Freiheit, die Jesus meint

Gottesdienst am 20. Sonntag nach Trinitatis (Markus 2, 23-28)


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Von Gudrun Kuhn

LESUNG: Jeremia 31, 33f. (Zürcher Übersetzung)
33 Dies ist der Bund, den ich mit dem Haus Israel schließen werde nach jenen Tagen, Spruch des Herrn: Meine Weisung habe ich ihre Mitte gegeben, und in ihr Herz werde ich sie ihnen schreiben. Und ich werde ihnen Gott sein, und sie, sie werden mir Volk sein. 34Dann wird keiner mehr seinen Nächsten und keiner seinen Bruder belehren und sagen: Erkennt den Herrn! Sondern vom Kleinsten bis zum Größten werden sie mich alle erkennen, Spruch des Herrn, denn ich werde ihre Schuld verzeihen, und an ihre Sünden werde ich nicht mehr denken.

PREDIGT

Liebe Gemeinde –

Da habe ich aber besonders gehorsame Landsleute vor mir! Schön brav hinter der Maske versteckt. Zeigen Sie endlich Gesicht! Lassen Sie sich nicht weiter gängeln! Sie sind doch freie Menschen! Fort mit dem Maskengebot! Lassen Sie uns die Verfassung retten. Merkel muss weg und Spahn und Söder dazu. Freiheit! Freiheit ... Ein großartiges Wort, ein missbräuchliches Wort, ein Kampfwort!

Freiheit ... Alle sind irgendwie dafür. Sogar Rechtsradikale rufen unsere freien Gerichte an, um Demonstrationen zu erlauben, die gegen die freiheitliche Grundordnung gerichtet sind. Freiheit – wer diese Parole hört, muss genau hinhören, aus welcher Ecke sie gerufen wird. Ich rufe sie Ihnen zu aus diesem uralten Buch: Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments. Und: Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns.

Markus 2
23 Und es geschah, dass er am Sabbat durch die Kornfelder ging, und unterwegs begannen sei­ne Jünger, Ähren zu raufen. 24 Und die Pharisäer sagten zu ihm: Schau her, warum tun sie, was am Sabbat nicht erlaubt ist? 25 Und er sagt zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er Mangel litt und hungrig war, er und seine Gefährten? 26 Wie er in das Haus Gottes hi­nein­ging zur Zeit des Hohen Priesters Abiatar und die Schaubrote aß, die niemand essen darf außer den Priestern, und wie er auch seinen Gefährten davon gab? 27 Und er sagt zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen, nicht der Mensch um des Sabbats willen. 28 Also: Der Menschensohn ist Herr auch über den Sabbat.

Viele Stimmen höre ich aus dem Text.

Die Frauen am Brunnen in Kafarnaum
Rebekka, eine Kusine des Simon Petrus, kann ihre Empörung nicht zurückhalten. „Habt ihr es schon gehört? Jetzt sind sie wirklich diesem Habenichts aus Nazaret nachgelaufen. Simon und Andreas. Hatten sie nicht ein sicheres Einkommen als Fischer? Waren sie nicht an­ge­se­he­ne Leute in Kafarnaum? Und nun ziehen sie über die Straßen und leben von der Hand in den Mund. Ähren raufen sie – wie die Allerärmsten.“ – „Ja,“ entgegnet Simons Schwie­ger­mut­ter, „das hat mich auch ein wenig entsetzt. Aber Simon und Andreas wollen auf alle äußeren Si­cherheiten verzichten. So werden sie glaubwürdig für ihre Mitmenschen. Bedenkt doch, viele Leu­te hängen dem Rabbi aus Nazaret an den Lippen. ‚Sorgt euch nicht!‘ soll er gesagt haben, ‚vertraut auf Gott, der euch erhält wie die Vögel unter dem Himmel, und kleidet wie die schönsten Blumen auf dem Feld.‘“ – „Genau, Landstreicher sind sie geworden! Gottlose! Dieser Jesus bringt alles durcheinander, was seit Generationen gilt: Übers Land laufen! Am Sabbat! Sollen Gottes Gebote nicht mehr gelten?“ – „Doch. Die Religionshüter werfen dem Na­zarener zwar vor, dass er sich viel zu viele Freiheiten erlaubt, dass er dazu aufruft, die Ge­bote zu übertreten. Aber ich habe mir erzählen lassen, dass er das Gegenteil von sich ge­sagt hat: ‚Ihr sollt nicht meinen, dass ich das Gesetz auflösen will. Ich bin nicht gekommen auf­zulösen, sondern zu erfüllen.‘ (Mt 5,17) Handeln aus Liebe statt gedankenlosen Ge­hor­sams. Das ist die Freiheit, die Jesus meint.“ – „Wer das glauben mag?“ Die Frauen sind voller Fra­gen.

