Der Heidelberger Katechismus als Antidepressivum

Und der Eros des Glaubens

von Barbara Schenck

Verpackungsbeilage

Vor Enttäuschung sei gewarnt. Die folgenden Gedankensprünge genügen weder den Ansprüchen einer historisch-kritischen oder systematisch-theologischen Exegese des Heidelberger Katechismus, noch basieren sie auf langjähriger Erfahrung in einer psychotherapeutischen Praxis. Eine zu hohe Erwartung an den Text wird in Enttäuschung enden und womöglich miese Stimmung auslösen.

Selbstanklage und Freispruch

Die erste Frage des Heidelbergers "Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?" lässt sich "in die Frage überführen: Wie können Menschen trotz allem, was sie niederdrückt, als freie und dem Leben zugewandte Wesen leben?", so Matthias Freudenberg (Brevier, 5f.). Der niedergedrückte Mensch, anders formuliert: "das erschöpfte Selbst" (Alain Ehrenberg), ist fast schon eine Floskel, um den Zustand des Menschen in der postmodernen Gesellschaft zu beschreiben. Rund acht Millionen Deutsche leiden an "behandlungsbedürftigen Ängsten und Depressionen", Tendenz steigend (Retzer, 9).

Miese Stimmung vielerorts, obwohl es doch heute so einfach wie nie zuvor erscheint, in Wohlstand und Glück zu leben (zumindest in Deutschland). Woher kommt uns Hilfe? Aus dem Heidelberger?
Zunächst ein Schritt zurück: Was kennzeichnet "den Depressiven"? Der Depressive glaubt zu scheitern und zu versagen - gemessen an den "herrschenden Werten und Vorstellungen"; er fühlt sich selbst verantwortlich für die "erlebten Mängel". So entstehen zusätzliche Schuldgefühle, schreibt der Arzt und Psychologe Arnold Retzer. Die Selbstanklage lässt nicht lange auf sich warten und kommt mit voller Wucht:
"Die Beweislast der Anklage ist erdrückend. In dem Prozess, den man gegen sich selbst zu führen hat, ist Freispruch oder Begnadigung nicht vorgesehen. Das Verfahren läuft auf eine Verurteilung hinaus, manchmal auf ein Todesurteil." (Retzer, 212)

Anklage, Freispruch, Gnade - die in Glaubensfragen Geschulten hören sofort: Der Sünder muss für seine Schuld bezahlen, kann dies aber nicht, die Schuldenlast ist viel zu übermächtig. Doch Gott lässt Gnade walten und erlöst "allein um des Verdienstes Christi willen" (HK 21). "Mein Gewissen" klagt mich zwar an, "Gott aber schenkt mir ganz ohne mein Verdienst aus lauter Gnade die vollkommene Genugtuung" (HK 60). Bleibt die Frage: Kann ein niedergeschlagen in ein tiefes Loch versunkener Mensch diesen Freispruch hören und annehmen?

Kein Lobgesang auf die Hoffnung - Zeit für "Zögern und Zaudern"

Noch einmal einen Schritt zurück: Wie kommt es zu der "miesen Stimmung"? Aus dem Repertoire seiner psychologischen Erkenntnisse gibt Retzer ein paar Hinweise, was ich tun kann, um mich schlecht zu fühlen. Einer sei an dieser Stelle genannt:
Hoffen, hoffen, hoffen und mit dem hoffnungsvoll nach vorn gerichteten Blick handeln: "Machen, damit wird, was man hofft!" (Retzer, 32) Der Hoffnungsschwang vorwärtsstürmende Optimist mag eine Weile bei guter Laune sein, aber auf Dauer wird Hoffen anstrengend und macht blind für das, was sichtbar dem Erhofften im Wege steht. Die Hoffnung kann nur noch durch "Lügen, Betrug und Schönfärberei" gerettet werden. Immer anstrengender wird es, über die Fakten hinweg zu hoffen.
"Müdigkeit breitet sich aus. Noch mehr: Man wird lebensmüde". So kommt es anders als erwartet: Die "Absicht, positive Stimmung durch Hoffnung zu erzeugen", hat "ganz miese Stimmung zur Folge" (Retzer, 73).

