5. Mose 7,6-11 am 6. Sonntag nach Trinitatis

Wie sollen wir wissen, was gilt?

eine Predigt von Gudrun Kuhn, Nürnberg

6Denn du bist ist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, er­­­wählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. 7Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völ­ker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –, 8sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hiel­­­te, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat er euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägyp­­ten. 9So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und sei­­ne Gebote halten, 10und ver­gilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu ver­gel­ten ins Angesicht denen, die ihn hassen. 11So halte nun die Gebote und Ge­­­setze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust.
5. Buch Mose, 7. Kapitel, Vers 6-11

Lieder:
Die güldene Sonne (EG 444, Strophe 1) 
Lobe den Herren (EG 303, Strophe 1,3,6,7)
Preis, Lob und Dank sei Gott (EG 245, Strophe 1-4)
Wer kann dich, Herr, verstehen (EG 649, 1-4)

Liebe Gemeinde,

in der Psychologie nennt man eine solche Situation, in die uns die verlesenen Texte ver­set­zen, double-bind. Eine Bezugsperson, der wir vertrauen, weil wir ihr letztlich ausgeliefert sind, gibt uns gleichzeitig zwei völlig widersprüchliche Botschaften. Und nun wissen wir nicht, wie wir reagieren sollen. Die Gefahr, zu versagen, ist hoch. Also verkriechen wir uns in un­se­rer Angst und werden unfähig zu handeln. Oder wir tun das Falsche und müssen die Folgen ein­stecken. Oder wir verlieren das Vertrauen und sagen uns von dem los, was wir emo­tional so sehr brauchen.

Zwei Botschaften von Gott haben wir gehört, die widersprüchlicher nicht sein können.
Die Botschaft von Gott, der seine Feinde voller Hass vernichtet und seinen auserwählten König mit einem brutalen Sieg über seine Feinde belohnt.
Und die Botschaft von Gott, der von uns erwartet, dass wir unsere Feinde lieben. So sollen wir vollkommen werden wie er.
Sie kennen natürlich die landläufige Lösung des Problems. Alle Welt meint, die zu kennen, am lauthalsesten verbreiten sie diejenigen, die nie eine Predigt hören. Meine Schü­­­­ler im Ethik­unterricht zum Beispiel. Oder meine atheistischen Freunde. Sie alle wissen ganz genau, dass der Gott des AT ein rachedurstiger Tyrann ist, der im Christentum zu einem lieben Gott umgewandelt wurde. So einfach ist das. Und hat angeblich mit An­ti­se­mi­tis­mus gar nichts zu tun …

So einfach ist das nicht.
Ich denke, Sie haben gemerkt, warum ich das Lied 245 ausgewählt habe. Das kommt so harmlos daher, lobt Gott, dass er sich eine „ewge Kirch auf Erd […] von Anfang an erwählt“ hat, die er „schön erbauet als seine auserwählte Stadt“. Freilich nur für die, „die recht in dieser Kirche wohnen“ wie in einer Arche inmitten der bösen Welt. Die anderen wird „des Todes Flut“ nicht „verschonen“.
Sie können mit solchen Versen umgehen? Sie können das bildlich verstehen?
Aber machen Sie sich doch einmal klar, wie der Liederdichter 1566 das verstehen musste: „des Todes Flut“, das war die Hölle, die ewige Verdammnis, Folter in alle Unendlichkeit.
Da haben wir unseren christlichen lieben Gott! Der die einen erwählt und die anderen ver­wirft. Nein, von ihm heißt es nicht wie im Predigttext, dass er sie hier auf Erden umbringt und nicht säumt, denen ins Angesicht zu vergelten, die ihn hassen. Nein, der christliche Gott hat un­-endlich viel Zeit für seine höllische Rache. Und sagen Sie jetzt nicht, davon stünde nichts im Neuen Testament! Da muss man schon auf einem Auge blind sein, um ent­spre­chen­de Stellen zu überlesen.
Soviel zu der beliebten Rede von der humanitären Überlegenheit des christlichen Gottes gegenüber dem jüdischen.

