'Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!' (Ex 20,3)

Das erste Gebot und Karl Barth


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Predigt am 10.11.2019 in der Ev.-ref. Gemeinde in Braunschweig von Prof. Dr. Marco Hofheinz

Liebe Gemeinde,

wie schnell, ja vorschnell sind wir bei der Hand mit der Auskunft: „Es gibt keine anderen Götter! Es gibt nur einen Gott! Wir sind schließlich Monotheisten!“ Wenn wir das so sagen, ja bekennen, fühlen wir uns als Christenmenschen in der Regel recht gut. Denn wir haben damit doch offensichtlich kräftig dem Aberglauben widersprochen. Wir haben uns außerdem in die Gemeinschaft der monotheistischen Religionen gestellt, an die Seite des Islams und des Judentums und das gemeinsame Bekenntnis aller drei Religionen betont: „Es gibt nur einen Gott!“

Doch stimmt das? Gibt es wirklich nur einen Gott? Beschleichen uns nicht leise Zweifel, wenn wir vom ersten Gebot hören? Denn wenn es nur einen Gott gäbe, dann müsste das erste Gebot doch nicht betonen, dass wir keine anderen Götter neben dem Gott Israels haben sollen. Dann wäre das erste Gebot doch eine Selbstverständlichkeit. Offenkundig ist aber die Befolgung des ersten Gebots alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Deshalb wird das erste Gebot auch allen anderen Geboten als das erste und wichtigste vorangestellt. Offenkundig machen, ja basteln wir Menschen uns immer wieder Götter, oft ein ganzes Pantheon. Johannes Calvin hat einmal gesagt, dass unser Menschenherz eine „Fabrik der Götzenbilder“ (fabrica idolorum)1 ist. Wir produzieren ständig neue Götzen und zwar in unserer Herzensstube. Ähnlich wie Calvin sprach auch Martin Luther vom „fingierenden, erdichtenden Herz“ (cor fingens).2 Das menschliche Herz, es täuscht, es spiegelt sich selbst etwas vor – nämlich, dass es einen anderen Gott gibt außer dem Gott Israels.

Wie das? Nun, den Schlüssel zu einem solchen Verständnis bildet der Begriff „Gott“. Luther stellt in seinem „Großen Katechismus“ fest: „Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und [worauf du dich] verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“3 Luther zufolge hängen wir Menschen unser Herz ganz und gar nicht nur an Gott. Wir vertrauen auch anderen Dingen. Wir setzen unsere Hoffnung auch auf anderes, Dinge, die wir am liebsten besitzen möchten und die doch uns besitzen – in unseren Wünschen, in unseren Sehnsüchten und Leidenschaften. Ja, worauf setzen wir? Auf unser Haus, unseren Garten, unser Auto, unseren Körper, unsere Gesundheit, unser Sky-Abo? Warum dreht sich  „alles“ immer wieder um das sog. „liebe“ Geld? Warum wollen denn nicht nur unsere Kinder, sondern warum wollen auch wir Erwachsenen ständig zwar nicht alles, aber doch vieles haben, nämlich genau das, was uns wichtig ist, woran unser Herz hängt? „Einen Gott haben bedeutet, etwas haben, an das ich mein Herz hänge und dem ich unbedingt vertraue“4 – so Luther. Indem wir anderen Dingen vertrauen, uns auf andere Dinge als den Gott Israels verlassen, erwecken wir diese Dinge zum Leben.

