die Soldaten durchbohrten die Karosse mit ihren Bärenspießen und Bertie mit den Hauskerlen verteidigten sie. Im Kampfgetümmel wurde das Pferd des Kapitäns getötet und die Soldaten waren überzeugt, dass diese Wallonen ihren Kapitän umgebracht hatten. Bertie ritt in die nächste Stadt, um die Angreifer von der Karosse wegzulocken. Dort suchte er Schutz im obersten Stock eines Hauses, wo er sich mit seinem Degen verteidigen konnte, bis der Bürgermeister kam, der Latein sprach. Bertie ergab sich ihm. Am nächsten Tag trafen sowohl die Herzogin als auch der Graf von Erbach ein. Der Graf kannte die Herzogin von früher und verneigte sich tief vor ihr - zum Staunen der Bürger (Foxe, 1839, Bd. 8, 574-576).
Ihre weitere Reise verlief ohne Zwischenfälle. Die nächsten zwei Jahre verbrachten sie in Litauen auf ihrem Gut. Im Winter 1558/59 erfuhren sie die Nachricht vom Tod Marias und der Thronbesteigung Elizabeths. Catherine Bertie schrieb an Elizabeth und beglückwünschte sie. Außerdem schickte sie ein kostbares Neujahrsgeschenk. Mit solchen Geschenken zeigte die Königin ihr Wohlwollen und die Untertanen bezeugten ihre Treue. Bald verstand Catherine Bertie jedoch, dass die so sehnsüchtig erwartete Königin mit äußerster Vorsicht vorging: es war nicht ihre Absicht, eine reformierte Kirche nach dem Vorbild von Genf und Zürich einzuführen. Enttäuscht schrieb die Herzogin an ihren Freund Cecil, dass die Englische Kirche weder katholisch noch reformiert sei. Sie lobte Maria Stuart für ihre konsequente Verteidigung der Messe: Sie habe wenigstens Haltung gezeigt! (Read, 132ff, Bainton, 273f)
4. Puritanerin in England
Im Sommer 1959 fuhren die Berties zurück nach England – Fürst Radziwill kaufte das Lehn von ihnen zurück und machte damit die Heimreise möglich. Bei ihrer Ankunft gab Elizabeth der Herzogin alle ihre Güter zurück und bürgerte den kleinen Peregrine ein. Sie wohnten fortan auf Grimsthorpe.
Miles Coverdale, zurück aus Genf, wo er an der englischen Bibelübersetzung („the Geneva Bible“) mitgewirkt hatte, zog vorerst nach Grimsthorpe. Später siedelte er nach London um.
1562 wurde eine neue Ausgabe von den Predigten Latimers verlegt, und in der Widmung an die Herzogin schrieb der Herausgeber Augustin Bernher, der Assistent Latimers, dass sie alles aufgegeben habe, um „ein Flüchtling für Christus und sein Evangelium zu werden“. Sie sei ohne Zweifel vom Exil zurückgebracht worden, „um die Verzweifelten zu trösten und um ein Werkzeug zu werden, damit sein heiliger Name gepriesen sein soll und sein Evangelium verbreitet“ (Goff 238f, Übersetzung M.N.). Damit hatte Bernher den Wunsch geäußert, Catherine Bertie möge den Puritanern beistehen. In der folgenden Ausgabe der Predigten aus dem Jahr 1578, schrieb Bernher in seiner Widmung: „An etliche gab der gnädige Gott eine solche Tapferkeit (= valiant spirit), dass sie alles aufgegeben haben und geduldig in fremden Ländern reisten…“ (Goff, 317). Für Reformierte wie Bernher war die Flucht, um den Glauben woanders bekennen zu können, eine mutige Handlung. Er selbst war zur Regierungszeit Maria Stuarts in London geblieben, um die heimlichen reformierten Gemeinden pastoral zu betreuen. Seine Ablehnung galt den Personen, die in England geblieben waren und zur Messe gingen. Man denke an Cecil und an Elizabeth. (Vollständige Zitate in der Originalsprache im Anhang.)
In den folgenden Jahren bildete sich in der Englischen Kirche ein reformierter Flügel aus Theologen und Laien, die fanden, die Elizabethanische Kirche sei ungenügend reformiert. Diese Gruppierung wurde Puritaner genannt, aber selbst bezeichneten sie sich als „the godly“ = die Frommen. Selbst die von Elizabeth ernannten Bischöfe meinten, man solle die Kirche weiter reformieren („ecclesia semper reformanda“), wurden aber von der Königin zurückgepfiffen.
Vornehme Familien am Hofe – die Sidneys, die Dudleys und die Russells – gehörten zu den Puritanern, aber Catherine schloss sich diesen Kreisen nicht an. Vielleicht wagte sie es nicht, sich mit Elizabeth anzulegen. Während Robert Dudley, Favorit Elizabeths und Graf von Leicester, puritanische Geistliche im ganzen Königreich untergebrachte, konzentrierte Catherine sich auf Lincolnshire (Harkrider, 115-135).
Viele puritanische Landadelige lebten ihre religiöse Überzeugung im häuslichen Rahmen vor. Andachten, Bibellesungen und eine strenge Lebensführung prägten ihren Tagesablauf. Darüber hinaus versorgte Catherine die Kirchen, wo sie Patronatsrecht hatte, mit an der Universität ausgebildeten Pastoren. Die wichtigste Anforderung an einen puritanischen Pastor war die Predigt – die früheren katholischen Priester waren ja vor allem Messpriester und Sakramentsverwalter gewesen. In London war der Bischof vorsichtig bei der Berufung von Puritanern; um 1565 herum entbrannte ein Streit mit diesen Pastoren, weil sie sich weigerten, Messgewändern zu tragen. Einige wenige Kirchen waren frühere Klosterkirchen und standen somit nicht unter der Aufsicht des Bischofs. Catherine Bertie besaß in London das alte Klarissenkloster The Minories und in der dazugehörigen Kirche Holy Trinity ließ sie ihre Kaplane predigen. Diese Gottesdienste wurden von den Puritanern in London besucht (Collinson 1967, 50, 68, 86, Collinson 1983, 259f, Bainton 275f).
Die puritanische Überzeugung der Herzogin minderte nicht ihren Ehrgeiz für ihre Familie. Sie hatte ja noch Zugang zum Hofe durch Cecil, später Lord Burghley. Zuerst versuchte sie Richard Bertie zu Baron Willoughby de Eresby ernennen zu lassen. Das gelang nicht. Dann wollte sie ihrem Schwiegersohn den Titel des Grafen von Kent zuerkennen. Damit hatte sie Erfolg: zwar lebte der Schwiegersohn nicht lange, aber die Tochter Susan wurde Gräfin. Schließlich wurde ihr Sohn Peregrine Baron Willoughby de Eresby.
1550 hatte der Herzog von Somerset ihr vorgeschlagen, seine Tochter mit ihrem ältesten Sohn, Henry Brandon, zu vermählen. Es war ein ehrenvolles Angebot, aber sie schlug es aus mit der Begründung, die jungen Menschen sollten abwarten, ob sie sich lieben könnten (Bainton, 255f). Als Peregrine dagegen im heiratsfähigen Alter war, verliebte er sich in Lady Mary de Vere. Diese Ehe passte nun der Herzogin gar nicht. Die Familie de Vere neigte eher dem Katholizismus zu („…our religions agree not“ Goff 309) und der Bruder Marys, der Graf von Oxford, hatte seine Frau, die Tochter Cecils, sehr schlecht behandelt. Wie dem auch sei, die Herzogin verbrachte ihre letzten Jahren in Klagen über ihre missratenen Kinder und Schwiegertochter. Erst als Catherine Bertie 1580 starb, wurde die Ehe Peregrines anscheinend glücklicher. Er und seine Frau bekamen sieben Kinder und er leistete erfolgreich Militärdienst für Elizabeth. Susan heiratete 1581 in zweiter Ehe einen Offizier, Sir John Wingfield, der für seine Tapferkeit bekannt war.
In Spilsbys Kirche steht ein imposantes Grabmal für Catherine und Richard Bertie mit Büsten von ihnen und biblischen Texten. Die Inschrift lautet: „Sepulchrum D. Ricardi Bertie et Catherinae Ducissae Suffolkiae, Baronissae de Willoby de Eresby, coniug. ista obiit XIX Septemb. 1580. Ille obiit IX Aprilis, 1582“: Das Grab von Herrn Richard Bertie und von Catherine, Herzogin von Suffolk, Baroness de Willoughby de Eresby, seine Gattin. Sie starb am 19. September 1580. Er starb am 9 April 1582.
5. Würdigung
Das Leben der Catherine Willoughby/Brandon/Bertie war von ihrer hohen Abstammung und großem Reichtum bestimmt. Als Witwe behielt sie den Titel ihres ersten Gemahls und war lebenslänglich als die Herzogin von Suffolk bekannt. Nach dem Tod Heinrichs VIII. spielte sie eine herausragende Rolle in der Regierungszeit Edwards V, war eine Vollstreckerin der königlichen Anordnungen und pflegte wichtige Freundschaften (nur mit Wibrandis Rosenblatt haperte es mit der Freundschafft!).
