Herausgerufen: Simeon und Hanna

Predigt über Lukas 2, 25-38, von Pfr. Dr. Tobias Kriener, Bonn

Simeon und Hanna, vom Geist Gottes erfüllt, können in Frieden ziehen. - "Dieses Bild von den beiden alten Leuten im Tempel in Jerusalem, die ihren Frieden gefunden ha­ben, ist ein ungemein tröstliches Bild. So wünsche ich es mir auch für mich – dass ich den Frieden finde, unter dem mein verbleibendes Leben Ängste, Sorgen, Unruhe hinter sich lassen kann."

Predigt im Rahmen der Predigtreihe „Herausgerufene“
im Predigtgottesdienst  nach reformierter Tradition
am 11. September 2011 in der Antoniterkirche , Köln 

Lukas 2,25-38 (Zürcher Bibel)

25 Und da war in Jerusalem einer mit Namen Simeon, und dieser Mann war gerecht und gottesfürchtig; er wartete auf den Trost Israels, und heiliger Geist ruhte auf ihm. 26 Ihm war vom heiligen Geist geweissagt worden, er werde den Tod nicht schauen, bevor er den Gesalbten des Herrn gesehen habe. 27 Nun kam er, vom Geist geführt, in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus hereinbrachten, um an ihm zu tun, was das Gesetz des Herrn vorschreibt, 28 da nahm er es auf die Arme und pries Gott und sprach:
29 Nun lässt du deinen Diener gehen, Herr,
in Frieden, wie du gesagt hast,
30 denn meine Augen haben das Heil gesehen,
31
 das du vor den Augen aller Völker bereitet hast,
32 ein Licht zur Erleuchtung der Heiden
und zur Verherrlichung deines Volkes Israel.
33 Und sein Vater und seine Mutter staunten über das, was über ihn gesagt wurde.
34 Und Simeon segnete sie und sagte zu Maria, seiner Mutter: Dieser hier ist dazu bestimmt, viele in Israel zu Fall zu bringen und viele aufzurichten, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird - 35 ja, auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen -, damit aus vielen Herzen die Gedanken offenbar werden. 36 Und da war eine Prophetin, Hanna, eine Tochter Phanuels, aus dem Stamm Asser, die war schon hochbetagt. Nach ihrer Zeit als Jungfrau war sie sieben Jahre verheiratet 37 und danach Witwe gewesen bis zum Alter von vierundachtzig Jahren. Sie verliess den Tempel nie, weil sie Tag und Nacht Gott diente mit Fasten und Beten. 38 Zur selben Stunde trat auch sie auf und pries Gott und sprach von ihm zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten.

Liebe Gemeinde!

Alt werden möchte ja wohl jeder – aber alt sein ist nicht schön. So oder ähnlich höre ich es immer wieder bei meinen Seniorengeburtstagsbesuchen. Bei uns in Deutschland werden die Menschen so alt wie nie zuvor – und die Lebenserwartung steigt immer noch. Das führt dazu, dass die Senioren­geburtstagsbesuche des Pfarrers in unserer Gemeinde inzwischen nicht mehr mit dem 70. Geburts­tag anfangen, sondern mit dem 80. – ja, der Pfarrer würde inzwischen wohl schon eher komisch an­geschaut werden, wenn er einer 70-jährigen zum Geburtstag gratulieren wollte: Was, so alt bin ich doch noch gar nicht ...

Aber obwohl die Lebenserwartung steigt und die Lebensqualität – d.h. die Gesundheit und die Mög­lichkeit zur Teilnahme an allen möglichen Unternehmungen und am öffentlichen Leben – enorm zu­genommen hat, ist das Alter immer noch – und vielleicht sogar mehr als früher – mit Ängsten ver­bunden.

Das fängt natürlich beim Geld an: Die Rente sei nicht sicher; aufgrund der demografischen Ent­wicklung – zu wenig Kinder werden geboren, angeblich „zu viele“ alte Menschen beziehen Rente – drohe Altersarmut; deshalb müsse das Rentenalter drastisch heraufgesetzt und die Rente gekürzt werden. Schon jetzt wird berichtet, wie alte Menschen die magere Rente durch Nebenjobs aufbes­sern müssen. Rentner werden gezeigt, die vor Tau und Tag Zeitungen austragen. Das mit dem be­schaulichen Lebensabend - so die Botschaft –, das werdet ihr euch abschminken müssen.

Dann natürlich die Angst um die Gesundheit – besonders die Angst davor, zum sog. „Pflegefall“ zu werden. Und auch hier wird uns noch zusätzlich mit dem Geld – bzw. mit dessen angeblichem Man­gel -  Angst eingejagt: Die Pflegeversicherung müsse reformiert werden – wir müssten Geld zurück­legen, weil sonst die Pflege alter Menschen unbezahlbar werde.