Liebe Gemeinde, dieses Jahr ist Karl Barth-Jahr. Die Theologie des großen Schweizer Theologen feiert ihren 100. Geburtstag. Barth hat wohl wie kaum ein anderer Theologe das erste Gebot in den Mittelpunkt seines Denkens gestellt. Barth sprach vom ersten Gebot als „theologischem Axiom“.5 Axiom meint: Es geht hier um einen Grundsatz. Es geht um eine Wahrheit, die noch wahrer ist als jeder Beweis. Es geht um eine Wahrheit, die sich nicht ableiten lässt aus irgendwelchen vorgeordneten Sätzen. Denn die Selbstvorstellung Gottes: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“ (Ex 20,2), geht allem voran. Sie ist selbst allem vorgeordnet. Deshalb beginnen die zehn Gebote mit diesem Satz, mit dieser Präambel. Noch bevor das erste Gebot ertönt, ertönt diese Selbstbezeugung Gottes. Mit ihr gibt er sich seinem Volk als der Gott, der in die Freiheit führt, zu erkennen. Dies zu betonen, war Karl Barth immer wichtig. Mit dieser Betonung begann Barths theologischer Aufbruch. Davon möchte ich Ihnen, liebe Gemeinde, heute Morgen in dieser Predigt etwas mehr erzählen. Sie werden dabei viel O-Ton Barth zu hören bekommen.
Barths theologischer Aufbruch begann mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Als der Krieg im August 1914 ausbrach, jubelten – wenn auch bei weitem nicht alle6 – so doch viele Menschen, auch in Kirche und Theologie. Bei Barth löste dieser Jubel, der auch theologisch begründet wurde, eine tiefe Krise aus. Er spricht selbst von einer „Wendung“.7 Als der Krieg ausbrach, wurde „ich“ – wie er selbst schreibt – „irre an der Lehre meiner sämtlichen theologischen Meister in Deutschland, die mir durch das, was ich als ihr Versagen gegenüber der Kriegsideologie empfand, rettungslos kompromittiert erschien.“8

Barth war damals Pfarrer in dem kleinen Arbeiterort Safenwil im Aargau in der Schweiz. Er konnte es nicht verstehen, dass auch seine eigenen theologischen Lehrer durch die Kriegseuphorie und den kriegsbegeisterten Enthusiasmus ergriffen wurden. Entsetzt über die Aufrufe, den Krieg zu unterstützen, auch mit dem Opfer des eigenen Lebens – für Gott und Vaterland, schrieb Barth drei Wochen nach Kriegsausbruch an seinen Lehrer Martin Rade in Marburg: „Das ist mir das Allertraurigste in dieser traurigen Zeit, zu sehen, wie jetzt in ganz Deutschland Vaterlandsliebe, Kriegslust und christlicher Glaube in ein hoffnungsloses Durcheinander geraten […]. Das ist die Enttäuschung für uns […], dass wir sehen müssen, wie die ‚Christliche Welt‘ aufhört, christlich zu sein, sondern sich einfach dieser Welt gleichstellt [...] Dieser Zusammenbruch vor der ‚harten Realität‘ ist’s, der uns weh tut. […] Warum lassen Sie bei dieser ganzen weltlichen, sündigen Notwendigkeit Gott nicht aus dem Spiele?“9 Martin Rade antwortet Barth: „Gott außer dem Spiele [zu] lassen“ sei bei einer so „überwältigende[n] Sache“ wie dem „Erleben dieses Krieges“ unmöglich.10 Barth kann darüber nur den Kopf schütteln: „[Dieser Gott,] Schutzpatron unserer Menschengerechtigkeit, unserer Moral, unseres Staates, unserer Kultur, unserer Religion […] ist kein Gott […]. Er kann es nicht einmal verhindern, dass seine Gläubigen […] und frommen Christen mit Mord und Brand übereinander herfallen […]. Er ist ein Götze. Er ist tot.“11