Sie nahm sich das Recht heraus, aus Liebe zu heiraten. Der jakobitische Bühnenautor John Webster schrieb seine etwas blutrünstige Tragödie „The Duchess of Malfi“ über dieses Thema: eine junge Frau, die trotz ihrem hohen Stand es wagt, ihr Liebesglück nachzustreben.
Catherine Bertie wurde in „The Book of Martyrs” von John Foxe aufgenommen, nicht weil sie auf dem Scheiterhaufen landete, sondern weil sie als Flüchtling Zeugnis ihres Glaubens ablegte. Die Quelle für John Foxe ist zweifelsohne Richard Bertie, der Episoden erzählte, in welcher er selbst eine vorteilhafte Rolle spielte. Bertie diente der Herzogin treu und ergeben. Er blieb nicht ohne Kritik. Goff berichtet (S.215), dass auf seinem Porträt auf Grimsthorpe jemand geschrieben hat: „Cendre Bien delguise Toutefois Cendre“: Selbst gut verkleidet bleibt Asche nur Asche. Das war Richard Bertie gegenüber sehr unfreundlich. Die Rechnungen für das Gut Grimsthorpe zeigen, dass er im feinsten Zwirn gekleidet war (Read 149f).
Die Zeit auf der Flucht war von viel Hilfe geprägt. Der Pastor Perussel, die früheren Bischöfe Coverdale und Barlow, die Pfalzgrafen, Johannes a Lasco und Fürst Radziwill – alle halfen sie der Herzogin und ihrer Familie. Gewissermaßen war sie immer von einer schützenden Hülle umgeben. Die Zeitgenossen bewunderten ihren Mut und Bereitschaft, England für ihren Glauben zu verlassen und in fremden Ländern zu leben.
Trotz aller Frömmigkeit verdarb sie sich ihre letzten Jahre mit ihrem Familienzwist. Sie war nie umgänglich gewesen, ihre „heats“ (= hysterische Anfälle) waren berüchtigt und gefürchtet, und sie kränkte nicht nur Stephen Gardiner. Andererseits blieben Bedienstete bei ihr über Generationen hinweg und ihre Briefe an Cecil zeigen eine sehr charmante Frau.
6. Die Herzogin von Suffolk in der Kunst
Das Schicksal der Herzogin inspirierte Dichter und Regiseure: Thomas Deloney (1543-1600) schrieb eine Ballade: „The most Rare and Excellent history of the Dutchess of Suffolk and her Husband Richard Berties Calamities”.
1624 verfasste Thomas Drue (Drew) ein Schauspiel: „The Life of the Duchess of Suffolk“. Es ist abgedruckt in Goff und von mäßigem Interesse.
John Webster´s oben erwähnte Tragödie: „The Duchess of Malfi“ ist von ihr inspiriert, ohne auf historische Fakten Rücksicht zu nehmen.
In der Fernsehserie „The Tudors“ wird sie Catherine Brooke genannt. Nicht nur was den Namen anbelangt hat die Figur mit der historischen Catherine Willoughby nichts gemeinsam. Auch die erste Ehe von Charles Brandon mit Mary Tudor hat mit historischen Tatsachen wenig zu tun.
Die historische Wirklichkeit ist genauso spannend.
Anhang:
Originaltext von Latimer´s Sermons, Widmung von 1562:
„I have set forth these sermons, made by this holy man of God (scil. Latimer), and dedicated them to your Grace, partly because they were preached in your Grace´s house at Grimsthorpe by this reverend father and faithful prophet of God, whom you did nourish, and whose doctrine you did most faithfully embrace, to the praise of God and unspeakable comfort of all Godly hearts, the which did, with great admiration, marvel at the excellent gifts of God, bestowed upon your Grace, in giving unto you such a princely spirit, by whose power and virtue, you were able to overcome the world, to forsake your possessions, lands and goods, your worldly friends and native country, your high estate and estimation with which you were adorned and to become an exile for Christ and his Gospel´s sake; to choose rather to suffer adversity with the people of God than to enjoy the pleasures of the world with a wicked conscience, esteeming the rebukes of Christ greater riches than the treasures of England, whereas the worldings are far otherwise minded; for they have their pleasures among the pots of Egypt, they eat, drink and make merry, not caring what became of Christ, or his Gospel; they be so drunken with the sweet delicates of this miserable world that they will not taste of the bitter morsels, which the Lord has appointed and prepared for His chosen children and especial friends. Of the which he did make you most graciously to taste, giving unto your Grace His spirit that you were able in all the turmoils and grievances the which you did receive, not only at the hands of those who were your professed enemies but also at the hands of them who professed friendship and good-will but secretly wrought sorrow and mischief; to be quiet and patient and in the end, brought your Grace home again to your native country, no doubt to no other end but that you should be a comfort to the comfortless and an instrument by which His Holy name should be praised and his Gospel propagated and spread abroad: to the glory of His Holy name and your eternal comfort in Christ Jesus, into whose merciful hands I commit your Grace with all yours eternally.” (Goff, 238f)
Latimer´s Sermons, Widmung von 1578: „Unto some, the self same most gracious God gave such a valiant spirit that they were able, by His Grace, to forsake the pleasures & commodities of this world, & being armed with patience, were content to travel into far & unknown countries, with their families & households, having small worldly provision, or none at all, but trusting in His providence, who never forsake them that trust in Him.” (Goff, 317)
Literatur:
Quellen:
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Zwischen Toleranz und Antijudaismus
Martin Bucer und Philipp Melanchthon und ihr Verhältnis zum Judentum
Schon vor der Reformation waren die Juden Westeuropas fast vollständig aus den meisten Städten und Territorien vertrieben worden. Zu den wenigen protestantischen Territorien, in denen Juden im 16. Jahrhundert noch geduldet wurden, gehörte die Landgrafschaft Hessen unter Philipp I. (1504-1567). Auf Druck der hessischen Geistlichen kam jedoch 1539 eine Judenordnung zustande, die die Lebensbedingungen der jüdischen Gemeinden massiv beeinträchtigte. Der Jude Josel von Rosheim (1476-1554[?]), der bis zuletzt gegen die Verschärfungen in der Judenordnung angekämpft hatte, schrieb aus diesem Anlass eine Trostschrift an seine verfolgten Glaubensbrüder in Hessen.
Diese Trostschrift ist eines der wenigen erhaltenen Dokumente, die die Zeit der Reformation aus jüdischer Perspektive beleuchteten. Josel von Rosheim war Vertreter und Verteidiger der jüdischen Gemeinden in rechtlichen und religiösen Angelegenheiten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Durch seine vielen Reisen und seine zahlreichen diplomatischen Kontakte war er bestens informiert über die Situation im Reich und über die Auswirkungen der Reformation. Zudem hat er einige protestantische Fürsten und Reformatoren persönlich gekannt.
Seinem Urteil über die Reformation kommt somit einige Bedeutung zu. Und hier ist von Interesse, dass sein Urteil überaus kritisch ausfiel; Josel von Rosheim sah in den reformatorischen Neuerungen eine massive Verschlechterung für die jüdische Situation. Gleichwohl versuchte er in seiner Trostschrift zu differenzieren: Unter den Führern der Reformation gäbe es auch solche, die nicht in den verbreiteten Antijudaismus einstimmen würden. Josel erklärte diesen Umstand folgendermaßen:
”Aber dargegen gibt Gott den großen Heuptern, solchen verstanndt, daß sie auch versteent die h[eilige] geschrift, dardurch sie uns wider solche gnediglich erhalten, und keren sich nit an alle giftige geschrey über uns; Je großer die herren seint, so großer sie auch gnad von Gott haben “.
Josel von Rosheim sah also in der intellektuellen Größe einzelner führender Persönlichkeiten den Grund, dass sie aus der Heiligen Schrift die heilsgeschichtliche Besonderheit Israels erkannten und deshalb immun waren gegen das ”giftig Geschrei“ der Menge. Das begnadete Verständnis der Heiligen Schrift war für Josel von Rosheim demnach ein wichtiger Faktor für das positive Verhalten gegenüber dem Judentum.
In diesem Beitrag möchte ich untersuchen, ob dieses Urteil zutreffend ist, und danach fragen, welche Faktoren im 16. Jahrhundert die Einstellung gegenüber dem Judentum bestimmt haben. Als Beispiele dazu habe ich Martin Bucer (1491-1551) und Philipp Melanchthon (1497-1560) ausgewählt. Josel von Rosheim hat beide Reformatoren persönlich gekannt und sich in seiner Trostschrift über sie geäußert; seine Urteile fielen gegensätzlich aus: In dem Straßburger Reformator Bucer sah Josel den Inbegriff eines ”vergifteten Gemüts“, das mit seinen gefährlichen Äußerungen zum Judenhass beigetragen habe. In seiner Trostschrift notierte er:
”Aber es befremdet mich von dem Butzero dieweil er [...] on noth und gezwang, wi[e]der ein hertere disputation, wider uns armen zugericht, und [...] offentl. trugkt [= gedruckt], uns armen gar hinzulegen [= zunichte zu machen] [...]. do er aber feelt, und Gott kein wolgefallen doran hat, sollich seine geschwinde [= gefährlichen] urtheilen, so er über uns armen schreibt, würt Gott nach seinem Willen das wol offenbar machen welcher Rathgeber uß Gott oder uß vergiftem gemieth“.