Gemeindelied: 395 Strophe 2
Vertraut den neuen Wegen und wandert in die Zeit.
Gott will, dass ihr ein Segen für seine Erde seid.
Der uns in frühen Zeiten das Leben eingehaucht,
der wird uns dahin leiten, wo er uns will und braucht.
Klaus-Peter Hertzsch geboren am 23. September 1930 in Jena,
gestorben am 25. November 2015 in Jena

Viele Stimmen höre ich aus dem Text.

Nathanael, einen Theologen
Lange hat er mit dem jungen Mann aus Nazaret diskutiert. Man hatte ihn gewarnt. Ein Auf­rüh­rer sei der. Ein ungehobelter Bauarbeiter aus Galiläa. Einer ohne theologische Bildung. Nichts da­von stimmte. Kundig war er in der Schrift gewesen. Auf David hatte er verwiesen, der eine hei­lige Regel missachtete, als er die Brote vom Altar aß, ausgehungert wie er und seine Ge­fähr­ten waren. Und – das musste Nathanael zugeben – das Streitgespräch hat dieser Jesus ge­­­wonnen. Mit genau den Argumenten, die einige seiner pharisäischen Kollegen auch ver­tre­ten: Vom Sabbatgebot müsse es auch Ausnahmen geben. Dem Menschen müssen in Not­si­tua­tionen Freiheiten erlaubt sein. Soll eine Hebamme der Gebärenden nicht zu Hilfe kommen? Darf eine Verfolgter nicht fliehen? Soll es verboten sein, ein gefährliches Feuer zu löschen? Eben waren sie in ihrer Schule daran, solche Ausnahmen für die Nachkommen auf­zu­schreiben. Eine ihrer Re­geln hatte Jesus selbst im Streit verwendet: ‚Wer wird nicht ein Schaf, das in eine Grube fällt, am Sabbat herausziehen?‘ Beeindruckend fand Nathanel die Be­grün­dung: ‚Gutes zu tun, das ist am Sabbat erlaubt!‘ (Matthäus 12,11; vgl. Lukas 14,5) Gleich am nächsten Morgen würde er das mit den anderen besprechen. Das wäre doch ein über­ge­ord­ne­tes Gebot, das Aus­nah­men rechtfertigt. So wie der Grundsatz, den sie erst vor kurzem dis­ku­tiert hatten: Siehe, der Schabbat ist euch übergeben, nicht ihr seid dem Schabbat übergeben.1 Ganz ähnlich hatte es dieser Jesus gesagt: Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen, nicht der Mensch um des Sabbats willen.
Nathanael fand keinen Schlaf in dieser Nacht. Sorgenvoll blickte er in die Zukunft. Würde die Spal­tung zwischen ihnen und den Jesusanhängern überwunden werden? Gott hatte doch al­len die Freiheit geschenkt, sein Wort vernünftig zu deuten. So hat Jesus manche der tra­ditio­nel­len Gebote verschärft und manche erleichtert. Handeln in Liebe ... Ob das die Freiheit ist, die er meint?

Gemeindelied 651
Freunde dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?
Dass das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit.
Achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.
Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winder weht.

Schalom Ben-Chorin geboren am 20. Juli 1913 in München als Fritz Rosenthal gestorben am 7. Mai 1999 in Jerusalem der Name bedeutet: Friede, Sohn der Freiheit

Viele Stimmen höre ich aus dem Text.