Ein Pfarrer, der Gott aus dem Spiel lassen möchte? Ein Pfarrer, der Skrupel hat, von Gott zu reden? Ein Pfarrer, der Einspruch erhebt gegen die Rede von Gott? Nun, Barths Einspruch, sein Widerspruch gegen die damals übliche Rede von Gott resultiert aus dem ersten Gebot. Barth sieht in Kriegseuphorie und kriegsbegeistertem Enthusiasmus einen Götzen. Der  Götzenstatus wird für ihn gerade in der Berufung auf Gott erkennbar. „Gott mit uns“ – so stand es auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten. Mit dem Anspruch, Gott auf der eigenen Seite zu haben, zogen viele in den Krieg. Barth bemerkt: Die Deutschen ziehen Gott so in diesen Krieg hinein, als ob sie sich „mitsamt ihren großen Kanonen als seine Mandatare fühlen dürften“.12 Gott werde hier indes vereinnahmt für Deutschland, für die eigene nationale Sache und die eigene Kultur, die jetzt siegen und sich den anderen, „minderen“ Kulturen gegenüber in ihrer Überlegenheit zeigen müsse. Das Problem beginne dort, wo wir Gott vereinnahmen und ihn zu unseren Lieblingsideen hinzugesellen: Gott und die Nation, Gott und Deutschland, Gott und Kultur. Barth hält dagegen: Gott ist gegenüber solchen menschlichen Funktionalisierungen und „Verunsrigungen“ der „ganz Andere“. Gott ist Gott! „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“

Liebe Gemeinde, wir merken: Barth geht es darum, Gottes Fremdheit, Freiheit und sein Anderssein gegenüber menschlichen Vereinnahmungen zu betonen. Es geht um das Gottsein Gottes. Dass man Gott nicht einfach vor den eigenen Karren spannen darf, war Barth wichtig: Weder vor den der eigenen Kriegstheologie, des eigenen Deutschtums oder Schweizertums, noch den der eigenen Lieblingsideen – Barth nennt später im „Tambacher Vortrag“ (1919) bewusst auch seine eigenen Lieblingsideen, „z.B. […] Sozialdemokratie, […] Pazifismus, […] Wandervogel“.13 Spannt man indes Gott auch vor den Karren der eigenen Lieblingsideen, dann begeht man theologisch denselben Fehler wie die Kriegstheologie, indem man ihn nämlich „zum soundsovielten Male […] säkularisier[t]“14 , ihn verunsrigt, ihn festlegt, statt ihm zuzugestehen, sich selbst festzulegen.

Und was sind unsere Lieblingsideen, vor die wir Gott spannen? Worauf legen wir Gott fest? Gott aber hat sich selbst festgelegt, sagt Barth. Und wer wissen will, wer Gott ist und was Gott von uns will, der muss genau dorthin schauen, wo Gott sich selbst erschlossen hat: auf Christus, in dem Gott – wie Paulus sagt – „die Welt mit sich selbst versöhnte“ (2Kor 5,19). Für Barth steht fest: Das erste Gebot als theologisches Axiom lässt sich „aus diesem christologischen Zusammenhang [nicht lösen]. Die Offenbarung geschieht in der Versöhnung, in dem von Gott aufgerichteten und gehaltenen Bund zwischen ihm und den Menschen. Sie geschieht durch Sündenvergebung, Rechtfertigung und Heiligung. […] Jesus Christus ist der Sinn des Sinaigesetzes, sofern es Gottes Offenbarung ist.“15 Das erste Gebot hat also mit Jesus Christus zu tun. Der Gott, der spricht: „Ich bin der Herr dein Gott“, ist kein anderer als „Gott in Christus“.

