Im Gespräch mit Gott

Predigt von Sylvia Bukowski


© Fotoburo de Boer/Public Domain

Vor 20 ist Dorothee Sölle gestorben. Eine streitbare und zugleich höchst umstrittene Theologin. Eine, die ein kostbares Erbe hinterlassen hat. Ich möchte in diesem Gottesdienst an sie erinnern und einige ihrer Texte zu Gehör bringen.

Liebe Gemeinde,

Als Studentin bin ich hauptsächlich bei Theologen im Seminar gewesen, die von Karl Barth geprägt waren. Ähnlich wie ihr Meister wurden sie nicht müde, vor D. Sölle zu warnen, einer theologisch wie politisch äußerst aufmüpfigen Frau. Sie missachte zentrale theologische Inhalte, behaupteten sie, sie zerstöre die Kirche und ihre Traditionen, sie instrumentalisiere das Evangelium für ihre revolutionären politischen Ansichten. Der damalige rheinische Präses Beckmann warf Sölle sogar vor, mit ihrem politischen Nachtgebet in Köln verleite sie Christen zum Götzendienst. Wahrlich starker Tobak!

In ihrer Theologie ist mir D. Sölle bis heute tatsächlich in vieler Hinsicht fremd geblieben. Geschätzt habe ich sie allerdings als radikale, später auch feministische Aktivistin, die auf Kirchentagen leidenschaftlich gegen den Raubtierkapitalismus, die Aufrüstung und die Unrechtssysteme in der sog. 3. Welt, vor allem in Lateinamerika protestiert hat. Und wenn Sie D. Sölle gekannt haben, dann ist dieses kompromisslose politische Engagement vielleicht auch das, was Sie als erstes mit ihr in Verbindung bringen. Aber D. Sölle hatte noch eine ganz andere, zarte, innig fromme Seite, die ich erst vor kurzem entdeckt habe. Sie zeigt sich vor allem in ihren Gedichten.

Da kommt ihr Blick für den Schmerz der Menschen zum Ausdruck, die unter Gewalt und Ungerechtigkeit leiden, aber auch ihr Blick für den Schmerz Gottes, der mitansehen muss, was die Menschen aus seiner Welt, aus seiner guten Schöpfung machen. Poesie als Gebet heißt ein kürzlich erschienenes Buch, das biographische Stationen und zentrale Themen im Leben D.Sölles anhand ihrer Gedichte nachzeichnet. Diesen engen Zusammenhang von Poesie und Gebet, von Solidarität mit den Menschen und Solidarität mit Gott möchte ich Ihnen jetzt in meiner Predigt vorstellen und Ihnen damit vielleicht eine neue Dimension des Gebets eröffnen, die nicht nur die Welt, sondern auch Gott ins Gebet nimmt.

D.Sölle war immer fasziniert von Sprache. Sie hat neben Theologie auch Philologie und Germanistik studiert. Dabei hat sie die Poesie als Raum entdeckt, in dem Gott am besten zur Sprache kommen kann. Denn poetische und religiöse Sprache ähneln sich – in ihrem Bilderreichtum, in ihrem Wunsch, das Geheimnis des Lebens zu verstehen, Fäden zu spinnen zwischen Himmel und Erde. In einem Interview 1981 sagte sie: „Es gibt einen sehr schönen Satz bei Klopstock, dass einige Gedanken sozusagen nur an der Grenze zur rationalen Sprache ausgedrückt werden können. Dazu gehören Gedanken über Gott zum Beispiel - in gewöhnlicher Weise kann man überhaupt nichts über Gott sagen.“

Und Sölle will nicht nur über Gott reden. Sie redet auch mit ihm. Für sie gehört das Gebet ganz wesentlich zu ihrer Theologie. Allerdings nicht in der herkömmlichen Form, nicht mit den üblichen frommen Floskeln. Sölle sucht für das Gebet eine eigene Sprache, eine wahrhaftige Sprache, die die Wirklichkeit nicht ausblendet oder übertüncht:

ein neues herz

schaffe in mir gott ein neues herz
das alte gehorcht der gewohnheit
schaff mir neue augen
die alten sind verhext vom erfolg
schaff mir neue ohren
die alten registrieren nur unglück
und eine neue liebe zu den bäumen
statt der voller trauer
eine neue zunge gib mir
statt der gewaltverseuchten
die ich gut beherrsche
mein herz erstickt an der ohnmacht aller,
die deine fremdlinge lieben
schaffe in mir gott ein neues herz
und gib mir einen neuen geist
dass ich dich loben kann
ohne zu lügen
mit tränen in den augen
wenns denn sein muss
aber ohne zu lügen

