Wortklauberei
Glaubenssachen
Frage
Er kann den schönsten Moment verderben, die beste Stimmung einer Gruppe, die meisterhaft erzeugte Spannung im Film, dieser unsägliche Satz: Alles wird gut. Er ist wie der Stöpsel, der nicht passen will, nachdem ich die Matratze aufgeblasen habe und mich, etwas überventiliert, aufs Sonnenbad freue. Er lässt aus jeder noch so gut erzählten Geschichte die Stimmung raus. Er verdirbt wie ein Tropfen Galle den gekonnt tranchierten Fisch. Ein Film, in dem plötzlich dieser Satz fällt, ist für mich gelaufen. Despiriert schalte ich ab.
Typischerweise fällt er genau, wenn die Kacke am Dampfen ist, alles aussichtslos und völlig verkarrt. Meine Gefühle gehen mit der Protagonistin, die nicht mehr ein noch aus weiss, doch dieser dumme Spruch, tausendfach gehört, katapultiert mich raus, wohin ich nicht will.
Er ist Inbegriff von literarischem Kitsch. Auf einem Buch steht er, dessen dottergelber Grund mit Blümchen übersät ist, in Schnürlischrift auf eine Etikette geschrieben, an ein Geschenk zu hängen. Eine Broschüre mit Sprüchen zur Aufmunterung: Du schaffst das, finde Kraft für jeden Tag, unendlich viel Glück für dich. Die Fernsehkategorie Herzschmerz bietet ihn an Wochenenden so sicher wie die Kirche das Amen.
Kitsch versammelt Richtiges am falschen Ort, um Gefühle zu manipulieren. Er ist ein emotionaler Übergriff. Dotter erinnert an das gute Frühstück mit Ei, Blümchen an frisch erblühte Wiesen im Frühling, Schnürlischrift an unbeschwerte Kinderjahre, Geschenkdesign an Geburtstag. Alles für sich gut und wahr, giftig aber in der suggestiv gesteuerten Kombination. Kitsch ist ein verlogenes Ensemble. Er dekoriert.
Nichts wird gut, wenn die Scheidung unvermeidlich ist, die Diagnose terminal, die Kündigung unwiderruflich, die Sucht tief. Einem, der im Sumpf sitzt, vom gepflasterten Weg aus zuzurufen, alles werde gut, ist Verhöhnung von Trost, seine Perversion, Unrat statt Rat. Ist Gott gespielt statt Mensch gewesen!MK
Ob sie demnächst wohl mit dem verdorren, der sie seit vier Jahren zu ungeahnter Blüte gebracht hat, die fake news? Zu meiner Überraschung führt der etymologische Weg von fake dorthin, wo auch er, sein Name werde vergessen, seine Wurzeln hat: in südliche deutsche Lande. Die Sprache der Gauner scheint fake seit dem Dreissigjährigen Krieg nach England getragen zu haben. Im Deutschen gibt es fegen noch immer, und wer theologisch etwas auf sich hält, kennt das Fegefeuer.
Fegen bedeutet reinigen und säubern, aber nicht nur der Sauberkeit und Hygiene wegen, denn es kann auch schönen und blenden bedeuten, nämlich der Ausschmückung und Verführung wegen. Im Züridütsch ist Fäägete die Putzerei und der Schlingel ein Fääger. Eindeutig positiv ist nur das Fegefeuer, denn es dient der Reinigung, um dereinst putzt und gstreelet vor dem Jüngsten Gericht zu erscheinen.
Fake news sind demnach geschönte Nachrichten mit aufpolierten Wahrheiten, ein trompe-l’œil der Kommunikation und die Illusionsmalerei der Demagogen. Imperiale Propaganda und feudale Zensur haben das immer schon getan. Im Westen nichts Neues! Neu ist nur, dass eine Republik mit Stolz auf ihre Demokratie das Wort promoviert, um aus gezielter Vernebelung Nutzen zu ziehen. Gut geblendet ist halb erblindet. Darin liegt der Schaden: Der Blender wird gehen, wenn er Glück hat, zunächst ins Fegefeuer, die Erblindeten aber bleiben.
MK
Kaum hat man mal nicht hingeschaut, lauert wieder irgendein Zeitgeist im Gebüsch. Woher ist er gekommen? Aus Aladins Flasche, wo er eingesperrt war, weil er aufmüpfig gewesen war? Welche drei Wünsche erfüllt er? Ist er dienstbar oder herrisch? Geistert in ihm die Zeit, oder zeitigt sich in ihm ein Geist?
