''Abraham nun und seinem Nachkommen wurden die Verheißungen zugesprochen''

Predigt zu Galater 3,15-29


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Paulus sagt uns: Wenn Menschen das Gesetz dazu benutzen, "einen Keil zwischen Menschen zu treiben, zwischen Juden und Nicht-Juden, dann ist das letztlich ein Verstoß gegen das erste Gebot". Daraus folgert Voigtländer, auf Israel zu achten, während "der Staat Israel so borniert handelt", habe die Konsequenz, "die aktuelle Politik nicht mehr zu unterstützen".

Liebe Brüder und Schwestern, ich will euch ein Beispiel aus dem menschlichen Leben geben: Ein rechtskräftig gewordenes Testament, wenn es sich auch nur um das eines Menschen handelt, setzt niemand außer Kraft oder versieht es mit einem Zusatz. Abraham nun und seinem Nachkommen wurden die Verheißungen zugesprochen. Es heißt nicht: und seinen Nachkommen, als handele es sich um viele, nein, es geht um einen einzigen: und seinem Nachkommen – das ist Christus/Messias. Damit meine ich: Ein Testament, das von Gott bereits für gültig erklärt worden ist, kann von der Thora, die vierhundertdreißig Jahre später entstand, nicht für ungültig erklärt werden, so dass die Verheißung aufgehoben wäre. Denn hinge das Erbe an der Thora, so hinge es nicht mehr an der Verheißung. Dem Abraham aber hat sich Gott durch die Verheißung als gnädig erwiesen.

Was ist nun mit der Thora? Der Übertretungen wegen wurde sie hinzugefügt, bis der Nachkomme käme, dem die Verheißung gilt; angeordnet wurde sie mit Hilfe von Engeln, gelegt in die Hand eines Vermittlers. Ein Vermittler vertritt nicht einen Einzigen; Gott aber ist ein Einziger. Steht nun die Thora den Verheißungen entgegen? Gewiss nicht! Denn wäre eine Thora gegeben, die Leben schaffen könnte, dann käme in der Tat die Gerechtigkeit aus der Thora. Die Schrift jedoch hat alles unter die Sünde zusammengeschlossen, damit die Verheißungen aufgrund des Glaubens an Jesus Christus den Glaubenden zuteil werde. Bevor aber der Glaube kam, wurden wir alle gemeinsam von der Thora behütet – auf den Glauben hin, der sich in der Zukunft offenbaren sollte. So ist die Thora zu unserem Bewahrer geworden, bis hin zu Christus, damit wir aus Glauben gerecht würden. Da nun der Glaube gekommen ist, sind wir keinem Bewahrer mehr unterstellt.

Denn ihr seid alle Söhne und Töchter Gottes durch den Glauben in Jesus Christus. Ihr alle nämlich, die ihr auf Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen. Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus. Wenn ihr aber Christus gehört, dann seid ihr Nachkommen Abrahams und gemäß der Verheißungen seine Erben. (Galaterbrief 3,15-29)

Liebe Gemeinde!

Um mit diesen, nun wahrlich nicht sofort zugänglichen Gedankengängen des Paulus umgehen zu können und um uns durch das feine Geäst seiner Überlegungen und Auslegungen einen Weg des Verstehens freilegen zu können, ist es vielleicht gut, uns noch einmal klar zu machen, worum es damals in den galatischen Gemeinden ging. Es ging nämlich um die Frage, müssen auch die Menschen, die sich jetzt zu Jesus Christus, zum Messias Israels, bekennen und die bisher keine Juden waren, müssen also diese sogenannten Heidenchristen erst einmal Juden werden?  Oder ist es möglich, ein Bekenntnis zu Christus abzulegen, ohne dass man die Thora hält, ohne dass man sich die vielfältigen Vorschriften jüdischen Lebens zu eigen macht?