Und schließlich die Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Lebensende: Wir werden aufgefor­dert, Patientenverfügungen abzuschließen, weil uns im Alter sonst droht, wochen- oder gar monate- und jahrelang an Schläuchen dahin zu vegetieren – als sei das, was ja in Wirklichkeit der absolute Ausnahmefall ist, schon der Normalfall, gegen den man sich möglichst jetzt schon zur Wehr setzen muss; im Grunde eine versteckte Aufforderung, bitteschön rechtzeitig aus dem Leben zu scheiden und ja nicht auf die Idee zu kommen, zuguterletzt auch noch die teure Gerätemedizin in Anspruch nehmen zu wollen. Denn, das weiß man ja: Die höchsten Kosten haben die Krankenversicherungen mit Menschen in ihrem allerletzten Lebensjahr, weil sie da häufig lange Zeit im Krankenhaus ver­bringen müssen.

Alten Menschen wird auf diese Weise subtil zu verstehen gegeben, sie seien im Grunde eine einzige Last: Unnütze Esser, die nur Kosten verursachen und den hart arbeitenden Jüngeren auf der Tasche liegen.

Da kann einem das Altwerden schon vergällt werden. Zumal dieser Lebensabschnitt ja wirklich nicht leicht zu meistern ist – weil es eben der letzte Abschnitt des Lebens ist.

Vorher kann man sich ja immer noch sagen: Ich habe noch Zeit, Irrtümer und Irrwege in meinem Leben zu korrigieren oder zu kompensieren: Eine verkorkste Schullaufbahn kann man durch eine gelungene Berufsausbildung oder ein schönes Studium ausgleichen; wenn es bei der ersten Stelle nicht so klappt – oder mit der ersten Ehe -, dann kann man immer noch einen Neuanfang wagen – bis hin zur sprichwörtlichen Midlifecrisis, wo man Bilanz zieht, feststellt, dass man bisher nicht so gelebt hat, wie man's sich vorgestellt hatte – und noch einmal ganz von vorne anfängt; ja sogar, wenn man im Berufsleben nie die rechte Erfüllung gefunden hat – im Ruhestand, da wird man end­lich dazu kommen, die Hobbies intensiv zu pflegen, die man immer vernachlässigt hat – die Reisen zu machen, für die man nie Zeit gefunden hat – sich den Enkeln zu widmen, wenn man die eigenen Kinder nur Abends zu Gesicht bekommen hat, als sie schon im Bett lagen – und was man sich nicht Alles noch an schönen, erfüllenden Dingen für den sog. „Lebensabend“ vorstellen und vornehmen kann.

Wenn aber auch der Ruhestand misslingt – wenn eine Krankheit die schönen Pläne vereitelt oder eben das Geld nicht reicht für die Karibik-Kreuzfahrt - oder oder - was dann? Denn nach dem Le­bensabend, da kommt ja nun nichts mehr – oder?

Und selbst wenn man tatsächlich Alles oder jedenfalls Vieles von dem, was man sich für das Alter erhofft hat, tatsächlich erlebt – irgendwann spielt der Körper oder der Geist eben doch nicht mehr mit; die Kräfte lassen nach, die Lebenslust- und Lebensfreude verkümmern. Woraufhin leben wir also letzten Endes? Das ist die Frage, die sich irgendwann stellt – nachdem wir unser aktives Leben – auch unser heutzutage so aktives Leben als alte Menschen – gelebt haben. Woraufhin leben wir letzten Endes? Und ich wage zu behaupten: Es ist im Tiefsten diese Frage, die hinter den vielen ein­leuchtenden oder auch diffusen Ängsten vor dem Alter steckt.

Simeon und Hanna – zwei alte Menschen im Jerusalem um die Zeitenwende. Wie war alt sein da­mals? Ohne all die medizinischen Möglichkeiten, die wir heute haben? Ohne Rentenversicherung  Was taten alte Menschen? Was erwarteten sie? Was beschäftigte sie?

Von Simeon erfahren wir, dass er wartete.

Warten – damit verbringen alte Menschen immer noch viel Zeit: Warten, dass Besuch kommt; War­ten insbesondere, dass die vielbeschäftigten Kinder zu Besuch kommen; Warten beim Arzt; Warten auf Ämtern; alte Leute sind oft zu früh zu Veranstaltungen oder Verabredungen, aus Sorge, sie könnten sich verspäten und den Beginn versäumen, die Abfahrt verpassen – und dann warten sie, dass es los geht.