Im Hintergrund stand hier der Umstand, dass Bucer 1538 für die neue hessische Judenordnung einen ”Judenratschlag“ mitverfasst hatte, in dem folgende Maßnahmen vorgesehen waren: Handels- und Wucherverbot für Juden, Ausschluss von öffentlichen Ämtern, einkommensgestaffelte Schutzgeldbestimmungen, Enteignung reicher Juden, Zwangsarbeit mit den allerniedrigsten Verrichtungen, Verbot des Baus neuer Synagogen, Verbot talmudischer Schriften, Verpflichtung zum Judeneid und zur Teilnahme an judenmissionarischen Predigten. Ein Verstoß gegen diese Bestimmungen wurde mit Vertreibung bzw. Todesstrafe bedroht.
Diese Vorschläge waren für die hessische Judenordnung von 1539 maßgebend, und Bucer untermauerte seine Vorschläge eigens mit einer Rechtfertigungsschrift. Diese Schrift war für Josel der Anlass, seine ”Trostschrift ahn seine Brüder wider Buceri Büchlein“ – so der vollständige Titel – zu verfassen. Anders verhielt es sich mit dem Wittenberger Reformator Melanchthon. Ihn zählte Josel zu den ”großen Heuptern“, die sich gegen antijüdische Verleumdungen gewandt hatten. In seiner Trostschrift berichtete Josel:
”Sehet jetzt auf nechst gehaltenem tag zu franckfort durch den hochgelerten Dr. Philippum Melancton ißt dem Hochgebornen fürsten und Herren, Marggr[af] Joachim [II.] von Brandenburg Churf[ü]r[st], glaubhaftig fürgepracht worden, wie von Tyrannen die armen Juden, bey seines Vattern [Joachim I.] seligen leben zu unrecht verbrannt worden “.
Diese Mitteilung bezog sich auf den Brandenburger Hostienschändungsprozess von 1510. Damals waren 38 Juden des Hostienfrevels angeklagt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Zudem wurden alle Juden aus dem Kurfürstentums vertrieben. Melanchthon aber enthüllte 1539 auf dem Frankfurter Fürstentag, dass der Brandenburger Bischof damals der Öffentlichkeit ein entlastendes Beichteingeständnis vorenthalten und den Tod der 38 Juden billigend in Kauf genommen hatte. Ein Christ, der zu Recht des Hostiendiebstahls verdächtigt wurde, hatte nämlich seinem Priester gebeichtet, dass er die Juden absichtlich verleumdet hatte. Dessen Beichteinge ständnis sei aber den Richtern und der Öffentlichkeit auf Betreiben des Brandenburger Bischofs vor enthalten geblieben.
Diese überraschende Mitteilung Melanchthons hatte zur Folge, dass Josel von Rosheim beim Kurfürsten eine Wiederaufnahme der Juden in Brandenburg erreichen konnte. Es verwundert also nicht, wenn Josel von Rosheim Bucer als gefährlichen Gegner des Judentums betrachtete, Melanchthons Eintreten auf dem Frankfurter Fürstentag jedoch als hoffnungsvolles Zeichen wertete.
Im folgenden soll nun untersucht werden, wie beide Reformatoren zu ihren Haltungen gegenüber dem Judentum gekommen sind und welche theologischen Zusammenhänge dafür ausschlaggebend waren. Dabei gilt es zunächst, die Israel-Lehren der beiden Reformatoren zu untersuchen.
1. Die Wittenberger Dialektik von Gesetz und Evangelium
Die Israel-Lehre des Wittenberger Reformators Melanchthon gilt in der Forschung als überaus ”israelfreundlich“. Im Melanchthon-Jahr 1997 wurde ihm gleich von mehrfacher Seite eine Offenheit für den christlich-jüdischen Dialog bescheinigt. Dieses Urteil bezieht sich im wesentlichen auf das Frühwerk Melanchthons, die Loci communes von 1521. Dieses Werk ist jedoch wenig aussagekräftig für Melanchthons Israel-Lehre, da er an entscheidenden Stellen zum Teil schon ein Jahr später grundlegende Veränderungen vorgenommen hat.
So wehrte sich Melanchthon z.B. in den Loci von 1521 gegen eine Auftei lung von Gesetz und Evangelium auf das Alte und Neue Testament. Zwei Jahre später jedoch betrachtete er die Gesetzespredigt als das Proprium des Alten und die Evangeliumsverkündigung als das Pro prium des Neuen Testaments. Ebenso bezeichnete er Mose in den Loci von 1521 noch als ”non iam legis minister, sed evangelista“; doch schon ab der Ausgabe von 1522 betonte Melanchthon den Unterschied
”inter Mosen et Christum, inter legem et Evan gelium. Moses veteris testamenti, hoc est, legis minister erat. Christus novi testamenti, non legis quidem, nam ea iam antea promulgata erat, ministerio Mosi, sed re missionis peccatorum.“
Außerdem plädierte er noch 1521 dafür, die Rechtsprechung an den mosaischen Gesetzen zu orientieren, da die Christen in den Ölbaum Israels eingepfropft seien (vgl. Röm 11,17). Später zeigte er sich dann zurückhaltender gegenüber einer unmittelbaren Anwendung des Mosegesetzes. Als Grundlage für die bürgerliche Gesetzgebung empfahl Melanchthon nunmehr das römische Recht. Auf mosaische Gesetze dagegen dürfe nur zurückgegriffen werden, sofern diese mit dem Naturrecht in Einklang stünden.
Und auch das paulinische Ölbaumgleichnis deutete Melanchthons immer stärker in Richtung einer Substitution Israels durch die Gläubigen der christlichen Kirche. Der Grund für diese signifikante Veränderung in der Israel-Lehre Melanchthons lag in den sog. Wittenberger Unruhen von 1521/22. Unter Berufung auf das alttestamentliche Bilderverbot hatten nämlich einige Bürger begonnen, die Bilder aus den Kirchen gewaltsam zu entfernen.
Dies führte bei Luther und Melanchthon dazu, dass sie die Bedeutung des Alten Testamentes für die kirchlichen Reformen zurückwiesen. Als schließlich auch sozial reformerische Forderungen des Bauernaufstandes (1524/25) mit dem Alten Testament begründet wurden, wandte sich vor allem Melanchthon entschieden gegen den Versuch, das mosaische Gesetz dem geltenden Recht überzuordnen und dadurch anarchische Zustände herbeizuführen. Statt dessen ging Melanchthon dazu über, das Mosegesetz dem Naturgesetz unterzuordnen.
Analog zu Luther entwickelte er die Dialektik von ”Gesetz und Evangelium“. Dieses Prinzip von ”Gesetz und Evangelium“ sah Melanchthon zwar schon im Alten Testament vertreten, wodurch er eine gewisse Einheit der beiden Testamente festhalten konnte. Doch zugleich brachte er mit dem Prinzip ”Gesetz und Evangelium“ auch die heilsgeschichtliche Gegenüberstellung der Testamente zum Ausdruck. Diese offensichtliche Spannung wird verständlich vor dem Hintergrund, dass Melanchthon die Einheit der Testamente im wesentlichen auf die Glaubensväter des Alten Testaments bezog.
Die konkreten Gesetze und Verheißungen des Alten Testaments jedoch waren für ihn von untergeordneter Bedeutung. Nur sofern sie mit dem ewig geltenden Natur gesetz übereinstimmten oder den künftigen Mittler verhießen, ragten sie gewissermaßen in den Neuen Bund hinein:
”Wiewol nu das Gesetz Moisi, seine eigen zeit gehabt, und al lein dem Jüdischen volck gegeben ist. So gehet doch das Gesetz der natur (wel ches mit den zehen Geboten uber ein stimmet) von anbe gin der Welt bis zum ende, alle Menschen, Jüden und Heiden an, Denn es ist in aller Menschen hertzen gebildet und geschrieben. [...] nach dem diese Verheissung, das ist, das Euangelium von Christo, allen Menschen von anbegin der Welt, Gottes gnade, und heil anbeut, und alle angehet, So sollen wir das wort, Testament, nicht also verstehen, als gehe es die Patriar chen oder Veter nichts an, Sondern new Testament, das ist ein new Bund, ein new wort und göttliche Ver heissung, und etwas anders und höhers, denn der bund des Gesetzes. Denn unter dem Gesetz hatten sie allein verheissung von zeitlichen dingen, des Königreichs Israel etc. Das Euangelium aber ist ein newer Bund, ein new Testament, und ein newe göttliche Verheissung“.