Wie hält's der Heidelberger mit der Hoffnung? Beim Durchforsten der 129 Fragen fand ich - zu meiner Überraschung - weder die von Paulus gepriesene Hoffnung noch das Verb hoffen. Der Katechismus übt Zurückhaltung. Die Zuversicht, ja, die nennt er: als etwas, das Christus im Gebet in uns wecken will und zwar als "Zuversicht Gott gegenüber" (HK 120). Das ist nicht die Hoffnung, mit menschlichem Schaffen die Welt zu verbessern.
Auch von der Zukunft spricht der Katechismus: Gott will, dass wir "auf die Zukunft hin voller Vertrauen zu unserem getreuen Gott und Vater sind, dass uns nichts von seiner Liebe scheiden wird" (HK 28). Vertrauen auf Gott ja, aber auch das ist nicht die Hoffnung: "alles wird gut". Das Gottvertrauen steht in unserem Leben neben "Widerwärtigkeit" auf der einen und "Glückseligkeit" auf der anderen Seite (HK 28).

"In aller Widerwärtigkeit" empfiehlt der Katechismus Geduld. Die Tugend der Geduld wird oft als Aufruf zum passiven Geschehenlassen verstanden: Ruhe bewahren und geschehen lassen! Die Geduld kann aber auch eine aktive Seite zeigen: das Zögern. Ich muss nicht sofort reagieren, nicht vorschnell handeln, sondern halte inne in einem "Moment mal!". Das "Zögern und Zaudern", in dem "etwas angehalten wird, was nicht so weitergeht wie bisher, aber eben auch noch nicht anders weitergeht" (Retzer, 93), hofft nicht über eine Niederlage hinweg gleich hinein in die nächste. So kann das Zögern vor einem Bankrott bewahren, die Geduld einen Weg durch die "Widerwärtigkeit" finden. 

Mutige Wut und Gottes Zorn gegen die Sünde

Eine weitere Möglichkeit, gegen die miese Stimmung anzugehen, sieht der Psychologe in der "negativ beleumdeten Wut". Wut scheint für manche Depressiven "eine Ausstiegsmöglichkeit aus der miesen Stimmung zu sein". Sie eröffnet "bisher nicht genutzte Umgangsmöglichkeiten mit sich, mit anderen und der Welt" (Retzer, 258).
Von Wut ist im Katechismus nicht die Rede, wohl aber vom Zorn. Gott selbst zürnt "über die Sünde des ganzen Menschengeschlechts" (HK 37).
Zwischen Menschen allerdings, das sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, tadelt der HK den Zorn. Auch "Neid, Hass, Zorn und Rachgier" ist "heimliches Töten", so HK 106.

Im Kampf gegen "die Sünde" allerdings, sollte da nicht ein klein wenig "Nachahmung" Gottes zugelassen sein? Wir müssen uns ja nicht gleich im Zorn ereifern, es reicht ja schon die in unserer Sprache milder klingende Wut.
Wo Wut ausbricht, anstatt Unzufriedenheiten und Ärgernisse sich aneinander reihen, kommt der Mut ins Spiel. Dieser Mut bricht radikal mit dem Bestehenden und lässt einen neuen Zustand beginnen (vgl. Han, Agonie, 55f.). Der Glaube hat das längst erkannt: Dem Zorn Gottes folgt die Versöhnung und ein neuer Anfang zwischen Gott und Menschengeschlecht. Der Sintflut folgt das Versprechen: "Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht", dem Tod am Kreuz die Auferstehung.

Von dem Elend in mir - "Erkenne, wer du nicht bist!"