Wir haben gesehen, wie Barths Denken in dieser Zeit ein zutiefst erschüttertes Denken war, erschüttert durch die Vereinnahmung, durch die Verzweckung Gottes. Für ihn und seinen Freund Eduard Thurneysen, der in Barths Nachbargemeinde Leutwil Pfarrer war, wurde es nun unabdingbar, neue Orientierung im Glauben und Denken zu gewinnen. Er sah sich in dieser „heillosen Verlegenheit“16 gezwungen, ganz neu von vorne anzufangen, ganz neu nach Gott zu fragen, und sich darüber Rechenschaft zu geben, wie wir überhaupt dazu kommen, von Gott zu reden, und was es heißen kann und nicht heißen kann, dass Gott Gott ist. Es drängte sich Barth und seinem Freund Thurneysen der Versuch auf, „bei einem erneuten Erlernen des theologischen ABC noch einmal und besinnlicher als zuvor mit der Lektüre und Auslegung der Schriften des Alten und Neuen Testaments einzusetzen. Und siehe da: Sie begannen zu uns zu reden – sehr anders als wir sie in der Schule der damals ‚modernen‘ Theologie reden hören zu müssen gemeint haben […]. Ich begann mich, immerhin mit allem mir damals zugänglichen Rüstzeug, unter einem Apfelbaum dem Römerbrief zuzuwenden. […] Ich begann zu lesen, als hätte ich ihn noch nie gelesen: nicht ohne das Gefundene Punkt für Punkt bedächtig aufzuschreiben. […] Es entstand und erschien also der ‚Römerbrief‘ in der ersten und der zweiten Gestalt. “17

Es war die Entdeckung der „Neuen Welt in der Bibel“18 , die Barth in Atem hielt. Über seine Arbeit am Römerbrief schreibt er an seinen Freund Thurneysen: „ Es war mir über der Arbeit oft, als wehe mich von weitem etwas an von Kleinasien oder Korinth, etwas Uraltes, Urorientalisches, undefinierbar Sonniges, Wildes, Originelles, das irgendwie hinter diesen Sätzen steckt, die sich so willig von immer neuen Generationen exegetisieren lassen. Paulus – was muß das für ein Mensch gewesen sein und was für Menschen auch die, denen er diese lapidaren Dinge so in ein paar verworrenen Brocken hinwerfen, andeuten konnte! Es graut mir oft ganz in der Gesellschaft. Die Reformatoren, auch Luther, reichen noch lange nicht an Paulus heran, das ist mir erst jetzt überzeugend klar geworden. Und dann hinter Paulus: was für Realitäten müssen das sein, die den Mann so in Bewegung setzen konnten! Was für ein abgeleitetes Zeug, das wir dann über seine Sprüche zusammenschreiben, von deren eigentlichem Inhalt uns vielleicht 99% entgeht.“19 Und ein Jahr später noch schreibt Barth an Thurneysen: „Hätten wir uns doch früher zur Bibel bekehrt, damit wir jetzt festen Grund unter den Füßen hätten.“20

Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, wie es Ihnen mit diesem Karl Barth geht. Aber man merkt, wie sehr hier einer ergriffen und mitgerissen wird von der Dynamik, die entsteht, wenn sich jemand wirklich auf die Bibel einlässt. In den Erschütterungen beim Ausbruch des Krieges 1914 ist Barth klar geworden, dass die alte Harmonie zwischen Kirche und Kultur, die Synthese von antiquiertem Christentum und neuzeitlichem Bürgertum, die unheilige Allianz von Thron und Altar, die letztlich kriegerische Koalition von Nation und Religion aufgebrochen war. Sie erwies sich als haltlos, überkommen, ja für Barth als Verrat an Gott und am ersten Gebot: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Das erste Gebot ruft Barth zurück an den Anfang, den Anfang eines neuen Suchens, Fragens, Bittens nach Gott. Ihm ist die Selbstsicherheit vergangen, Gott zu instrumentalisieren und die Bibel als Beleg für die eigenen Interessen zu benutzen. Es geht um Freiheit – auch und gerade von falschen Gottesbildern, falschen Bindungen, falschem Glauben. Es geht ihm um die Befreiung von der Bevormundung durch den um seinen eigenen Nutzen besorgten frommen, bürgerlichen, kriegerisch, national oder wie auch immer gesinnten Menschen. Auch die Befreiung der Bibel von ihrer Verzweckung hat er im Blick. Für ihn kehrt sich der Spieß um: Nicht wir befragen die Bibel, sondern die Bibel befragt uns. Wiederum O-Ton Barth: „Was uns die Bibel an Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten hat, das fragen wir. Diese Frage kehrt sich sofort um, richtet sich an uns selbst und lautet dann, ob und inwiefern wir denn in der Lage sind, uns die in der Bibel gebotene Erkenntnis zu eigen zu machen.“21 Barth kann sagen, dass es darauf ankommt, der Bibel gleichzeitig zu werden. Auch wir sind gemeint: „[I]ndem wir diesem zeitlichen Ereignis [der Anrede: Ich – du!; M.H.] als Hörer des geschriebenen ersten Gebots gleichzeitig werden, verstehen wir das theologische Axiom.“22