D.h., nur als Ausdruck des Naturgesetzes oder des Christusevangeliums war das Alte Testament für die christliche Kirche von bleibender Bedeutung. Im Blick auf die konkrete geschichtliche Ausgestaltung des alttestamentlichen Bundes hatte das Alte Testament jedoch mit dem Kommen Christi jede Bedeutung verloren. Auf die Frage, welchen Zweck der ”Bund des Gesetzes“ denn gehabt habe, antwortete Melanchthon:
”Gott wollte damals, dass das mosaische Staatsgefüge von den anderen Völkern unterschieden sei, damit es einen sicheren und offenkundigen Ort gäbe, und ein bestimmtes, kenntliches Volk, wo der Mittler geboren würde, wo die Zeugnisse von der Verheißung verkündet würden usw. Später ist dieses Staatsgefüge als abschreckendes Beispiel aus vielerlei Gründen zerstört worden.“
Das alttestamentliche Israel repräsentierte somit für Melanchthon nur den äußeren Ort, an dem Gott vorübergehend die Lehre und Ver kündigung vom kommenden Mittler aufgehoben wissen wollte. Zu diesem Zweck sei die politia Moisi mit besonderen Vorschriften und Gesetzen ausgestattet worden; diese hätten aber mit dem Anbruch des Gottesreiches unter Christus und dem Ende des jüdischen Staates (70 n. Chr.) ihre Berechtigung verloren.
2. Die oberdeutsche These von der Einheit des Bundes
Im Unterschied zu Melanchthon hat der oberdeutsche Reformator Bucer eine deutlich andere Israel-Lehre vertreten. Nicht die Dialektik von Gesetz und Evangelium bestimmte sein Denken, sondern die These von der substanti ellen Einheit des Bundes:
”Das Verhältnis von Neuem und Altem Testa ment ist im wesentlichen nicht das eines neuen Testaments, das durch Christus Bestand hat, und das eines alten [Testaments], das Gott mit den Vätern geschlossen hat. Beide sind nämlich von Grund auf idem in substantia.“
Die Besonderheit in der Bundestheologie Bucers lag darin, dass er sowohl für den Inhalt als auch für die Einrichtungen (instituta) des Alten Bundes eine Kontinuität zum Neuen Bund behauptete. Das Gesetz des Alten Bundes z.B. war für Bucer keineswegs abgetan:
”Denn das durch Mose über lieferte Gesetz Gottes [...] ist ein Gesetz, das geradlinig und vollkommen ist und die Seele dessen wiederaufrichtet, der sich selbst erforscht; es ist ein zuverlässiges Zeugnis von Gott, wodurch er den Unerfahreneren Weisheit vermittelt; es sind treffliche Anordnungen, die das Gemüt erfreuen; es sind klare Vorschriften, die die Augen erleuchten; es ist eine gewissenhafte Lehre der Religion, die ewig Bestand hat; es sind wahrhafte Grundsätze, in denen es keine Ungerechtigkeit gibt [... und] mit denen allein der Knecht Gottesrecht unterwiesen wird und, wenn er sich um sie müht, hundertfachen Lohn empfängt [vgl. Ps 19,8ff].
Diese gesetzlichen Einrichtungen (Riten, Zeremonien, bürgerliche Gesetze und Vorschriften) waren für Bucer Bestandteil des einen Bundes und auch im Neuen Bund keineswegs einfach abgetan:
”Die Gegner führen wiederholt den Grundsatz an: Die den Al ten gemachten Vorschriften seien für uns [nur] Bilder [vgl. 1 Kor 10,6], die verschwinden müssten, sobald das Wesen der Sache selbst erscheine [...]. Daraus würde allerdings folgen, dass auch die äußere Lehrtätigkeit und das Amt der Obrigkeit aufgehoben wären. Denn diesbezüglich finden wir bei Mosche viele Vorschriften, die sowohl innere und geistliche Unterweisungen sind, als auch Vorbilder und Abbildungen des Reiches Christi in den Herzen. Folglich ist im Reich Christi nicht alles abgeschafft, was bei Mosche äußerlich vor geschrieben und daher im Blick auf das Reich Christi [nur] Abbil dung und Abschattung der geistlichen Dinge war [vgl. Kol 2,17] [...]. Denn auch wir le ben noch im Fleisch [...], und deshalb haben auch wir Zere monien nötig.“
Dies galt nun allerdings nicht unterschiedslos für alle Vorschriften des mosaischen Gesetzes. Als abgeschafft galt Bucer alles, was dem spezifischen ministerium Moseos zuzurechnen sei, d.h. was nur eine auf Christus vor ausweisende Funktion gehabt habe oder nur ein Zugeständnis ( accessoria) an die Zeitumstände (circunstantiae corporales) gewesen sei:
”[...] auch in jenen äußeren [Vorschriften] hat Gott allein diese [pietas] erwartet: beim Opfern Glauben, in der Recht sprechung Liebe und bei den übrigen Riten eine anständige Lebensweise. Soweit sie aber nur Äußeres enthalten, wie das Werk selbst, den Ort, die Zeit, die Person, die Anzahl, die Beschaffenheit und andere äußere Umstände [...], auf die Gott niemals irgendeinen Wert gelegt hat, liegt es derart fern, dass Gott seine Lehre und sein Gesetz darauf errichtet hätte. Die se accessoria sind also mit Sicherheit nicht mit dem Begriff und dem Ehrentitel des göttlichen Gesetzes gemeint, obgleich die Heiligen sie zu ihrer Zeit genau beachten mussten.“
Unter diesen accessoria fasste Bucer vor allem das alttestamentliche Zeremonialgesetz. Das Judizialgesetz dagegen erachtete er für derart vorzüglich, dass es zu ”bedauern ist, dass die Christen ihre Staatsangelegenheiten weniger nach diesen Gesetzen Gottes als nach denen der Menschen regeln. [Denn] geradezu alles, was den Schutz der wahren Religion, die Regelung des zwischenmenschlichen Handels und alle Förderung von Sitte und Anstand anbetrifft, ist jenen in der Weise vorgeschrieben und überliefert worden, dass man sich nichts Vollkommeneres vorstellen kann.“
Diese inhaltliche und formale Kontinuität der beiden Testamente wurde von Bucer u.a. abgesichert durch den Hinweis, dass die Kirche keineswegs einem neuen, anderen Bund angehöre, sondern dem alttestamentlichen Bundesvolk eingepfropft sei (vgl. Röm 11,16-24; Eph 2,11-22; 3,6):
”Somit gibt es [nur] einen einzigen Wurzelstamm des Herrn, ein und dasselbe Volk [und] eben denselben Leib – vom ersten Auserwählten bis zum letzten [...]. Das neue Volk, das Gott durch den Herrn Jesus aus den Völ kern aufgenommen hat, ist es also nicht in der Weise, dass es von dem Alten verschieden ist; sondern es ist dem Alten [Volk] einge pfropft, damit es im Blick auf den Lebenswandel vor Gott stärker hervorrage.“
Durch die Aufnahme in den bereits bestehenden Bund würden die Christen auch auf die inhaltlichen und formalen Voraussetzungen des Bundes verpflichtet. Im Blick auf die Ehescheidung formulierte Bucer beispielsweise folgenden Grundsatz:
”Was der Herr seinem Alten Volk erlaubt und ins besondere vorgeschrieben hat, bezieht sich auch auf die Christen. [...] [Denn] was der Herr schon seinem erstgeborenen Volk erlaubt und vorgeschrieben hat, dies kann er den Hinzugekommenen aus den Völkern, die er zu Miterben und Miteinverleibten seines Volkes gemacht hat (Eph 3[,6]), freilich unmöglich verbieten.“
Dies bedeutete nun aber keineswegs, dass Bucer jeden Unterschied zwischen den Testamenten in Abrede gestellt hätte. Auch er benannte Unterschiede, doch waren sie bei ihm von vornherein der Lehre von den drei Epochen der Heilsgeschichte (”Triplex aetas populi Dei“35) untergeordnet. Bucer unterteilte die Heilsgeschichte nämlich in eine pueritia, eine aetas adultior und eine aetas plene virilis. Die beiden ersten Epochen repräsentierten den Alten und Neuen Bund und würden sich im wesentlichen nur durch die Intensität der Geistesgabe von einander unterscheiden. Einen gravierenden Unterschied sah Bucer erst im Übergang zur letzten Epoche, dem himmlischen Zeitalter:
”Wenngleich aber das mittlere Zeitalter, in dem das Wort des Evangeliums regiert, geistlicher ist als das der Kindheit, so ist es doch nicht ganz geistlich, wie es das volle Mannesalter, d.h. das himmlische Leben, sein wird. “
Der entscheidende Unterschied war also nicht der von Altem und Neuem Bund, sondern der von ‚Schon’ und ‚Noch-nicht’:
”Bi unns ists aber auch noch nit volku men, sonder stuckwerck, 1.Cor.13 [V.9-12]. Unnd erwarten noch, das wir das volkomen alter Chri sti erlangen. Darumb wir gleych jm mittel seind des alten unnd künfftigen volcks. “
Angesichts dieses eschatologischen Vorbehalts bewegten sich die von Bucer benannten Unterschiede zwischen Altem und Neuem Bund ausschließlich auf der Ebene einer quantitativen Differenz. Der Grund für diese deutlich andersgelagerte Israel-Lehre Bucer lag darin, dass er seine Theologie nicht wie Melanchthon gegenüber Bilderstürmern und Bauernforderungen zu profilieren hatte, sondern gegen über den täuferischen Gruppen in Straßburg. Und hier diente ihm die These von der Einheit des Bundes dazu, mit Hilfe der alttestamentlichen Kinderbeschneidung die christliche Praxis der Kindertaufe zu rechtfertigen.