Wir kommen also nicht weiter, wenn wir meinen, wir könnten ein Gottesbild des AT einfach er­setzen durch ein anderes, das uns vom NT her vertrauter ist. Wir können das nicht, weil es ein Gottesbild in der Bibel ohnehin nicht gibt. Nicht im AT und nicht im NT. Der größere Teil unseres Predigttextes z.B. malt uns ja gar keinen hassenden, son­dern einen liebenden Gott vor Augen, einen, der treu ist, einen der erlöst.

Also doch double-bind!
Wie soll man sich da auskennen?
Ist es nicht konsequent, sich von einem solchen Gott ganz abzuwenden. Und mit der ein­ge­spar­ten Kirchensteuer Om­ni­bus­pla­ka­te zu finanzieren mit der Aufschrift: Wahrscheinlich gibt es keinen Gott. Kein Grund zur Sorge. Genieße das Leben!

Wenn man mit der Predigt in einer solche Sackgasse gelandet ist, muss man sich auf den Text zurückbesinnen. Genau hinschauen. Möglichst auch den Kontext berücksichtigen.
Klar, habe ich gemacht.
Es wird Ihnen aber nicht gefallen.
Da steht im Abschnitt zuvor:

Wenn dich der Herr, dein Gott, ins Land bringt, in das du kommen wirst, es einzunehmen, und er ausrottet viele Völker vor dir her, die Hethiter, Girgasiter, Amoriter, Kanaaniter, Pe­ri­si­ter, Hewiter und Jebusiter, sieben Völker, die größer und stärker sind als du, und wenn sie der HERR, dein Gott, vor dir dahingibt, dass du sie schlägst, so sollst du an ihnen den Bann voll­strecken. Du sollst keinen Bund mit ihnen schließen und keine Gnade gegen sie üben […] (Mose 5, 7,1f.)

Der hier spricht, ist Mose. Und was er spricht, ist gewissermaßen sein Vermächtnis, das Ver­spre­chen der Herrschaft im verheißenen Land, das er selbst nicht mehr betreten wird.
Wer spricht?
Ganz bestimmt nicht Mose aus dem 13. Jahrhundert vor Christus. Wenn es ihn als historisch greif­­ba­­re Gestalt überhaupt gegeben hat! Das Buch Deuteronomium ist frühestens um 700 ver­fasst und nach dem Exil erweitert und ergänzt worden.
Und von einem mächtigen Großreich, wie es der Text darstellt, konnte zu keinem Zeitpunkt der israelitischen Geschichte jemals die Rede sein. Nicht einmal von einem einheitlichen Staat. Die meiste Zeit gab es nicht nur Konflikte mit den großen benachbarten Reichen, son­dern auch zwischen dem Nordreich und dem Südreich.
Aber warum dann diese kriegerischen Verheißungen? Warum die Hoffnung auf Ausrottung anderer Völker, die israelische Fundamentalisten heute noch so gerne wörtlich nehmen, um das Lebensrecht der Palästinenser zu leugnen.
Die Alttestamentler können das einleuchtend erklären.

Der JHWH-Glaube kam nicht urplötzlich für Abraham vom Himmel. Er hatte eine lange Ent­wick­lungs­ge­schichte. Und er stand jahrhundertelang in Konkurrenz zu anderen alt­orien­ta­li­schen Religionen. So mussten die alten Erzählungen von dem Gott, der sein Volk aus der Knechtschaft befreit und der mit der Gabe der 10 Gebote einen Bund mit ihm schließt, immer wieder neu formuliert und bestärkt werden. Natürlich griffen die Theologen dabei auf Mus­ter zurück, die ihre jeweiligen Zeitgenossen gut verstehen konnten.

Dass Gott alle Vorstellungen übersteigt, dass er nicht in Bilder gebannt werden darf, nicht in fi­­gürliche, aber auch nicht in sprachliche, ist eine richtige und wichtige Einsicht. Leider lässt sie sich jedoch nicht wirklich in die religiöse Praxis umsetzen. Jede Aussage über Gott ist zwangs­­läufig ein Verstoß gegen das Bilderverbot. Jede Aussage über Gott setzt den un­be­kann­ten Unvergleichbaren in einen Vergleich zu etwas Bekanntem.