Die Schreibstube des Markus
Wie so oft hatte er viele um sich geschart: hochbetagte Männer und Frauen, die Jesus vor 50 Jah­­ren noch selbst erlebt hatten, schriftkundige Rabbinen, junge Christen – wie man sie nann­te – , die mit ihrer je­wei­li­gen Gemeindetradition vertraut waren. Er machte es sich nicht leicht mit seinem groß­an­ge­leg­ten Projekt, die vielen verschiedenen Erzählungen über den Herrn li­terarisch zu bündeln. Wie die ersten Jüngerinnen und Jünger sollten seine Leser den Weg von den Anfängen hin zur Passion geistig mitverfolgen können. Denn erst und gerade die Pas­sion – das war sein tiefer Glaube – offenbart die Göttlichkeit des Christus Jesus. Gegen al­le Schmäh­re­den. Nein, der Ge­kreu­zig­te war nicht gescheitert und nicht von Gott verstoßen. Seine Liebe vollendete sich auf Gol­ga­tha. Und seine Herrlichkeit wird vor aller Welt er­schei­nen. Wieder einmal ging die Be­geisterung mit ihm durch. Aber er hatte sich vorgenommen, nüch­­tern zu bleiben. Und so ließ er sich berichten, was man über Jesu Verhalten am Sabbat er­­zählte. Ein heikles Thema. Manche Schriftgelehrten waren überzeugt, dass die ka­tas­tro­pha­le Niederlage gegen die Römer Gottes Stra­fe sei: Strafe für die Missachtung der Gebote, auch des Sabbatgebots. Gefährlich konnten solche Vorwürfe für die Gemeinden werden. Darum wollte Markus sie an den Anfang seiner Schrift stellen. Und dabei gleich entkräften. Die Sache mit dem Ähren­rau­fen. Und die Sache mit der Heilung einer gelähmten Hand.
Während die Anwesenden alle noch durcheinander erzählen, hat er, der erfahrene Schrift­stel­ler, schon eine Idee: Jesus soll auftreten wie ein griechischer Philosoph und seine Gegner ar­gumentativ ins Aus laufen lassen. „Und er sagt zu ihnen: Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, Leben zu retten oder zu vernichten? Sie aber schwiegen.“ (Markus 3,4) So würde er es aufzeichnen: Die Weisheit Jesu siegt über böswillige Angriffe. Markus wandte sich wieder den anderen zu. Das Stimmengewirr war verebbt. Eine aus der Zeit der ersten Zeuginnen war aufgestanden. Sie lud zum Gebet ein:
Herr – du hast uns Freiheit und Liebe vorgelebt. Freiheit von sinnlosen Zwängen. Und Liebe zu allen Menschen. Sie ist die Grenze unserer Freiheit. Sie hast du über alles gestellt. Sei mit uns auf unseren Wegen, damit es deine Wege werden. AMEN
Alle stimmten ein und machten sich auf den Heimweg. Markus aber dachte noch lange nach. Wie konnte es gelingen, Leben und Wirken Jesu in die richtigen Worte zu fassen? Und wie konnte er sich selbst mit seiner Botschaft zwischen den Zeilen hörbar machen? Er begann nie­­derzuschreiben, was ihm erzählt worden war: Der Sabbat ist um des Menschen willen ge­schaf­fen, nicht der Mensch um des Sabbats willen. Das klang wieder wie aus dem Mund eines Philosophen. Aber sein Jesus war doch mehr als das! Zuerst zögerte der Evangelist ein wenig, aber dann setzte er glaubensmutig dahinter: Also: Der Menschensohn ist Herr auch über den Sabbat. Das war sein Bekenntnis. Jesus ist der Menschensohn, wie ihn der Prophet Daniel in seiner Vision geschaut hatte. Mit menschlichem Antlitz. Aber von Gott eingesetzt als Richter im Endgericht. Vom Endgericht war unter den Zeitgenossen viel die Rede. Große Ängste trieb die Mitmenschen um. Der römische Krieg – er war nur ein Anfang gewesen. So viel Gewalt und Vernichtung. Noch schlimmer aber würde es kommen beim Untergang der ganzen Welt, die so viele schon nahe sahen. Darum gras­sier­te die Sündenangst. Die Angst, nicht alle Gebote vollkommen erfüllt zu haben. Diese Angst wollte Markus mit seiner Schrift vertreiben. Jesus ist der Menschensohn. Er steht über allen Geboten. Er ist der Maßstab, nach dem ihr entscheiden sollt, was richtig und falsch ist. Der Maßstab bedingungsloser Menschenliebe. Das ist die Freiheit, die er meint. Sie zeigt euch den Weg im Leben und durch das Gericht. Er ist ein gnädiger Richter. Ja, in diesem Sinn würde er weiterschreiben ...

Gemeindelied 66 Strophe 2

Jesus ist kommen, nun springen die Bande,
Stricke des Todes, die reißen entzwei.
Unser Durchbrecher ist nunmehr vorhanden;
Er, der Sohn Gottes, der machet recht frei,
bringet zu Ehren aus Sünde und Schande.
Jesus ist kommen, nun springen die Bande.
Johann Ludwig Konrad Allendorf
geboren 1693 in Josbach, gestorben 1773 in Halle

Viele Stimmen höre ich aus dem Text.