Betrachtet man die Israel-Lehren der beiden Reformatoren, so überrascht das Ergebnis zunächst einmal. Aufgrund der eingangs genannten Urteile Josels von Rosheim hätte man eher bei dem erklärten Judengegner Bucer eine stärkere Abwertung des Alten Testamentes erwartet und nicht bei dem offensichtlich moderateren Melanchthon. Doch die Einschätzung des Alten Bundes hatte in der Reformationszeit ihren hauptsächlichen Ort in der innerchristlichen Auseinandersetzung; über die Verhältnisbestimmung zum Judentum sagt die Einschätzung des Alten Bundes offensichtlich wenig aus. Deshalb soll nun in einem zweiten Schritt die theologische Beurteilung des Judentums durch Melanchthon und Bucer untersucht werden.
3. Die theologische Beurteilung des Judentums durch Melanchthon
Bereits oben wurde deutlich, dass Melanchthon die Substitution Israels durch die Kirche voraussetzte. Melanchthon war der Überzeugung, dass die Juden ohne Christus verworfen seien: ”Wer nicht zum HErn Christo bekeret wird, ist gewisslich verworffen“. Zwar habe Gott bis zum Kommen Christi immer einen kleinen Rest auserwählt, um die Kontinuität der ”wahren Kirche“ zu gewährleisten. Doch sei ”in dem Israelitischen Volck zu allen zeiten schier das größte teil des Volckes Abgötisch gewesen“.
Die Verheißungen seien fleischlich missverstanden worden, durch die Einhaltung des Gesetzes glaubte man, vor Gott gerecht werden zu können und durch Opfer und Zeremonien Sündenvergebung zu erlangen. Die ”wahre Kirche“ hingegen, die die se Zustände missbilligte, wie z.B. der Kreis um die Propheten, sei von den Priestern und Leviten verfolgt worden. Dies alles habe schließlich dazu geführt, dass ”GOTTES kirch schrecklich zum sawstal und zur mördergruben gemacht“ worden sei.
Aufgrund ihres Unglaubens und wegen der Verfolgung des Evangeliums habe Gott schließlich Jerusalem durch die Römer zerstört und somit der politia Moisi ein für allemal ein Ende gesetzt:
”Er wollte, dass jene politia ausgelöscht würde, damit man einsehe, dass für die Gerechtigkeit vor Gott das Gesetz nicht notwendig ist und die Zeremonien nicht die maßgebliche [Form der] Gottesverehrung dar stellen. Wenn jene politia bestehen geblieben wäre, dann allezeit [auch] folgende Vorstellung: ‚Wir Juden haben den Vorzug; die Menschen müssen zu uns kommen und von uns das Gesetz und die Zeremonien lernen. Wir müssen das Gesetz auf alle Völker ausdehnen.’ Wünschenswert ist eine Übereinkunft im Menschengeschlecht, aber schon die Ruinen und Trüm mer Jerusalems zeigen, dass das Gesetz aufgehoben ist.“
Die politia Moisi hatte für Melanchthon vor allem den Zweck, das jüdische Volk von den anderen Völkern zu unterscheiden und für die Verheißungen und das Christusgeschehen den äußeren Rahmen abzugeben (s.o.). Nach dem Kommen Christi und der Errichtung des universalen Christusreiches habe darum die heilsgeschichtliche Sonderrolle des jüdischen Volkes ihr Ende gefunden: ”Post quam Christus apparuit, non vult amplius Deus eum populum a gentibus discerni.“
Ohne den Glauben an das wahre Evangelium blieben die Juden auf einer Stufe mit den Heiden, Muslimen und Ketzern. Wie die Muslime und Heiden würden sie Christus als Gottessohn ablehnen, ei nen Abgott anbeten und somit gegen das erste Gebot verstoßen. Ihre Kinder könnten ohne eine christliche Taufe nicht gerettet werden, sondern würden in Sünde und Verdammnis bleiben. Auch die von Juden weiterhin praktizierte Beschneidung entbehre post Christum der göttlichen Legitimation: ”Also ist der jetzigen Jüden und Türcken be schneidung kein Sacrament
mehr, Sondern sie spotten Gottes damit.“
Außerdem hielt Melanchthon die Juden für verblendete, gottlose Gesellen, die dem Machtbereich des Teufels zugehörten und dem Wahn verfallen seien, das Gesetz halten zu können. Ihre strenge Einhaltung der Sabbatruhe z.B. sei ein Ausdruck von ”Werk gerechtigkeit“ und entspringe einer abergläubischen Vorstellungswelt. Zudem würden sie immer noch der irrigen Auffassung anhängen, der Messias werde sie nach Palästina zurückbringen und dort ein weltliches Reich der Juden errichten.
Einen Grund für die Irrtümer der Juden sah Melanchthon in ihrem mangelnden Schriftverständnis. Sie hätten zwar die für das Verstehen des Alten Testaments unverzichtbare hebräische Sprache bewahrt, wegen unzureichender Kenntnisse in Dialektik und Rhetorik ermangele es ihnen jedoch an dem notwendigen Verständnis der Zusammenhänge. Durch ihre Spitzfindigkeiten, Wortverdrehungen und Halluzinationen würden sie den Sinn der Schrift nachhaltig entstellen. Dies gelte vor allem für die messianischen Verheißungen.
Auch Melanchthons Römerbrief kommentar von 1540 blieb von dieser grundsätzlich negativen Sichtweise des jüdischen Glaubens bestimmt. In seinem Kommentar ging Melanchthon davon aus, dass der Großteil des jüdischen Volkes durch eigenes Verschulden von Gott verworfen sei und jeglichen Anspruch auf die Verheißungen Israels verloren habe. In dieser Auffassung ließ sich Melanchthon auch dadurch nicht beirren, dass die entscheidenden Passagen des Römerbriefes (z.B. Röm 3,3; 9,6a; 11,1.11) gegenteilige Aussagen machen.
Vielmehr versuchte er dem drohenden Widerspruch zu begegnen, indem er herausstellte, dass für einen geringen Rest unter den Juden die Verheißungen Israels durchaus in Kraft blieben – dies aber natürlich nur, sofern sie sich zum christlichen Glauben bekehrten:
”Haben die Juden etwa deshalb die Verheißungen verloren, und ist das ganze Volk [deshalb] verworfen, weil sie nicht an Christus geglaubt, sondern ihn getötet haben? Paulus antwortet, dass die Gnadenverheißung nicht ungültig gemacht worden ist, sondern für alle, die glauben, in Geltung bleibt, auch wenn die meisten sie [d.h. die Verheißung] verschmähen.“
In der Perspektive Melanchthons hatte Gottes Treue zu Israel also nur innerhalb der christlichen Kirche Bestand; d.h. Juden müssten sich zum christlichen Glauben bekehren, um der Verwerfung des jüdischen Volkes zu entgehen. Die Warnung des Paulus vor einem (heiden-)christlichen Hochmut gegenüber den Juden (Röm 11,18-24) nahm Melanchthon zwar zur Kenntnis, sie diente ihm jedoch lediglich dazu, den Alleinvertretungsanspruch der römischen Kirche zurückzuweisen. Dennoch kam Melanchthon nicht umhin, sich mit der paulinischen
Auffassung von der endzeitlichen Errettung ganz Israels (Röm 11,25f.) auseinander zu setzen. Bereits zu Röm 9,28 vermerkte er, dass der Großteil des jüdischen Volkes am Ende der Zeit untergehen werde und nur einige wenige, die sich zum Evangelium bekehrten, errettet würden. In dieser Auffassung sah er sich auch durch Röm 11,25f. nicht ernst haft in Frage gestellt:
”Paulus fügt noch eine Weissagung von der Bekehrung der Juden hinzu, die wohl so zu verstehen ist: Es wird geschehen, dass bis zum Ende der Welt allmählich einige von den Juden bekehrt werden. Denn ich weiß nicht, ob er damit meint, dass am Ende der Welt noch irgendeine Bekehrung einer großen Menge bevorsteht. Da dies ein Geheimnis ist, sollen wir es Gott überlassen.“
Aus der endzeitlichen Errettung ganz Israels bei Paulus ist hier also die allmähliche, vorendzeitliche Bekehrung einzelner Juden geworden. Melanchthons negative Sichtweise des jüdischen Glaubens und die Auffassung von der grundsätzlichen Verwerfung des jüdischen Volkes machten es ihm offensichtlich unmöglich, den wörtlichen Sinn der paulinischen Ausführungen zu akzeptieren.