Einen genius als bestimmenden Ahnengeist oder bewahrenden Schutzgeist hatte in der Antike jeder Mann. So ist er als bezaubernder nackter Jüngling der unsichtbare Lebensbegleiter, der aus manch einem ein Genie werden lässt und den viele, sogar Frauen, denen er fehlt, genial finden. Der Engel der Christen verdankt ihm seine Flügel, die alle Jahre wieder durch verschneite Lande flattern. So sehr konnte er nicht nur Männer sondern auch deren Wirkungsstätten prägen, dass er zum genius loci aufstieg. Orten gab er ihre Ausstrahlung über Jahrhunderte, bis esoterische Wünschelruten sie als Kraftorte wiederentdeckten.
Einen genius saeculi aber gibt es erst seit deutschem Sturm und Drang, und seit es diesen Zeitgeist gibt, hört der Streit nicht auf, ob er Fluch und Todesengel ist oder Segen und Lebensglück. Immerhin heisst der römische genius bei den Griechen daimon! Unterbindet er eigenes Denken oder inspiriert er es? Ist er objektiv oder imperativ, borniert oder libertär, genial oder dämonisch? Wes Geistes Kind ist, der einem Zeitgeist frönt?
Ich für meinen Teil brauche ihn nicht. Als bezaubernden Jüngling von genialen Bildhauers Hand finde ich ihn geil, auch als Reigen seliger Geister, unter dem ich mir lachende, dralle, nackte Barockengelchen vorstelle, putti, die des zelebrierenden Priesters Herz erquicken. Nein, als Feminist brauche ich Zeitgeister grad gar nicht, hol sie der Teufel!
MK
Viele träumen ihn und drängen ihren Traum in den Alltag. Andere ignorieren ihn, weil sie sich bedroht fühlen wie von eigenen Träumen, die sie auch lieber vergässen. Der Traum von einer gerechten Sprache hat sogar zu einer eigenen Übersetzung der Bibel geführt. Ist das sinnvoll?
Nein, denke ich. Sprache kann gar nicht gerecht sein! Ihre Einzelteile entstehen nicht in derselben Epoche wie eine Verfassung. Ihre Zusammensetzungen sind nicht revidierbar wie Gesetze. Ihre Nutzer halten sich nicht an schriftliche Verordnungen. Sprache entsteht über Jahrhunderte. Wörter spiegeln längst vergangene Epochen. Bevor sie zu Grammatik und Orthographie gerinnt, hat sie lebendige Geschichte mündlicher Nutzung hinter sich. Ihre Wege sind krumm. Es gibt keinen normativen Idealzustand von Sprache, den man einfrieren könnte, um fortan nur noch gerecht zu sprechen.
Nein, Gerechtigkeit ist kein sinnvolles Kriterium im Umgang mit Sprache, aber Sensibilität oder Empfindsamkeit. Es ist weder sensibel, männlich daherzureden, wenn beide Geschlechter betroffen sind, noch empfindsam, nach einem Führer zu rufen, wo gerade einer Leben vernichtet hat. Fehlen Sensibilität und Empfindsamkeit, so helfen auch modische Wortmonster aus wohlmeinenden Sprachlaboren nichts. Auch wird kein Stern je leuchten, über den man beim Lesen stolpert.
Sprache lebt so schräg und gerade, so gekonnt und schrill wie wir. Aber in ihr leben auch alle vor uns. Abgrund und Horror lauern in ihr, aber auch Glück und Seligkeit. Im Gehäuse der Sprache finde ich Heimat. Ich kann ebenso schuldig werden wie versöhnen. Auch dichten und beten. Wer spricht und dabei auch etwas sagt, kennt die Bitte: Herr, vergib mir, denn ich habe nicht gemerkt, was ich gesagt habe!
MK
Sie sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen, sagt die Alleinerziehende, und Erleichterung ist ihrer Stimme anzuhören. Wo war sie denn vorher? Am Rand? Ich lese und höre die Wendung täglich. Doch, wo liegt die Mitte der Gesellschaft? Ein Stadion kommt mir vor Augen, in der Mitte der Punkt, wo das Spiel beginnt, und auf allen Seiten vollbesetzte Tribünen, wo frenetisch applaudiert wird. Liegt sie dort?
Politisch gibt es sie seit den Siebzigern: Seither drängen sich vor einer Wahl alle Parteien, jede als Partei der Mitte, genau dort, stehen sich gegenseitig auf den Füssen und profilieren sich, indem sie Parteien am rechten und linken Rand diffamieren. Soziologisch gibt es sie auf der Karte der Lebenswelten: Überall in Mitteleuropa repräsentiert die bürgerliche Mitte das grösste Milieu. Geographisch ist sie ausgemessen: Die Mitte der Schweiz liegt seit 1988 auf der Älggi-Alb in Obwalden. Wo aber ist die Mitte der Gesellschaft?