Ohne rosarote Brille sieht der Katechismus das Elend des Menschen. Nichts wird beschönigt, die Neigung zum Bösen nicht verschwiegen: Ich bin "von Natur aus geneigt, Gott und meinen Nächsten zu hassen" (HK 5). Zur Nächstenliebe nicht fähig machen wir "sogar die Schuld noch täglich größer" (HK 13). Wir Menschen können den hohen moralischen Ansprüchen der Nächstenliebe und der Gebote im einzelnen nicht Genüge tun. Der Anspruch "Ich darf keine Fehler machen!" ist von Anfang an fehl am Platze. Eine "Nullfehler-Kultur" (Retzer, 103) kam dem Heidelberger gar nicht erst in den Sinn und selbstmurmelnd hätte auch er sie - wie Retzer - "hochproblematisch" gefunden.

"Das pessimistische Lebensbild des Heidelberger Katechismus ist realistischer als viele unserer gezähmten und beschönigenden Selbstwahrnehmungen", meint sogar der Theologe Michael Welker (Welker, 169). Dazu passt der Rat:

"Erkenne, wer du nicht bist!" In diesem lebensklugen Motto sieht Retzer eine "überlebenswichtige Aufgabe" (Retzer, 294). Anders als unter der Aufforderung "Erkenne, wer du bist!", ist es unter diesem Motto möglich, sich unrealistischen Erfolgserwartungen zu entziehen.
Vor 450 Jahre wusste Zacharias Ursinus, der Verfasser des Heidelberger Katechismus, bereits um die Unzulänglichkeit unseres Herzens, das wahre Innere zu fühlen. Der Theologe erfand nicht die Formel "Erkenne, wer du nicht bist!", wusste aber darum, wie wenig der Ruf "Erkenne dich selbst!" angesichts unserer Unzulänglichkeiten nutzt. Sein Rat hätte wohl gelautet: "Überlass es Gott, dich selbst zu erkennen!":
"Denn mein Gebet
ist von Gott viel gewisser erhört,
als ich in meinem Herzen fühle;
dass ich dies alles von ihm begehre." (HK 129)

Wen wundert es jetzt noch zu lesen, dass Ursinus als junger, hochbegabter Mann, in den große Hoffnungen gesteckt wurden, selbst an Depressionen litt? (vgl. Ehmann, 33)

"Der Eros besiegt die Depression" - in Lust und Liebe willig und bereit

"Der Eros besiegt die Depression" (Han, 9), sagt der Philosoph Byung-Chul Han. Wie kein anderer hat Han die "Müdigkeitsgesellschaft" betrachtet und die von sich selbst erschöpften Individuen. Unter dem Diktat des "Nichts ist unmöglich!" beuten Menschen in ihrer Freiheit sich selbst aus bis zum "Nicht-Mehr-Können-Können" (Han, Müdigkeitsgesellschaft, 22). Die moderne Selbstausbeutung in der an Leistung orientierten Gesellschaft ist dabei noch schlimmer für den einzelnen als die feudale Ausbeutung des Knechts durch einen Herrn:
"Du kannst übt sogar mehr Zwang aus als Du sollst. Der Selbstzwang ist fataler als der Fremdzwang, weil kein Widerstand gegen sich selbst möglich ist." (Han, Agonie, 16f.) Woher kommt Hilfe?

"Der Eros besiegt die Depression." - Mit diesem Satz im Kopf lese ich Frage 90:
"Was heißt Auferstehen des neuen Menschen?
Herzliche Freude durch Gott an Christus haben
und Lust und Liebe,
nach dem Willen Gottes
in allen guten Werken zu leben."

"Lust und Liebe" - der Katechismus nennt die entscheidenden Stichworte. Lust und Liebe beschreiben das Verhältnis Mensch - Gott. Hier geht es nicht um das eigene Können und die Leistungen eines Menschen. Die Leidenschaft von Mensch zu Gott fällt unter eine andere Kategorie. In Anlehnung an die Sprache der griechischen Mythologie ließe sich "Lust und Liebe" in "Eros" übersetzen.
"Eros" nennt der Philosoph Han ein "Verhältnis zum Anderen", "das jenseits des Könnens und der Leistung angesiedelt ist" (Han, Agonie, 18).