Was sagen sie mir heute? Im achten Monat nach Covid 19.
Die Zeit der apokalyptischen Visionen ist noch nicht vorbei. Viele Menschen kanalisieren ihre Ängst in die Vorstellungen von bedrohlichen Personen und Mächten. In abstruse Vorstellungen. Und in belastende Gefühle. In ihrer Ohnmacht sehnen sie sich nach starken Befreiern. Aber: Jesus ist der Menschensohn. Er setzt die Maßstäbe. Keine Gewalt. Kei­ne Spaltung. Keine Diskriminierung. Stattdessen: Zuversichtlich leben. Verständnis zei­gen. Gutes tun. Den Menschen – jeden Menschen – ins Zentrum stellen.
Die Zeit der fundamentalistischen Schriftauslegung ist noch nicht vorbei. Die Bibel – wort­wört­lich. Die Verfassung – wortwörtlich. Die Sätze politischer Führer – verkürzt und zu­sam­menhanglos zitiert. Viele Menschen beharren in ungewissen Zeiten auf Traditionen, die der gegenwärtigen Situation nicht standhalten. In ihrer Ohnmacht sehnen sie sich nach unverrückbaren Regeln. Aber: Jesus ist der Menschensohn. Er hat kein Buch geschrieben. Er hat sein Leben eingesetzt. Und er hat darauf vertraut, dass sein Geist in den Menschen lebendig werden kann, die ihm vertrauen. Dass sie mit Vernunft und Nächstenliebe Ungewohntes wagen.
Die Zeit des Endgerichts ist jederzeit präsent. Ob wir wollen oder nicht, stehen wir in der Ver­antwortung. Was richtig oder falsch ist – wir müssen es selbst entscheiden. In Freiheit. Aber diese Freiheit überfordert uns. Da werden wir gerade in Corona-Zeiten zerrieben zwi­schen widersprüchlichen Pflichten. Welches Recht steht höher – das Recht vieler auf Schutz vor Ansteckung oder das Recht einzelner, z.B. auf menschenwürdige Begleitung im Sterben. Keine Bibel, kein Koran, kein Grundgesetz und keine philosophische Ethik kann uns hier im Detail helfen. In unserer Ohnmacht neigen wir vielleicht zu Extremen. Wir ha­­ben zu viele staatliche Einschränkungen, sagen die einen. Wir dürfen nicht zu sehr Rück­­sicht nehmen auf die Rechte des Einzelnen, sagen die anderen. Zu wenige Frei­hei­ten? Zu viele Freiheiten? Voller Entsetzen blicken wir darauf, wie Menschen in diesen Fra­gen verständnislos gegeneinander hetzen. Als ob über die Wahrheit so einfach zu ent­schei­den sei. Aber: Jesus ist der Menschensohn.
Als solcher steht er im pro­phetischen Bild vom Gericht zwischen Gott und den Menschen. Mit Gott mögen wir hadern, dass er uns in einer unvollkommenen, gefahrvollen Welt alleine lässt. Vor Gott mögen wir be­kennen, dass wir an vielen Missständen nicht unschuldig sind. Keine besonderen Aus­sich­ten sind das auf einen gut ausgehenden Prozess! Der Menschensohn Jesus jedoch ist einer von uns. Unser Verteidiger. Zeit seines Lebens hat er gegen die Angst gewirkt: ‚Fürchte dich nicht!‘ ist sein Gruß. Und ‚Deine Sünden sind dir vergeben!‘ ist seine Ermutigung! Im Zweifel für den Angeklagten – so wird sein Freispruch lauten. Das ist die Freiheit, die Jesus meint. Damit möchte ich leben.

Den Gedanken zulassen, dass ich vielleicht nicht immer Recht habe.
Versuchen, andere Einstellungen zu verstehen.
Die richtigen Argumente für meine Überzeugungen suchen.
Nicht völlig verzweifeln vor Dummheit und Gewalttätigkeit.
Menschenfreundlich handeln, mehr als mir genug erscheint.
Meine Grenzen akzeptieren.
Hoffnung zulassen.
Angst überwinden.
Im Namen Jesu.

AMEN

Jesus – du ganz Anderer

Sorgt euch nicht, sagst du
Wir aber sind voller Zukunftsangst.

Liebt eure Feinde, sagst du
Wir aber wissen nicht,

wie wir mit den Unvernünftigen
und Gewalttätigen umgehen können.

Übt Verzicht, sagst du
Wir aber hängen an unserem Besitz.

Strebt nach Gerechtigkeit, sagst du
Wir aber sehen auf unseren Vorteil.

Fürchtet euch nicht, sagst du
Wir aber leben in Angst.

Folgt mir nach, sagst du
Wir aber haben deine Spuren verloren.

Bleibt in mir, sagst du
Jesus – du ganz Anderer

Wir möchten so gerne ein wenig anders werden.
Mit Gottes Hilfe.

AMEN


Gudrun Kuhn