Liebe Gemeinde, es wäre sicherlich noch manches Spannende und auch Dramatische über Karl Barth zu erzählen, etwa aus dem Kirchenkampf, von seiner Begegnung mit dem Nationalsozialismus und von seinem Widerstand auch in der Schweiz. Hätten wir mehr Zeit, so würde ich im Blick auf das erste Gebot vom Rauswurf an der Universität Bonn berichten, nachdem Barth den Führereid verweigerte. Ich würde auch von der „Barmer Theologischen Erklärung“ berichten, die das erste Gebot in der ersten These fulminant zur Sprache bringt: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Ich würde auch vom sog. „Kalten Krieg“ erzählen und Barths Bemühen um einen sog. „Dritten Weg“. Aber auch das weniger Heroische, die Brüche im Persönlichen, würden zur Sprache kommen. Auch Barth war ja nicht Gott. Aber er hat auf seine Weise versucht, neu von ihm zu reden. Der Schriftsteller Carl Zuckmayer schreibt in den 1960er Jahren an Barth: „Für meine Generation, die erleben mußte, wie die Kirche beider Konfessionen in zwei Weltkriegen auf beiden Seiten die Waffen segneten, war es nicht leicht, den Glauben zu bewahren. Sie haben uns, den Katholischen wie den Evangelischen, gleichermaßen geholfen.“23

Liebe Gemeinde, wir erinnern uns in diesem Jahr an Karl Barth, weil er uns an das erste Gebot erinnert hat: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir“. Barth erinnert uns daran, dass wir Menschen diese anderen Götter nicht brauchen und es nicht nötig haben: Zuflucht zu nehmen bei diesen anderen Göttern, unser Herz an sie zu hängen und unser Vertrauen auf sie zu verschwenden. Gott ist es doch, der seinem Volk die Freiheit geschenkt hat. Und wie sollte der Gott, der seinem Volk die Freiheit geschenkt hat, es nun umkommen lassen in dieser Freiheit? Wie sollte er sie nicht führen und leiten im Land der Freiheit – mitten durch alle Gefahren hindurch? Ja, wie sollte er sie dort alleine lassen? Wie sollte er nicht auch in der Freiheit ihr Gott sein, so dass sie in und vor der Freiheit keine Angst haben müssen – im Leben nicht und im Sterben auch nicht? Gott ist es doch, er ihnen alles geben hat, was es in der Freiheit zum Leben und zum Sterben braucht.

Jesus selbst hat dies wunderbar auf den Punkt gebracht in der Bergpredigt, mit der ich schließen möchte. An seine Jüngerinnen und Jünger gewandt, verweist er sie zunächst auf das erste Gebot: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon!“ (Mt 6,24). Das heißt nichts anderes als: „Ihr sollt keine anderen Götter haben neben mir!“ Und dann kommt Jesus auf die Gründe zu sprechen, die uns veranlassen, uns in die Hände der Götzen zu begeben: die Sorge um uns und die, die wir liebhaben: „Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?“ (Mt 6,25). Jesus kennt uns und er weiß, was uns veranlasst, Gott nicht zu vertrauen. Um uns zu helfen, das erste Gebot zu leben und Gott tatsächlich Gott sein zu lassen, deutet er auf die Dinge, die uns immer umgeben, die er uns täglich neu schenkt und die wir so leicht übersehen. Jesus nennt die Vögel: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?“ (Mt 6,26) Und dann kommt Jesus auf das Schöne zu sprechen, die Blumen – direkt vor unserer Nase: „Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch [der König] Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“ (Mt 6,28-33).