Es geht um Anerkennung, denke ich: Vom vernachlässigten Rand zur Mitte hin steigt sie. Um Wahrnehmung: Aller Augen ruhen auf dem Zentrum, Peripherie ist quantité négligeable. Um Ankommen: Bin ich mal dort, bin ich endlich wer. Scheinwerfer und Kameras, die Aufmerksamkeit der Nation, sind auf den Anstosspunkt gerichtet. Wer dort nicht ist, spielt nicht mit.
Das allerdings ist nicht biblisch, nicht demokratisch, nicht schweizerisch, sondern anstössig! Die Qualität des echten David erweist sich an seiner Sorge für Randständige. Demokratie lebt vom Ausgleich zwischen Peripherie und Zentrum. Die Schweiz ist stark in ihrer Vielfalt. Die Mitte aber ist, wenn das Spiel abgepfiffen ist, bald wieder eine trostlose Einöde.
MK
Ist schon gut, was du da geschrieben hast, aber auch etwas elitär. Mit dieser Doppelbotschaft stehe ich immer wieder mal im Regen. Honig ums Maul und eine Schelle auf der Backe. Ärger vergällt Freude. Die Frage bleibt, inwiefern elitär denn negativ ist.
Einmal sah ich eine Dokumentation über die Subkultur von Bettlern in New York. Sie zeigte grosse Unterschiede auf zwischen solchen, die wissen, wie sie schnell zu Dollars kommen, und anderen, die meistens leer ausgehen. Es gebe auch unter ihnen eine Elite. Da spitzte ich die Ohren, denn so verwendet hatte ich das Wort kaum je gehört.
Es kommt vom lateinischen eligere für auslesen und ist über französisches élire für auserwählen ins Deutsche gelangt. Auslese als Prädikat von Qualitätsweinen ist positiv besetzt: Es gibt eine Elite unter Weinen. Auserwählte hingegen sind eher negativ besetzt: Sie werden als arrogante Minderheit empfunden, wenn es um Religion geht, gar als Sekte. Während der Französischen Revolution war élite der soziologische Begriff für solche, die ihre gesellschaftliche Bedeutung nicht geerbt hatten wie beim Adel, sondern durch eigene Anstrengung erarbeitet.
So allerdings ist elitär ein beschreibendes Attribut, das weder urteilt noch ständisch oder intellektuell reserviert ist: Unter Bettlern gibt es eine Elite wie unter Bauern, Metzgern, Händlern, Soldaten. Die Tatsache, dass jemand Professor ist, reicht nicht, ihn zur Elite zu zählen. Am wenigsten genügt, männlich zu sein! Elitär heisst, auf irgendeinem Gebiet zu den Besten zu zählen. Genau so blüht eine Gesellschaft: mit ihren Eliten auf allen Gebieten, und brain drain lässt sie welken. Welkt Kirche deshalb?
MK
Das deutsche Bundesverfassungsgericht urteilt, Staat und Gesellschaft hätten Selbstmord als Akt autonomer Selbstbestimmung zu respektieren, und daher müsse Sterbehilfe möglich sein. So entsteht demnächst ein neues Wort, das klingt wie ein Beruf: Suizidassistenz. Ein herrliches Beispiel für die Paradoxie der Postmoderne!
Die alles dominierende Freiheit, the liberty of choice, von freier Marktwirtschaft übertragen auf die ganze Lebensführung und von religionsbefreiter Ethik unter den Superwert der Autonomie gestellt, gaukelt vor, auch gegenüber dem Leben selbst habe der Mensch diese Freiheit. Als ob es ihm gehörte! Nein, Tod und Leben selbst sind die Fremdbestimmung schlechthin, eine fremdere gibt es nicht. Ohne mein Zutun bin ich mir ins Leben getreten, und ohne mein Zutun nimmt mich der Tod mir weg. Er ist die Heteronomie schlechthin, an der jede Autonomie scheitert. So wenig selbstbestimmt bin ich angesichts des Todes, dass ich, herrlich paradox, womöglich einen Suizidassistenten brauche, um auch noch die letzte liberty of choice wahrzunehmen …
Theologie hat die Aufgabe, weder die Heteronomie einer autoritären Kirche zu vertreten, die einfach dekretiert, was geht und was nicht, noch die Autonomie einer hybriden Epoche, die meint, Herrin über Leben und Tod zu sein, sondern dialektisch eine reflektierte Theonomie: Sie aber sagt, dass Leben und Tod unverfügbar sind, also auch nicht wählbar. Genau das ist beider Würde! Wie Hiob versteht sie Gott als Gebenden und Nehmenden, ohne deshalb aber den Suizid zu verteufeln: Doch, es ist möglich, dass ich lebenssatt bin und also auf Essen und Trinken verzichte. Dafür brauche ich keinen Sterbeprofi, und ich respektiere die Würde, die Leben und Tod haben, weil sie unverfügbar sind. Glücklich, wer das kann.
MK