Das war damals eine ganz zentrale Frage, auch wenn uns das im Rückblick fremd erscheinen mag. Doch die ersten Zeugen und BekennerInnen zu Jesus Christus, dem Messias, waren Jüdinnen und Juden. Sie fühlten sich auch als solche und sahen durch ihr neu akzentuiertes Glaubensbekenntnis ihr Judesein weder aufgelöst, noch überholt, sondern eher bestätigt. Für sie war es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass jeder Mensch, der bekennt, dass Jesus der Christus ist, ein Jude ist und deshalb natürlich auch die Thora für ihn bindend ist.

Ich unterstelle, dass auch wir – zumindest die meisten von uns – damals genau so gedacht hätten. Und heute, da sich die Machtverhältnisse gewandelt haben, da die Christen in der Mehrheit sind und die Judenheit demgegenüber eine Minderheit bildet, da erwarten nun immer wieder Christen, dass endlich die Juden Christen werden müssten, damit sie weiter an der Erwählung Anteil hätten. Doch warum nimmt Paulus eine so andere Position ein? Warum streitet er sich so heftig mit seinen jüdischen Geschwistern? Und das ist der Moment, da wir uns wieder unserm Predigttext zuwenden und uns mit Paulus beschäftigen und nachbuchstabieren müssen, wie er die Dinge sieht und warum. Und damit hier nun kein Missverständnis entsteht: Alles, was jetzt von und über Paulus gesagt werden wird, ist getragen von der Überzeugung, dass Paulus dies sagt, als ein frommer Jude und hervorragend ausgebildeter jüdischer Lehrer, und eben darin ein Zeuge und Lehrer der Christenheit ist.

Und so fragt Paulus mit aller Schärfe nach dem Stellenwert der Thora für das Zusammenleben der Juden mit den Nicht-Juden, den Gojim, den Heiden, innerhalb der einen Befreiungsgeschichte Gottes mit seinem Volk. Er schaut in den Thenach, in die Schrift, um seine Glaubenseinsichten zu überprüfen und zu schärfen. Und wie so oft in seinen Briefen, entwickelt er seine theologischen Überlegungen von Abraham her. Er verweist auf Abraham und denkt dabei möglicherweise an die Textabschnitte, die wir heute in der Lesung gehört haben. Und Paulus macht an einem Beispiel aus dem Erbrecht folgendes deutlich: Ein Testament kann nachträglich von niemandem für ungültig erklärt werden, oder durch einen Zusatz abgeändert werden. Deshalb gilt das Testament, deshalb gilt der Bund, den Gott mit Abraham geschlossen hat. Er ist durch nichts in Frage gestellt! Er behält seine Gültigkeit! Und dieser Bund wird von Gott mit Abraham geschlossen, weil er auf Gott vertraut, weil er ihm glaubt. Dieser Bund gilt Abraham und seinem Nachkommen, so Paulus.

Das Besondere an der paulinischen Auslegung der alten Abrahamstexte ist nun, dass er nicht mehr von den vielen Nachkommen spricht, sondern nur noch von dem Einen und diesen einen Nachkommen mit Christus, dem Messias, identifiziert. In ihm, in Christus, versammelt sich gleichsam die gesamte Nachkommenschaft Abrahams. Doch damit nicht genug: In Abraham und seinem Nachkommen sind zugleich auch alle Völker gesegnet, wie wir aus Genesis 22 wissen. Abraham mit seinem Nachkommen ist von Gott zum Segen für alle Völker gemacht.