Wenn Sölle mit Gott spricht, wenn sie betet und das Leiden der Welt vor ihn bringt, dann nicht in der Haltung, die unter Christ*innen weitverbreitet ist, so nach dem Motto:  Ich beschreibe dir, was falsch läuft und mich belastet und du, allmächtiger Gott, musst alles in Ordnung bringen. Sie spottet über die Erwartung „Papa wird’s schon richten.“ Denn Sölle sieht in Gott nicht mehr den Allmächtigen, der in die Geschichte eingreift und für alle Probleme eine Lösung hat.

Vor allem die Beschäftigung mit Auschwitz und dem millionenfachen Mord an dem jüdischen Volk, das doch das Volk Gottes ist, hat es ihr unmöglich gemacht, an Gottes Allmacht festzuhalten. Sie sieht Gott als einen, der mit seinem Volk gelitten hat, ohnmächtig, die menschliche Brutalität aufzuhalten. Um das zu schaffen, um der anhaltenden Zerstörung von Leben Einhalt zu gebieten, braucht Gott Verbündete,  Menschen, die seinen Traum von einer geheilten Welt teilen und bereit sind, konsequent und mutig nach seinem Willen zu handeln.

Ich dein Baum

Nicht du sollst meine Probleme lösen
sondern ich deine gott der asylanten
nicht du sollst die hungrigen sattmachen
sondern ich soll deine kinder behüten
vor dem terror der banken und militärs
nicht du sollst den flüchtlingen raum geben
sondern ich soll dich aufnehmen
schlecht versteckter gott der elenden
Ich will nicht aufhören mich zu erinnern
daß ich dein baum bin
gepflanzt an den wasserbächen
des lebens
Du hast mich geträumt gott
wie ich den aufrechten gang übe
und niederknien lerne
schöner als ich jetzt bin
glücklicher als ich mich traue
freier als bei uns erlaubt
Hör nicht auf mich zu träumen gott
ich will nicht aufhören mich zu erinnern
daß ich dein baum bin
gepflanzt an den wasserbächen
des lebens (4)

Der Gedanke, dass nicht nur die Menschen Gott brauchen, sondern umgekehrt, dass Gott die Menschen braucht, mehr noch: dass er auf sie angewiesen ist, dass Er von ihnen Hilfe, Trost und manchmal auch Widerspruch erwartet, wird in der christlichen Tradition oft übersehen. Der jüdischen Tradition ist dieser Gedanke dagegen sehr geläufig. Die Rabbinen haben in der Bibel an vielen Stellen die Trauer und Klage Gottes herausgehört. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Jesaja 40, wo wir lesen: tröstet, tröstet mein Volk, entdecken sie auch Gottes Bitte: tröstet mich, tröstet mich, mein Volk! Der jüdische Gelehrte Abraham Jehoschua Heschel hat seine ganze Philosophie des Judentums unter den Titel gestellt: Gott sucht den Menschen.

Aber auch  ohne die jüdische Tradition zu kennen brauchen Sie nur an die Lesung zu denken, die Sie vorhin gehört haben. Da wartet Gott förmlich darauf, dass Moses aus seinem wütenden Lass mich heraushört: lass mich nicht! Merke doch, dass hinter meiner Wut enttäuschte Liebe steckt zu dem Volk, das sich einen selbstgemachten goldenen Stier statt meiner zum Gott gewählt hat! Lass mich nicht allein in meinem Schmerz! Und Mose stellt sich tatsächlich Gott entgegen, lässt sich nicht ködern mit dem Angebot, mit ihm noch einmal ganz neu anzufangen. Er argumentiert mit Gott, in der Hoffnung, dass der sich von seinem tödlichen Zorn bekehrt und wieder zu sich selbst kommt, zu dem, was sein Wesen ausmacht: zu seinem Erbarmen. Mose verhält sich Gott gegenüber wie ein Freund, und wird in seinem Widerstand gegen Gottes Zorn gleichzeitig zum Tröster Gottes.
Auch Sölle kann sagen: Ich glaube an einen Gott, der den Widerspruch des Lebendigen braucht, der nicht nach ewigen Gesetzen regiert, die unabänderlich gelten...