4. Die theologische Beurteilung des Judentums durch Bucer
Anders verhielt es sich bei Bucer. Er teilte zwar die negative theologische Einschätzung des Judentums, doch er hatte große Schwierigkeiten, diese Auffassung mit seiner These von der Einheit des Bundes und der Auslegung des Römerbriefes zusammenzubringen. Nichtsdestotrotz stand für Bucer fest, dass das Judentum post Christi adventum von Gott verworfen und wegen seiner zahlreichen Vergehen aus dem Land der Verheißung ver trieben wurde: ”Darumb sye dises land auch, da sye so gar von Got abgefallen waren, auß speyet und nit duldet.“ Das den Juden einst zum Leben gegebene Gesetz bringe ihnen ohne den Glauben an Christus nichts als Tod und Verdammnis. Und selbst die ihnen vormals zuteilgewordene Gnade des Bundes habe seine Wirkung verloren und sei auf die Kirche übergegangen:
”So sind auch wir längst von Natur Kinder Got tes und voll von dem Leben des rechten Ölbaums. Die Juden aber, die nun unter dem Reich des Satans leben, sind wilde Ölbäume, ohne irgendeine gute Frucht.“
Trotz dieser Eindeutigen Aussagen schwankte Bucer in seinem Urteil über die Ursache der jüdischen Verwerfung. Ei nerseits sah er die jüdische Verstockung bereits im göttlichen Ratschluss vorgezeichnet:
”Indem [...] die Juden aber durch den geheimen Ratschluss Gottes verstockt sind und zudem Christus mit dem größten Hass verfolgt haben [...], sind sie nun ganz und gar aus dem Heil herausgefallen; dass dies so geschehen musste, beweist er [d.h. Paulus] wiederum aus den Sprüchen der Propheten.“
Andererseits versuchte Bucer, den Eindruck eines willkürlich handelnden Gottes zu vermeiden; er verwies deshalb auf die Zurückweisung und Kreuzigung Christi und machte die jüdische Missachtung des göttlichen Willens für ihre Verwerfung verantwortlich:
”Gott hat in seinem geheimen, aber gerechten Urteil beschlossen, in der Zeit des offenbarten Evangeliums die meisten aus dem Volk der Juden zu verwerfen. Und die Juden haben es durch ihren Unglauben und das Vertrauen auf die Werke so verdient.“
Bucer selbst war sich jedoch darüber im Klaren, dass eine exklusive Betonung der jüdischen Verwerfung, aber auch schon die jüdische Ablehnung des Evangeliums selbst, seine These von der substantiellen Einheit des Bundes in Frage stellen musste:
”Denn weil man den Juden als einzigen zutraute, die wahre Religion stets zu befolgen, und Christus ihnen eigens verheißen worden war, verunsicherte es die meisten aus den gottesfürchtigen Völkern [...], dass keine anderen Menschen den Herrn Jesus so sehr verfluchen und so rasend verfolgen [...] wie die Juden [...]. Es schien nämlich nicht mit der göttlichen Güte zusammenzupassen, dass Gott dieses Volk, dem er sich beginnend mit dem Stammvater Abraham im Unterschied zu allen Völkern der Welt durch so vorzügliche und fortwährende Wohltaten hingegeben hatte, nun derart fallen lässt und aufgibt, so dass er ihnen – anders als allen ande ren Menschen – seinen Christus vorenthält.“
In seiner Auslegung von Röm 9-11 versuchte Bucer, dieses theologische Problem auf folgende Weise zu lösen: Er verwies zunächst darauf, dass die Verheißungen Israels nur den Erwählten gegolten hätten, nicht aber automatisch allen leiblichen Nachkommen des jüdischen Volkes. Von den Juden seien vielmehr nur einige wenige auserwählt. Dieser erwählte Rest bilde die heilige Wurzel des Ölbaumes (”radix electionis“), dem die heidenchristliche Kirche eingepfropft sei.
Sodann hob Bucer hervor, dass die übrigen Juden verblendet seien, um den Heiden einen Weg in die Gemeinschaft des Bundes zu eröffnen. Doch diese Verblendung sei nicht endgültig. Sobald sich die Vollzahl der erwählten Heiden zum christlichen Glauben bekehrt habe, werde schließlich auch ganz Israel errettet:
”Diese Verwerfung der Juden verhält sich nicht etwa so, als ob alle ohne Ausnahme verworfen sind oder die Hoffnung vergeblich ist, dass einst erneut ein besonderer Teil dieses Volkes den bis dahin nur von einem sehr geringen Überrest aufgenommenen Christus anerkennt. [...] Dieser Überrest ist freilich sehr schmal, denn es musste erfüllt werden, was über die Verblendung der Juden vorhergesagt ist – dieser Überrest also ist von der Art, dass durch ihn die Gemeinschaft des Heils zu den Völkern gelangt ist. [...] Sobald die Zahl der Heiden, die Gott ja festgelegt hat, angefüllt sein wird, werden auch die Juden wieder eingesetzt.“
Mit Paulus stellte Bucer hier also die Verstockung Israels in den Dienst der Heidenmission und ging von einem Rest erwählter Juden aus mit der Perspektive einer endzeitlichen Wiederannahme ganz Israels. Dadurch konnte er den Eindruck eines Bruchs zwischen Altem und Neuem Bundesvolk vermeiden und an seiner These der substantiellen Einheit des Bundes festhalten.
In diesem Zusammenhang wehrte sich Bucer gegen die Vorstellung, die Wiederannahme ganz Israels (Röm 11,26) beziehe sich bereits auf das neue Gottesvolk aus Juden und Heiden. Bucer hielt demgegenüber fest, dass mit ”ganz Israel“ das gesamte jüdische Volk gemeint sei:
”Sobald nämlich die Fülle der Hei den zu Christus gelangt sein wird [...], wird auch ganz Jisrael, d.h. das ganze Volk, errettet wer den und das Reich Gottes bei ihnen abermals öffentlich zur Blüte gelangen, obwohl es ihnen auch dann nicht an Verworfenen fehlen wird.“
Durch den Hinweis auf die Verworfenen inner halb des geretteten(!) Israel wird allerdings deutlich, dass Bucer keineswegs schon die endgültige Errettung des gesamten jüdischen Volkes vor Augen hatte. Er dachte offenbar nur an eine Phase kurzzeitigen Wiederauflebens der Königsherrschaft in Israel vor dem endgültigen Gericht. Er betonte zwar, ”wenn ganz Jisrael errettet werden soll, dann ist es dazu vorher [auch] erwählt worden.“ Doch in seinen An gaben zu der Frage, wie viele Juden letztlich errettet würden, schwankte Bucer zwischen plerique (die meisten)
und pauciores (recht wenige).
Unbestritten dagegen war für Bucer, dass Gottes einstige Liebe zu seinem Volk nicht in einen ”göttlichen Antijudaismus“ umgeschlagen sei:
”Gott hat sein Volk nicht verstoßen, d.h. dass er das jüdische Volk, das ihm zuvor auf einzigartige Weise zu ei gen war, nun nicht hasst, so dass jemand Gott deshalb verhasst wäre, weil er Jude ist.“
Neben dieser ungebrochenen Treue Gottes zu seinem Volk war es vor allem der Blick auf die künftige Bekehrung der Juden, durch die Bucer das Verhältnis zum Judentum bestimmt sah. Infolgedessen hielt er es für unangebracht, die Juden verächtlich zu behandeln; vielmehr müsse man alles tun, um sie für den christlichen Glauben zu gewinnen:
”dass die Wurzel der Erwählung den Juden gehört und wir Völker ih nen sogar eingepfropft werden mussten, dass Gott entschieden hat, diese Wurzel schließlich in ihnen zu bewahren, bis er sich die Juden wiederherstellt durch eine äußerst vollständige Bekehrung. Deshalb also ermahnt er die Völker, nicht gegenüber den Juden überheblich zu wer den, sondern ihnen vielmehr zum Heil zu verhelfen.“
Doch diese missionarisch motivierte Haltung gegenüber dem Judentum war nur die eine Seite. Unter Berufung auf Röm 11,28 betonte Bucer, dass man die Juden nicht nur hochschätzen solle, sondern sie wegen ihrer fortgesetzten Feindschaft gegenüber dem christlichen Glauben auch in ihre Schranken weisen müsse:
”Deshalb sollen wir sie von uns fernhalten und sie zugleich hochschätzen, sie als Feinde behandeln und als Freunde, sie bekämpfen und begünstigen. Ersteres wegen ihres gegenwärtigen Un glaubens und wegen der Heiligen aus den Völkern, die sie mit so großer Hartnäckigkeit vom Gottesreich fernzuhalten suchen. Letzteres wegen der Erwählung, die ihnen bis heute bewahrt ist, und um der heiligen Väter willen, deren leibli cher Samen bis heute in diesem Volk überdauert.“
Im Unterschied zu Melanchthon, der den Juden keine heilsgeschichtliche Rolle mehr zubilligte, ging Bucer also von der endzeitlichen Errettung ganz Israels aus und hielt es deshalb für nicht angebracht, die Juden verächtlich zu behandeln; vielmehr müsse man alles tun, um sie für den christlichen Glauben zu gewinnen. Angesichts der eingangs genannten Urteile Josels von Rosheim überrascht auch dieses Ergebnis. Denn hier ist es eindeutig Bucer, der aufgrund seiner Schriftauslegung die Möglichkeit zu einer gewissen Toleranz gegenüber dem Judentum eröffnete. Der von Josel hochverehrte Melanchthon dagegen blieb der Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium verhaftet. Er war von der grundsätzlichen Verwerfung der Juden überzeugt und sah es als seine Aufgabe an, die ”jüdischen“ Auffassungen theologisch zu bekämpfen.
Die Frage ist nun, ob sich bei Bucer und Melanchthon aus diesem Unterschied in der theologischen Beurteilung des Judentum auch Unterschiede in der konkreten Haltung gegenüber Juden ergeben haben.