Im Falle unseres Predigttexts war es ein Anliegen der Verfasser, Gott als absolut ver­läss­li­chen und treuen Vertragspartner darzustellen. Es gab ja angesichts der wechselvollen Ge­schich­te Israels durch­aus gute Gründe daran zu zweifeln.
Und wie ist ein absolut verlässlicher und treuer Bundespartner? Mindestens so wie der mäch­­­­­tigste bekannte Herrscher. Und das war der assyrische Großkönig. Auch er schloss Ver­­­­träge. Sie sind überliefert. Und er verwendet darin bis in den Wortlaut hinein genau die For­­­­­­mulierungen unseres Predigttexts: Segen für die, die ihn lieben und seine Gebote halten. Und Fluch für die, die ihn hassen. Wie könnte er denn anders seine Glaubwürdigkeit er­hal­ten, wenn er seinen treuen Un­ter­ta­nen nicht versprechen würden, dass er seine Feinde, die schließlich auch ihre Feinde waren, ver­nich­ten würde. Nur ein mächtiger Kriegsherr galt den Men­schen im alten Orient als zuverlässiger Bünd­nispartner.
Sollte Gott da hinter einem assyrischen Großkönig zurückstehen?
Natürlich ist dieser Gedanke falsch. Gott ist kein Großkönig im XXL-Format. Gott ist nicht wie. Gott ist anders.

Aber diese Erfahrung muss man erst immer wieder machen. Wer, wenn nicht die Juden, haben sie gemacht. Gott hat ja ihre Feinde nicht vernichtet.

Auch unsere Feinde vernichtet er nicht.
Und – seien Sie mal ehrlich – würden wir das nicht oft von ihm erwarten?

Wir werfen den alten Texten gerne vor, dass sie ein kriegerisches Gottesbild entfalten. Doch wer von uns hätte sich das nicht auch manchmal gewünscht? Dass Gott sich als Herr der Geschichte zeigt! Warum hat er das Stauffenberg-Attentat nicht gelingen lassen? Warum hat er Stalin am Le­ben ge­las­sen? Warum fährt er nicht drein mit heiligen Waffen und beendet den Krieg Gaddafis gegen das eigene Land?
Wünschen wir uns wirklich nie einen gewaltigen Gott? Werfen wir ihm nicht vielmehr ins­ge­heim vor, dass er tatenlos zusieht und kein treuer Bündnispartner ist für die, die Unrecht lei­den?

Und unversehens bin ich wieder in eine Sackgasse geraten. Wieder sagen mir meine atheis­ti­schen Freunde: Na siehste! Wahrscheinlich gibt es keinen Gott. Kein Grund zur Sorge. Genieße das Leben!

Freilich kennen die, die diesen Spruch formuliert haben, überhaupt nicht unser eigentliches Problem. Den double-bind. Die Schwierigkeiten, die wir mit der Schrift haben.
Letztlich geht es ja um die Frage nach der Offenbarung.
Was ist das für ein Gott, der sich in so vielen widersprüchlichen Facetten der Schrift zeigt? Ein kriegerischer Gott, der seine Feinde ausrottet. Ein mütterlicher Gott, der sein Volk trägt. Ein eifersüchtiger Gott, der nichts neben sich duldet. Ein gerechter Gott, der auf der Seite der Armen steht. Ein allmächtiger Gott. Ein gekreuzigter Gott.
Ja, was nun?
Wie sollen wir zwischen all dem die Wahrheit erkennen?
Die meisten Zeitgenossen wenden sich deshalb ja auch kopfschüttelnd ab. Wieder andere su­chen eine autoritär struk­tu­rier­te religiöse Gemeinschaft, die ihnen das Nachdenken ab­nimmt.
Wir Protestanten haben es da schwer. Von uns erwartet man, erwarten wir selber, dass wir die Bibel selbstverant­wort­lich lesen.
Calvin hat das so erläutert: Natürlich gelten die Bekenntnisse der alten Kirche. Natürlich gelten die Ka­te­chismussätze der reformatorischen Kirche. Aber sie gelten nicht starr an sich. Sie gelten je­weils so lange, bis sie durch die Schrift widerlegt sind. Vielleicht sollte man vor­sich­tiger sa­gen: verändert werden. Ecclesia semper reformanda, nennt er das. Eine Kirche, die immer wieder erneuert werden muss. Die Richtschnur, nach der man die Bibel lesen muss, ist die Bibel. Aber nicht als Buch aus toten Buchstaben, sondern als Buch, das beim Lesen stets neu entsteht.