Simeon wartet. Eine typische Tätigkeit eines alten Menschen: Nicht mehr aktiv die Dinge herbei führen – ins Laufen bringen – organisieren. Sondern warten. Warten, dass etwas passiert. Warten – dass es aufhört damit, dass etwas passiert. Warten – bis zum Tod; Warten – auf den Tod.

Hanna – so erfahren wir – diente Gott mit Fasten und Beten Tag und Nacht.

Auch das ja ein vertrautes Bild: Es sind die alten Frauen, die die bei weitem stärkste Gruppe der GottedienstbesucherInnen ausmachen; es sind die Frauen, deren Kinder aus dem Haus sind, die ihre Berufstätigkeit abgeschlossen haben, deren Männer schon gestorben sind, die in unseren Gemein­den „Gott dienen“ - heutzutage weniger durch Fasten als dadurch, dass sie den Kuchen backen für's Gemeindefest – durch ihre Mitarbeit beim Besuchsdienst -  indem sie die Gemeindebriefe austragen – durch ihre Mitsingen im Kirchenchor - und die vielen, vielen anderen kleine Dinge, ohne die eine Gemeinde nicht lebendig wäre.

Zwei ganz normale alte Menschen eben, Simeon und Hanna. So sehr anders stellt sich das Leben im Alter gar nicht da – damals vor 2000 Jahren, ohne Renten- und Krankenversicherung – und heute, mit all den Annehmlichkeiten, die die Lebenserwartung und die Lebensqualität im Alter scheinbar so gewaltig erhöhen. Warten. Gott dienen durch Fasten und Beten.

Nur eines haben die beiden, das sie  - jedenfalls auf den ersten Blick - hervorhebt und grundlegend unterscheidet von uns ganz normalen alten Menschen: Ihre besondere Beziehung zu Gottes Geist. Auf Simeon „ruhte heiliger Geist“; „ihm war vom Heiligen Geist geweissagt worden“; „nun kam er, vom Geist geführt, in den Tempel“. Und Hanna, die den Tempel nie verließ, wird als „Prophetin“ gekennzeichnet – in einem Wort zusammengefasst das, was Simeon widerfahren war.

Diese besondere Beziehung zu Gottes Geist ermöglicht es den beiden alten Leuten, in dem kleinen Jungen – gerade 40 Tage alt -, für den die Eltern gemäß 3. Mose 12 ein Opfer in den Tempel brin­gen, den Trost Israels und die Erlösung Jerusalems zu erkennen, auf die sie gewartet haben – das Heil, das Gott vor den Augen aller Völker bereitet hat; das Licht zur Erleuchtung der Heiden und zur Verherrlichung seines Volkes Israel.

Und damit ist es gut.

Jetzt kann der alte Simeon in Frieden gehen – jetzt kann die hochbetagte Hanna in Frieden gehen. Die Ängste, die Sorgen, die Unruhe, die das Alter – die das Leben vergällen können, sie sind nun nicht mehr erheblich. Denn jetzt ist Frieden – der Frieden des Fortgehens - auf das Wort hin, das der Herr dieser beiden alten Leute sagt.

Dieses Bild von den beiden alten Leuten im Tempel in Jerusalem, die ihren Frieden gefunden ha­ben, ist ein ungemein tröstliches Bild. So wünsche ich es mir auch für mich – dass ich den Frieden finde, unter dem mein verbleibendes Leben Ängste, Sorgen, Unruhe hinter sich lassen kann. Mehr noch: Mir ging es so, als ich mich während der Predigtvorbereitung in dieses Bild auf dem Tempel­platz in Jerusalem versenkt habe, dass dieser Friede der beiden alten Leute  - dass  diese umfassende Ruhe im Angesicht all der Lasten, die das Leben mit sich bringt, mich bereits erreicht hat.

Denn es ist ja so: Nur auf den ersten Blick unterscheiden sich Simeon und Hanna durch ihre Geist­beziehung von uns. Wenn wir nämlich die Erzählung des Lukas weiter anhören – wenn wir zum 2. Kapitel seines 2. Buches – der Apostelgeschichte - kommen: dann sind wir wieder in Jerusalem und hören, wie Petrus am Pfingsttag erklärt: „Hier geschieht, was durch den Propheten Joel gesagt wor­den ist: Und es wird geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da werde ich von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch.“ Also so, dass alle Glieder der Gemeinde Jesu - so, dass auch ich die Gnadengabe erhalte, den Trost Israels und die Erlösung Jerusalems zu erkennen. Und daraufhin ge­hen zu können in Frieden – wie der Herr Simeons und Hannas es gesagt hat, der ja auch mein Herr ist.


Pfr. Dr. Tobias Kriener, Bonn