5. Bucers konkrete Haltung gegenüber dem Judentum
Zum Abschluss seiner Auslegung von Röm 9-11 deutete Bucer 1536 an, wie er sich das aus Röm 11,28 hergeleitete Nebeneinander von ”bekämpfen und begünstigen“ (s.o.) konkret vorstellte. In einer observatio zu Röm 11,26 kritisierte er die ”barbarische und gottlose“ Behandlung der Juden – insbesondere die widersprüchliche und willkürliche Rechtspraxis in den Territorien und die ”arbeitsrechtliche“ Benachteiligung der Juden. Vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten hätten schwer darunter zu leiden, dass die Territorialherren den Juden hohe Steuerforderungen auferlegten, die diese dann durch überhöhte Zinsforderungen an die Bevölkerung weiter leiteten.
Neben der unangemessenen Bedrückung der Juden kritisierte Bucer aber auch, dass reichere Juden in einigen Landregionen ihre wirtschaftliche Vormachtstellung ungehindert ausüben könnten. Diese widersprüchlichen Bedingungen, denen die Juden ausgesetzt seien, wären keineswegs dazu angetan, ihre Bekehrung zu fördern. Vielmehr würden sie dadurch religiös und moralisch entfremdet.
Bevor man dafür von Gott zur Rechenschaft gezogen werde, sei es deshalb Aufgabe der christlichen Obrigkeiten, die Juden im Blick auf ihre Bekehrung zuvorkommend zu behandeln. Wenn sie aber hartnäckig bei ihrem Unglau ben blieben, solle man ihnen Gottes Fluch in Erinnerung rufen und sie zu Tätigkeiten an halten, bei denen sie niemanden mehr in wirtschaftlicher oder religiöser Hinsicht schaden könnten. Auf diese Weise sollten sie zur Annahme des christlichen Glauben gedrängt werden.
Diese Äußerungen Bucers in seiner observatio argumentierten vor dem Hintergrund einer möglichen Bekehrung der Juden. Für den Fall aber, dass die Juden sich diesem christlichen Anliegen verweigerten, ließ Bucer deutlich erkennen, dass er härtere Maßnahmen für nötig hielt. Schon in einigen seiner früheren Schriften ließ er daran keinen Zweifel. In seinem Bericht auß der heyligen geschrift von 1534 und in seinen Dialogi von 1535 gab Bucer z.B. zu verstehen, dass er das Judentum in religiöser und ökonomischer Hinsicht als eine Gefahr für die christliche Bevölkerung betrachtete. Entsprechend seinem Verständnis der Respublica Christiana drängte er darauf, die Juden als Ungläubige aus dem christlichen Gemeinwesen auszugrenzen. Sie sollten von den öffentlichen Ämtern und der Gemeinschaft des bürgerlichen Lebens ausgeschlossen
bleiben.
Wenn Bucer sich dennoch bereit zeigte, die Juden aufgrund ihrer biblischen Wurzeln zu dulden, dann nur zum Zwecke ihrer Missionierung und nur unter harten Bedingungen. Vor allem forderte er, ihre Erwerbstätigkeit auf die Sicherung des Existenzminimums zu beschränken und ihrer religiösen Betätigung enge Grenzen zu setzen. Für den Fall, dass Juden Christen in ihrem Glauben verunsicherten oder bloßstellten, drohte er mit Enteignung und Vertreibung.
Vor diesem Hintergrund sind die harten Maßnahmen, die Bucer 1538 in seinem Judenratschlag empfahl, keineswegs überraschend. Dieser Ratschlag wurde im wesentlichen von Bucer ausgearbeitet und stellte einen Kompromiss dar zwischen der Duldungsabsicht des Landgrafen und den hessischen Geistlichen und Zünften, die von einer Duldung abrieten. Die vorgeschlagenen Maßnahmen basierten auf der Grundannahme Bucers, dass die Obrigkeit im Dienste der wahren Religion alle Ungläubigen aus der Respublica Christiana auszugrenzen habe.
Der Judenratschlag kam zu dem Ergebnis, dass von der jüdischen Gemeinschaft zahlreiche Gefahren ausgehen würden – vor allem für är mere und ungebildete Kreise. Genannt wurden z.B. Wucher, Betrug, Bestechung, Proselytenmacherei, Lästerung und Verunsicherung des christlichen Glaubens. Angesichts dieser Gefahren betrachtete der Ratschlag die Vertreibung der Juden als angemessene Lösung; nur unter härtesten Bedingungen sei überhaupt eine Duldung zu verantworten. U.a. forderte der Ratschlag die Heranziehung der Juden ”zu den aller nachgultigsten, müheseligsten vnd vnge wenlichsten Arbeithen, alß da sein der Berkknappen arbeit, [...] kolbrennen, schorn stein vnd kloagkh fegenn, wasenmeister sein [=Tier kadaver beseitigen] vnd der gleichenn“.
Der Gedanke einer möglichen Bekehrung ganz Israels (Röm 11,26) wurde im Judenratschlag aufgegeben, und die auf Röm 11,28 beruhende ambi valente Haltung (s.o.) wurde aufgelöst zugunsten einer religiösen und ökonomischen Repression der Juden. Galt es bisher, die Juden durch Strafandrohung von ihrem gotteslästerlichen Tun abzuhalten und sie durch besondere Wohltaten für den christlichen Glauben zu gewinnen, so bestand nun die besondere ”Wohltat“ darin, sie durch Strafmaßnahmen zum christlichen Glauben zu drängen:
”Ist jemand von denen, die straff verdienen, zu bekeren, so fördert ihn die straffe dazu. Ist jemand nicht zu bekeren, so thut man ihm doch mit der straffe so fil liebs und guts, das man im weh ret, sich selb und andere weiter zu verderben.“
Zwar betonte Bucer noch, dass die Juden aufgrund ihrer Herkunft und im Blick auf ihre künftige Bekehrung besser behandelt werden sollten als die anderen Ungläubigen. Und er verwies darauf, dass alles im Rahmen der ”Liebe“ und des geltenden Rechts zu geschehen habe. Doch oberstes Prinzip war für ihn nun, dass es keinem Ungläubigen besser ergehen dürfe als dem allerärmsten Christen:
”Ist uns dann ein ursach, die Juden zu lieben, das Christus von ihnen geporen ist nach dem fleisch [...], war umb ist uns nicht fil ein grösser ursach, die Christen zu lieben, die [...] der Herre [...] mit seinem theuren blut erkauffet und gnädiglich uffgenommen hat?“ ”warlich, bei recht gotseligem regiment müssen allemal die haußgenossen des glaubens ein vorteyl und die verechter des glaubens ein nachteyl haben [...]. Wie fil onschuldiger, frommer bauern vnd ander leut sind fro, wenn sie allein das be kommen möchten, das wir noch den Juden wolten zugeben.“
Vor dem Hintergrund einer Auslegung von Röm 11, wie sie Bucer selbst noch 1536 auf der Basis der Bundeseinheit vorgelegt hatte (s.o.), ließen sich derart repressive Maßnahmen natürlich nur schwer rechtfertigen. Selbst der Landgraf Philipp von Hessen hielt die Maßnahmen des Ratschlags für überzogen und verwies dazu auf Röm 11 und die Verheißung des erneuerten Bundes in Jer 31.
Bucer war deshalb genötigt, die Forderungen des Ratschlags biblisch-theologisch ab zusichern. Zu diesem Zweck relativierte er seine bisherige Auslegung von Röm 11 und verwies auf die traditionell antijüdisch gedeuteten Passagen des Neuen Testaments (Mt 3,7; 12,34; 16,4; 23,33; Joh 8,41-44; Act 13,45-51; 28,23-28; Röm 2,28f; 9,6-13.31-33; 10,3.19-21; 11,7-10.19f; 2 Kor 3,6-18; Gal 4,21-31; Hebr 8,13).
Das zentrale Argument seiner Überlegungen aber ergab sich nun aus der Fluchandrohung von Dtn 28. In diesem alttestamentlichen Text sah Bucer eine Handlungsanweisung für den Umgang mit Juden: Da sie Christus ermordet und die Kirche verfolgt hätten, seien die Juden als Feinde des Evangeliums von Gott verworfen. Deshalb sei es Aufgabe der christlichen Obrigkeit, den alttestamentlichen Fluch an ihnen zu vollstrecken, und d.h.
”das sie bey den vol kern, bey denen sie wonen, die vnderstenn vnd der schwanz sein vnd am aller herttestenn gehalten werden sollenn [vgl. Dtn 28,43f]“.
Diese schroffen Aussagen lassen wenig übrig von dem Exegeten Bucer, der auf der Basis der Bundeseinheit die bleibende Erwählung der Juden behauptet hatte. Auch von der Forderung, die Juden im Hinblick auf eine mögliche Bekehrung nachsichtig zu behandeln, ist Bucer in seinen Äußerungen zum Judenratschlag deutlich abgewichen.
Die Gründe für diesen ”Wandel“ Bucers sind vielfältig. Zu nennen sind hier zum einen die Rezeption antijüdischer Schriften und die Berücksichtigung hessischer Interessengruppen. Zum anderen ist das Auftauchen ”judaisierender“ Irrlehren (Antitrinitarier, Sabbatarier, Chiliasmus) von Bedeutung sowie die zunehmende soziale Polarisierung in der Bevölkerung zu Beginn der dreißiger Jahre. Vor allem der letzte Punkt scheint für Bucer entscheidend gewesen zu sein. Denn in den dreißiger Jahren beschäftigte er sich zunehmend mit den sozialen Folgen des Wuchers und ver wies immer wieder auf die Gefahren, die die gängige Praxis für ärmeren Bevölkerungsschichten mit sich brächte.