So versteht Paulus die Abrahamstradition, die in Christus alles umschließt, die dann in neuer, bisher ungeahnter Weise Israel und die Völker zusammenbringt. Paulus arbeitet in seiner Auslegung heraus, dass es auch in der Schrift, seit Abraham und damit eigentlich von Anfang an, um die Verheißung geht. Um die Verheißung, die zugesprochen wird, die nicht das Ergebnis eines besonderen Handelns und Gehorsams ist, sondern allein in Gottes Absicht ihren Grund hat und die letztlich, als Gottes Handeln, alle Menschen im Blick hat. Die Thora, das Gesetz, kommt erst 430 Jahre später hinzu. Sie ist eine Zugabe, die Gott seinem Volk, Israel, an die Hand gibt. Aber dadurch – und das haben wir ja vielleicht schon aus der Argumentation des Paulus verstanden – dadurch wird der Bund, das Testament, die Verheißung, der Segen nicht aufgehoben, nicht einmal verändert, oder abgemildert, oder unter neue Bedingungen gestellt. Deshalb, so die Schlussfolgerung von Paulus, deshalb brauchen die Menschen aus den Völkern die Gojim, die Heiden, nicht erst Juden werden, um sich zu Jesus Christus als dem Messias bekennen zu können. Nein, alle Menschen können glaubend bekennen, dieser ist Gott, er ist der Messias; denn wir alle leben aus der Verheißung!

Was hat dann aber die Thora noch für eine Bedeutung? Das ist doch ganz konsequent die nächste Frage. Was ist die Funktion des Gesetzes? In welchem Verhältnis steht die Thora zur Verheißung? Welches ist ihr Verhältnis zum Bund, zum Testament? Die erste Antwort des Paulus ist: Das Gesetz ist zwar von Gott gegeben, aber es ist nicht Gott; denn alles andere wäre eine Bestreitung des ersten Gebotes. Es scheint wohl damals Tendenzen im Judentum gegeben zu haben, die die Thora fast auf eine Ebene mit Gott stellen, d1e der Thora göttliche Funktion und Autorität zuweisen. Demgegenüber verweist Paulus darauf, dass die Thora die Gabe Gottes ist, die über einen Mittler, Mose, den Menschen bekannt gemacht wurde. Die Thora, so führt Paulus aus, wurde hinzugesetzt. Sie wurde hinzugesetzt, damit Israel weiß, was Gott von uns Menschen will, damit Israel nach Gottes Gerechtigkeit lebt und damit allen Völkern ein Vorbild ist und alle Völker an Israel lernen. Denn Gottes Interesse gilt im Letzten allen Völkern.

Das, was Paulus hier in unserem Predigttext versucht anschaulich zu machen, ist doch folgendes: Nicht die Thora ist etwas Schlechtes, aber der Versuch, sie zu einer göttlichen Macht hochzustilisieren; denn so versuchen Menschen in Gottes Handeln einzugreifen. Wenn Menschen also Gesetze dazu benutzen, um einen Keil zwischen Menschen zu treiben, zwischen Juden und Nicht-Juden, dann ist das letztlich ein Verstoß gegen das erste Gebot, gegen Gott den Schöpfer. Und wenn das Paulus damals gegen seine jüdischen Geschwister gewendet sagt, so gilt das heute uns, den Völkern, die wir auf Israel zu achten haben.

Im Moment wird dieses Acht geben wieder einmal einer harten Prüfung unterworfen. Doch es bleibt unsere Aufgabe, unsere ganz besonders. Aber wenn der Staat Israel so borniert handelt, wie er es zur Zeit tut, mit seiner Politik der Arroganz und demonstrativen Stärke, dann hat das Acht geben wohl die Konsequenz, die aktuelle Politik nicht mehr zu unterstützen. Dann heißt Solidarität mit Israel, laut und eindeutig auch das Existenzrecht Palästinas zu bestätigen und entsprechende politische Konsequenzen zu fordern.

Doch wie ist das mit dem Gesetz? Das Gesetz selber, die Thora, ist etwas Wichtiges und Gutes. Auch Christus Jesus hatte darauf verwiesen, dass er nicht gekommen sei auch nur den kleinsten Buchstaben vom Gesetz wegzunehmen, sondern um es gleichsam ins Recht zu setzen, dafür Sorge zu tragen, dass es seine Gültigkeit behält, dass es gelebt wird. Und genau das schloss mit ein, dass konkrete gesetzliche Entwicklungen kritisiert wurden, weil sie sich dem Leben der Menschen in den Weg stellten. Auch Jesus verstand die Thora als die gute Gabe Gottes, die um des Menschenwillen gegeben ist, aber nicht als ein Gefängnis, nicht als ein Instrument, das zur Gängelung missbraucht werden darf.