Wir werden die Widersprüche innerhalb der Schrift nicht auflösen können in eine zeitlose all­ge­meine Lehre. Wir müssen uns ihnen in unserer jeweiligen Situation stets neu stellen und im Vertrauen auf den Heiligen Geist entscheiden, was uns hier und heute gesagt wird. Das kann man nicht alleine, sondern nur im Dialog mit anderen. Mit der Gemeinde. Mit den Lehrenden der Theologie. Mit den Liedern und Schriften unserer Tradition.

Dabei werden wir uns auch mutig von Aussagen trennen müssen, die wir für unangemessen hal­­ten. Seien es die heute besprochenen Bilder eines kriegerischen Gottes. Seien es die Äuße­­run­gen von Paulus zur Homosexualität. Wir sollten dies allerdings tun im Respekt ge­gen­­über denen, die nicht leichtfertig, sondern durchaus im Ringen um die Wahrheit ihre Glau­bensentscheidung getroffen haben. Es ist durchaus möglich, dass unsere Schrift­aus­le­gung von den Späteren ihrerseits in Frage gestellt wird. Und wir müssen es auch aushalten, dass nie alle Christinnen und Christen mit einer Stimme sprechen werden

Spricht das nicht alles gegen uns. Kann man das einem Nichtchristen überhaupt verständlich machen? Oder einem Katholiken, der sich auf die Lehrautorität eines unfehlbaren Bischofs von Rom verlässt.?

Mir fällt noch einmal Calvin ein. Er sah sich veranlasst, die Bibel zu verteidigen gegen die wunderbar logischen und stilistisch brillanten Werke der antiken Philosophen.
Seine Antwort war:
So wie Gott sich sichtbar gemacht hat in seinem Ebenbild, dem wirklichen Menschen Jesus, so lässt er sich erkennen in einem wirklichen Buch, das in den Worten und Bildern wirklicher Menschen spricht. Die Bibel kann nicht anders sein als die Menschen, die ihre Erfahrungen hineingelegt haben. Wie sie ihre Erfahrungen mit Gott be­schrie­ben haben, ist unvollkom­me­nes Menschenwerk. Aber dass sie sie gemacht haben, ist voll­kom­me­nes Wirken Gottes.

Und nach so viel Theorie haben Sie jetzt natürlich ein Recht darauf, dass ich Farbe bekenne, dass ich Ihnen sage, was mir der Predigttext – jenseits seiner historischen Bedingtheit – sagt.
Ich will es versuchen.
Wir dürfen glauben, dass uns Gott erwählt hat ohne dass wir etwas Besonderes sein müssten: das kleinste Volk,  ganz normale Menschen.
Wir dürfen glauben, dass die Verheißungen, die die früheren Generationen an uns weiter­ge­ge­ben, keine leeren Versprechungen sind.
Wir dürfen glauben, dass Gott treu ist und unser alleiniger Trost bleibt, auch wenn es in unserem Leben nicht immer danach aussieht.
Wir dürfen glauben, dass Gott unsere Freiheit will. Und uns die Energie gibt, nach seinen Geboten zu leben.

So viele wertvolle Glaubenssätze haben uns unsere jüdischen Geschwister aus der Vorzeit hin­­­terlassen. Da sollten wir doch überall dort einschreiten, wo ihnen nachgesagt wird, sie wür­den an einen primitiven rachsüchtigen Gott glauben, der schuld ist an Intoleranz und Ter­ro­­rismus.

Wir dürfen mit Juden und mit Muslimen glauben, dass Gott all-mächtig ist. Allmächtig heißt: anders mächtig. Anders mächtig als die Kriegsherren aller Zeiten. Gebe Gott, dass das auch den Fundamentalisten aufgeht – und dass darüber hinaus die Ewig-Gestrigen, die es auch unter den Atheisten gibt, lernen, dass Gewalt nicht durch Gegengewalt beseitigt werden kann.

AMEN


Gudrun Kuhn, Ältestenpredigerin in Nürnberg, Juli 2011