Das Beispiel Bucers zeigt also, dass das Verhältnis zum Judentum in der Reformationszeit keineswegs allein auf der Basis theologisch-exegetischer Erkenntnisse bestimmt wurde. Vielmehr konnten exe getische Einsichten von antijüdischen Traditionen überlagert und den praktischen Erfordernissen und Interessen untergeordnet werden. Das oben genannte Urteil Josels von Rosheim, dass ein begnadetes Schriftverständnis für das positive Verhalten gegenüber dem Judentum mitverantwortlich sei, findet also zumindest bei Bucer keine Bestätigung. Auch im Blick auf Melanchthon wird sich das Urteil Josels als nicht zutreffend erweisen.
6. Melanchthons konkrete Haltung gegenüber dem Judentum
In seiner Trostschrift hatte Josel von Rosheim den hessischen Juden ”den hochgelerten Dr. Philippum Melancton“ als hoffnungsvolles Beispiel auf christlicher Seite vor Augen geführt. Auf der Frankfurter Fürstenversammlung hatte Melanchthon nämlich 1539 den Justizskandal beim Brandenburger Hostienschändungsprozess von 1510 aufgedeckt. Josel konnte daraufhin eine Wiederaufnahme der Juden in Brandenburg erwirken (s.o.). Betrachtet man jedoch die theologische Beurteilung des Judentums durch Melanchthon, so lassen sich keinerlei Anhaltspunkte finden, die Melanchthons Handlungsweise auf der Frankfurter Fürstenversammlung erklären könnten.
Für Melanchthon waren die Juden ein verworfenes Volk, deren Anschauungen es theologisch zu bekämpfen galt. Deswegen ist es zunächst wenig einsichtig, warum er sich in Frankfurt (indirekt) für die Duldung von Juden eingesetzt hat. Schaut man zudem auf eine Äußerung Melanchthons, die er im Zusammenhang mit der hessischen Judenordnung gemacht hat, so dürfte dies das Urteil Josels weiter in Zweifel ziehen.
Aus dem Gespräch mit dem hessischen Hofprediger Dionysius Melander ist nämlich eine Notiz erhalten, in der sich Melanchthon kritisch über den hessischen Beschluss zur Duldung von Juden äußerte:
”Als in Hessen die Juden wieder aufgenommen wurden und ich zu Dionysius [Melander] sagte: Warum ratet ihr nicht von einer Annahme der Juden ab?, antwortete er: Ich vermag durch meinen Rat nichts zu bewirken, weil [...] die Hände des Fürsten mit dem Gold der Juden gesalbt sind.“
Diese Notiz stammt zwar nicht direkt aus der Feder Melanchthons, sondern aus einer Sammlung von Anekdoten aus seinen Vorlesungen, dennoch dürfte die Äußerung Melanchthons hier zutreffend wiedergegeben sein. Denn Melander war neben Bucer maßgeblich an der Diskussion um die Judenordnung beteiligt, und Melanchthon hatte mit ihm im Vorfeld der Verhandlungen zum Frankfurter Anstand (19.4.1539) intensiv zusammengearbeitet. Zum Zeitpunkt von Melanchthons Aufenthalt in Frankfurt a. M. (12.2.-20.4.1539) wurde außerdem zwischen den Hofpredigern, den hessischen Juden und Bucer heftig über die neue Judenordnung gestritten.
Deshalb ist es nur wahrscheinlich, dass auch Melanchthon und Melander über die Duldung von Juden gesprochen haben. Und offensichtlich stand Melanchthon der Duldung von Juden skeptisch gegenüber. Dieser Eindruck wird bestätigt beim Blick auf Melanchthons Äußerungen zu den späten Judenschriften Luthers. Überraschenderweise hat Melanchthon die beiden schärfsten Judenschriften Luthers sogar persönlich an Landgraf Philipp von Hessen übersandt. In seinem Begleitschreiben vermerkte er, dass Luthers Von den Jüden und iren Lügen ”wahrlich viel nützlicher Lahr [= Leh re]“ enthalte; und Luthers Vom SchemHamphoras übersandte er dem Landgrafen, damit dieser sehe, ”was jetzund seine [d.h. Luthers] Arbeit ist“.
Diese Büchersendungen an Philipp von Hessen können keineswegs als nebensächliche oder gar absichtslose Aktionen gewertet werden. Denn Melanchthon wusste, dass Juden in Hessen seit der Judenordnung von 1539 – wenn auch unter härtesten Bedingungen – geduldet wurden; und er konnte weder erwartet noch gehofft haben, dass die harten antijüdischen Maßnahmen, die Luther von den Obrigkeiten einforderte, den Landgrafen unbeeindruckt lassen würden. Insofern ist es nicht überraschend, dass sich der Landgraf im Januar 1543 bei Luther für die Zusendung der ersten Judenschrift bedankte und sich im April 1543 dazu ent schloss, die Judenordnung weiter zu verschärfen.
Aufgrund der Äußerung gegenüber Melander und der Übersendung der Judenschriften an Philipp von Hessen kann deshalb davon ausgegangen werden, dass Melanchthon das grundsätzliche Anliegen Luthers geteilt hat, nämlich von einer Duldung der Juden abzuraten. Auch hinter der Aufdeckung des Brandenburger Justizskandels dürfte sich keine Sympathie für jüdische Belange verbergen, sondern zwei grundsätzliche Anliegen Melanchthons: Zum einen seine an Recht und Gesetz orientierte Grundhaltung, die ihn ungerechtfertigte Vorwürfe kritisch prüfen ließ. Zum anderen dürfte die antirömische Frontstellung auf der Frankfurter Fürstenversammlung von Bedeutung gewesen sein. Am Beispiel des Justizskandals konnte Melanchthon die Skrupellosigkeit des katholischen Klerus unter Beweis stellen, der selbst vor dem Tod unschuldiger Juden nicht zurückschreckte.
Auch wenn Melanchthon – anders als es das Urteil Josels vermuten ließ – von einer Duldung der Juden eher abgeraten hat und seine Schriftauslegung kaum Wege einer Verständigung zwischen Juden und Christen eröffnete, so muss doch unterstrichen werden, dass Melanchthon im Unterschied zu Luther und Bucer sehr viel zurückhaltender war, wenn es darum ging, aus seiner theologischen Überzeugung konkrete antijüdische Maßnahmen abzuleiten. Ja, es ist vielmehr zu beobachten, dass sich Melanchthon abgesehen von den genannten Punkten an einigen Stellen dem Antijudaismus seiner Zeit verwehrte.
So stand er z.B. im Kampf gegen die Verbrennung jüdischer Bücher eindeutig auf Reuchlins Seite. Und als ihm 1556 berichtet wurde, dass einige Brandstifter in Polen, Russland und Schlesien gestanden hätten, von Türken und Juden dazu angestiftet worden zu sein, bezweifelte er den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht. Seiner Einschätzung nach war es durchaus üblich, dass Angeklagte die Verantwortung für ihre Straftaten auf andere abzuwälzen suchten. Bemerkenswert ist außerdem, dass Melanchthon an den zahlreichen Stellen, wo er sich über die Missstände im Geldgeschäft äußerte, weder auf den ”jüdischen Wucher“ zu sprechen kam noch dagegen polemisierte.
7. Ausblick
Die vorliegende Untersuchung stellte implizit die Frage, ob aus dem oberdeutsch-schweizerischen Ansatz der Bundeseinheit und der Wittenberger Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium eine je spezifische Haltung gegenüber dem Judentum abzuleiten ist. Die Frage muss aufgrund der gewählten Beispiele Melanchthons und Bucers verneint werden. Weder die ”Lutheraner“ noch die ”Reformierten“ hatten durch ihre konfessionsspezifischen Eigenarten eine feste Vorgabe für ihr Verhältnis zum Judentum.
Bucer wich von dem vorgezeichneten Weg seiner Exegese des Römerbriefes ab und schlug aufgrund der genannten Faktoren einen dezidiert antijüdischen Weg ein. Bei Melanchthon hat die antijüdische Struktur seiner Israel-Lehre keineswegs zu einer dezidiert antijüdischen Haltung geführt. Die maßgebenden Gründe für das positive Verhalten gegenüber dem Judentum lagen im 16. Jahrhundert also keineswegs im begnadeten Verständnis der Heiligen Schrift, wie Josel von Rosheim vermutete, sondern offensichtlich in Faktoren, die außerhalb der Theologie zu suchen sind.
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Zuerst veröffentlicht in: Achim Detmers / J. Marius J. Lange van Ravenswaay
(Hgg), Bundeseinheit und Gottesvolk. Reformierter Protestantismus und Juden-
tum im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, Wuppertal 2005, 9-37.
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Beachten Sie für Quellenangaben die beigefügte PDF!Achim Detmers
Achim Detmers, Martin Bucer und Philipp Melanchthon und ihr Verhältnis zum Judentum. pdf >>>