Die Thora ist so etwas wie ein Lehrer, eine Lehrerin, die uns Menschen lehrt und begleitet, die uns auf dem Weg der Gerechtigkeit Gottes leitet. Sie ist so etwas wie ein Geländer, das uns führt, das uns Sicherheit gibt. Das Gesetz ist also ein Betreuer, eine Erzieherin, die behutsam und vorsichtig die Menschen auf den Messias hin erzieht und damit zum Leben. Die Thora hat die Aufgabe uns von der Unmündigkeit zur Mündigkeit zu geleiten. Und danach sieht Paulus durchaus die Möglichkeit gegeben, dass die Mündigen, die Erwachsenen, nicht die Thora abstreifen wie ein lästiges Entwicklungsstadium, sondern auch weiter mit ihr verantwortlich umgehen und wir uns, wo immer es möglich ist, ihrer zum Wohle der Menschen bedienen. So kann das Sperrige, das Trennende, das die Thora durchaus enthält, überwunden werden. Weil aber das Gesetz nichts enthält, was nicht schon in der Verheißung enthalten wäre, deshalb lehnt Paulus die formale Befolgung der Thora für die Nicht-Juden, für die Gojim, die Völker, für uns, ab. Deshalb lehnt die Evangelische Kirche im Rheinland zu Recht Judenmission ab. Denn alle, die Gemeinschaft aus Juden und Gojim, sind Gottes Kinder. Sie sind es im Vertrauen, im Glauben, im Messias Jesus, in Jesus Christus.

Wir Christen haben aus diesem so differenzierten Thora-Verständnis oft eine Verwerfung des Gesetzes gemacht, die so von Paulus nicht angestrebt und gemeint war. Und damit nun keiner auf die Idee kommt, unser neuer Stand sei völlig folgenlos und spiele sich nur im Kopf ab, beschreibt Paulus in drei großen Gegenüberstellungen die Konsequenzen: In dieser neuen Gemeinschaft ist man nicht mehr Jude noch Heide. In dieser neuen Gemeinschaft ist man nicht mehr Sklave noch Freier. In dieser neuen Gemeinschaft ist man nicht mehr männlich noch weiblich.

Wir wollen Paulus auch am Schluss nicht missverstehen: Es ist schön, dass wir Menschen so unterschiedlich sind, mit all unseren so verschiedenen Begabungen und Talenten. Es ist schön, dass es Frauen und Männer gibt. Es ist schön, dass es nach wie vor Juden und Nicht-Juden gibt. Es ist gut und wichtig, dass es heute bei uns keine Sklaverei mehr gibt, auch wenn ich mir nicht immer sicher bin, ob wir nicht nur die Begriffe gewechselt haben und heute hier die 1-Euro-Jobber genannt werden müssten, oder die Hartz-IV-Empfänger, die gleichsam alle Probleme unseres Wirtschaftssystems auszubaden haben.

Auch zur Zeit des Paulus haben all die machtträchtigen Unterschiede, die in unserem gesellschaftlichen Leben so wichtig sind, leider nicht aufgehört. Aber wenn wir denn wirklich glauben und darauf vertrauen, dass Gott in Jesus Christus zu uns gekommen ist, dass Jesus der Messias ist, dann sind wir alle Gottes Kinder, in all unserer Unterschiedlichkeit. Dann ist Macht, dann ist Herrschaft der einen über die anderen, nicht mehr der von unserem Glauben und von der Thora für uns vorgezeichnete Weg zur Lösung unserer Konflikte und Probleme. Dann werden wir nur im Gehorsam auf Gottes Wort, und das ist auch das Gesetz, einüben und lernen, geschwisterlich miteinander umzugehen. Diesen Weg wollen wir gehen.

Amen.

Predigt, gehalten in der Antoniterkirche, Köln am 13. Juni 2010, im Rahmen der Reformierten Pedigtreihe zum Galaterbrief.


Johannes Voigtländer, Köln