Amen

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1 Johannes Calvin, Inst. (1559), I,11,8. – OS III,96,29f. 

2  WA 42, 348 (Genesisvorlesung).

3 Martin Luther, Der Große Katechismus, KT 142, 2. Aufl., Gütersloh 1998, 19 (=BSLK 560).

4 Ebd.

5 Karl Barth, Das erste Gebot als theologisches Axiom (1933), in: ders., Theologische Fragen und Antworten. Gesammelte Vorträge Bd. 3, Zollikon-Zürich 1957, 127-143.

6 Vgl. Hans-Georg Ulrichs (Hg.) in Verbindung mit Veronika Albrecht-Birkner, Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, FRTH 3, Neukirchen-Vluyn 2014.

7 Karl Barth, Autobiographische Skizzen (1927), in: Karl Barth – Rudolf Bultmann, Briefwechsel 1922-1966, hg. von Bernd Jaspert, Karl Barth GA V/1, Zürich 1971, (301-310) 306.

8 Ebd.

9 Karl Barth, Brief an Martin Rade vom 31.8.1914, in: ders., Offene Briefe 1909-1935, hg. von Diether Koch, Karl Barth GA V/35, Zürich 2001, (25-31) 28.

10Martin Rade, Brief an Karl Barth vom 5.9.1914, in: Karl Barth, Offene Briefe 1909-1935, hg. von Diether Koch, Karl Barth GA V/35, Zürich 2001, (31-41) 37.

11 Karl Barth, Die Gerechtigkeit Gottes (1916), in: ders., Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München 1925, (5-17) 13f.

12 K. Barth, Brief an Martin Rade vom 31.8.1914, 28.

13 Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft (1919), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914-1921, Karl Barth GA III/48, hg. von Hans-Anton Drewes in Verbindung mit Friedrich-Wilhelm Marquardt, Zürich 2012, (556-598) 560.

14 Ebd. Dort z.T. kursiviert.

15 K. Barth, Das erste Gebot als theologisches Axiom, 133

16 K. Barth, Autobiographische Skizzen, 307.

17 Karl Barth, Nachwort, in: Schleiermacher-Auswahl, besorgt von Heinz Bolli, Siebenstern-Taschenbuch 113/114, München und Hamburg 1968, (290-312) 294f.

18 Karl Barth, Die neue Welt in der Bibel (1917), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914-1921, Karl Barth GA III/48, hg. von Hans-Anton Drewes in Verbindung mit Friedrich-Wilhelm Marquardt, Zürich 2012, 317-343.

19 Karl Barth, Brief vom 27.9.1917 an Eduard Thurneysen, in: Karl Barth – Eduard Thurneysen, Briefwechsel Bd. 1: 1913-1922, Karl Barth GA V/3, hg. von Eduard Thurneysen, Zürich 1973, (236-237) 236.

20 Karl Barth, Brief vom 11.11.1918 an Eduard Thurneysen, in: Karl Barth – Eduard Thurneysen, Briefwechsel Bd, 1: 1913-1922, Karl Barth GA V/3, hg. von Eduard Thurneysen, Zürich 1973, (299-301) 300.

21 Karl Barth, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke (1920), in:  ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914-1921, Karl Barth GA III/48, hg. von Hans-Anton Drewes in Verbindung mit Friedrich-Wilhelm Marquardt, Zürich 2012, (666-701) 666f.

22 K. Barth, Das erste Gebot als theologisches Axiom, 130.

23 Carl Zuckmayer / Karl Barth, Späte Freundschaft in Briefen, 10. Aufl., Zürich 1995, 14.


Prof. Dr. Marco Hofheinz