Zum "Eros" gehört das "Begehren", das sich grundlegenden von den Wünschen und Bedürfnissen der Konsumkultur unterscheidet. Das Begehren braucht einen "Anderen", aber gerade dieser "Andere" verschwindet in unserer Gesellschaft mit ihrer zunehmenden "Narzissifizierung des Selbst", so Han (Agonie, 5). Die heutige Gesellschaft ähnelt immer mehr "der Hölle des Gleichen" (ebd. 6): "Wir vergleichen permanent alles mit allem, nivellieren es dadurch zum Gleichen" (ebd.). Dem narzisstischen Subjekt "erscheint die Welt nur in Abschattungen seiner selbst [...] Es watet überall im Schatten seiner selbst, bis es in sich ertrinkt" (Han, Agonie, 7), in Depression versinkt. Der Eros hingegen "reißt das Subjekt aus sich selbst heraus auf den Anderen hin" (ebd. 7).

Das Begehren und der Andere, beides ist der reformatorischen Lehre nicht fremd.
Der Andere ist der ganz Andere, der Transzendente: Gott. Und gerade der Heidelberger weiß um die Transzendenz Gottes, der unser Vater "im Himmel" ist, während wir "auf Erden" sind.
Um die Andersheit des Anderen, allerdings des anderen Menschen, zu beschreiben, greift auch der Philosoph Han auf den Begriff der Transzendenz zurück - in Anlehung an Martin Buber:
"die 'Urdistanz' bringt den transzendentalen Anstand hervor, der den Anderen in seine Andersheit befreit, ja distanziert" (Han, Agonie, 19).

Das Begehren wiederum kennt der Katechismus als Begehren im Menschen. Das alte Glaubensbekenntnis weiß sogar, dass dieses Begehren weit über die Wünsche, die ein Mensch formulieren kann, hinausgeht, wie weiter oben bereits zitiert. In den Bitten meines Gebets erhört Gott mehr, als ich fühlen (und sagen) kann von dem, was mein Herz begehrt (HK 129).
"Ein gemeinsames Begehren nach einer anderen Lebensform, nach einer anderen, gerechteren Welt" sieht Han in der "politischen Aktion" (Han, Agonie, 57).
Auch der Heidelberger Katechismus kennt ein "gemeinsames Begehren": das Handeln im Glauben. Die Glaubenden sind "willig und bereit" in "Lust und Liebe" - nach Gottes Weisung zu leben. Dabei soll (nicht kann!) in der "Gemeinschaft der Heiligen"
"jeder seine Gaben
willig und mit Freuden
zum Wohl und Heil der anderen"
gebrauchen (HK 55).

Die eigenen Gaben zu gebrauchen, um anderen wohl zu tun, ist der "Eros" in der Gemeinschaft der Heiligen. Besiegt dieser "Eros" die Depression? Antwort aus dem Katechismus:
"Schon jetzt empfinde ich
den Anfang der ewigen Freude
in meinem Herzen." (HK 58).

Literatur
Ehmann, Johannes, Von Breslau in die Pfalz - die Wege des Zacharias Ursinus, in: Zugänge zum Heidelberger Katechismus, 33-42.
Freudenberg, Matthias, Heidelberger Katechismus-Brevier, Neukirchen-Vluyn 2012.
Han, Byung-Chul, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2010.
Han, Byung-Chul, Agonie des Eros, Berlin 2012.
Retzer, Arnold, Miese Stimmung. Eine Streitschrift gegen positives Denken, Frankfurt/M. 2012.
Welker, Michael, "Herrschaft" Christi als "Trost"?, in: Zugänge zum Heidelberger Katechismus, 166-170.
Zugänge zum Heidelberger Katechismus, . Geschichte - Themen - Unterricht, hrsg. von Martin Heimbucher, Christoph Schneider-Harpprecht, Aleida Siller, Neukirchen-Vluyn 2012.

 


Barbara Schenck, Dezember 2012
 

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