Für sie ist es eine grundlegende Einsicht, dass das Verhältnis von Gott und Mensch nicht patriarchal, nicht eins von oben herab ist, sondern partnerschaftlich, und dass wir im Gebet mit Gott tatsächlich reden sollen wie mit einem Freund, nicht wie mit einem allmächtigen Vater, der eigentlich alles allein schafft und nichts anderes von uns braucht als unseren Gehorsam. Sölle will Gott nicht allein lassen in seiner Enttäuschung über die Menschen, die seine kostbare Schöpfung missbrauchen und zerstören.

Ich glaube an gottes gute schöpfung die erde
sie ist heilig
gestern heute und morgen
Taste sie nicht an
sie gehört nicht dir und keinem konzern
wir besitzen sie nicht wie ein ding
das man kauft benutzt und wegwirft
sie gehört einem anderen
Was könnten wir von gott wissen
ohne sie unsere mutter
wie könnten wir von gott reden
ohne die blumen die gott loben
ohne den wind und das wasser
die im rauschen von ihm erzählen
wie könnten wir gott lieben
ohne von unserer mutter
das hüten zu lernen und das bewahren
Ich glaube an gottes gute schöpfung die erde
sie ist für alle da nicht nur für die reichen
sie ist heilig
jedes einzelne blatt
das meer und das land
das licht und die finsternis
das geborenwerden und das sterben
alle singen das lied der erde
Lasst uns nicht einen tag leben und sie vergessen
wir wollen ihren rhythmus bewahren und ihr glück leuchten lassen
sie beschützen vor habsucht und herrschsucht: --

Weil sie heilig ist
lernen wir das heilen
Ich glaube an gottes gute schöpfung die erde
sie ist heilig
gestern heute und morgen

Der Theologe Fulbert Steffensky, sagt über seine Ehefrau D. Sölle:
Ihre Theologie, ihr Glaube, ihre Religiosität hat sich immer geschärft, gebildet an realen Situationen. ..Wahrheit ist konkret, diesen Satz von Brecht hat sie oft zitiert. Es gab für sie keine abstrakten Wahrheiten, sondern nur auf die Situation bezogene Wahrheiten und aus der Situation erhobene Wahrheiten.

Sölle hat nicht im akademischen Elfenbeinturm gelebt. Nie hat sie sich den Blick auf die Ungerechtigkeit und das Leid vieler Menschen vernebeln lassen. Ihre Gebete sind oft voller Wut über die heillose Welt, voller Klage und Anklage, voller Schmerz, aber auch voller Zärtlichkeit und Hochachtung für die Menschen, die der zerstörerischen Gier und Gewalt widerstehen. Manche von Ihnen hier erinnern sich vielleicht noch an den brasilianischen Bischof Helder Camara. Er war ein bedeutender Befreiungstheologe, hat die ersten Basisgemeinden gegründet und tapfer die Verbrechen der damaligen Militärdiktatur angeprangert. Über ihn schreibt Sölle folgendes Gedicht:

Der kleine alte bischof stand auf der Grenzlinie
Zwischen zutritt verboten und dem Land der freien
Und während eine nach der anderen zutrat
Zivil und ungehorsam
Und die hüter des gesetzes darauf warteten
Die zweihundert festzunehmen
Stand der alte würdenträger aus Brasilien und weinte....

Und der kleine alte mann aus einer hungergegend weinte als sie gefangen genommen wurden
Ehe man ihnen die handschellen anlegte
Küsste er ihre hände
Und segnete so
Unter tränen und küssen
Das zerbrechliche leben
Zivil und ungehorsam.

Die Erinnerung an ähnlich tapfere und mitfühlende Kämpfer für Menschenrechte hält sie auch in anderen Gedichten fest. Aber sie weiß und erlebt, was auch wir erleben: Trotz aller mutigen Aktionen geht die Ungerechtigkeit, die Gewalt und das Leiden vieler Menschen weiter. Immer wieder gibt es Rückschläge, selbst da, wo einmal tatsächlich Befreiung gelungen ist – Denken Sie nur daran, was inzwischen aus Nicaragua geworden ist, dem Land, dessen Weg in die Freiheit Sölle so leidenschaftlich hoffend begleitet hat. Aus dem berühmten Freiheitskämpfer von einst ist ein korrupter Autokrat geworden, und Ähnliches  ist nicht nur in Nicaragua geschehen. Die Beispiele kennen Sie. Und wahrscheinlich fragen auch Sie sich: Wie soll man diese Enttäuschungen aushalten? Wie soll man mit den täglich neuen Schreckensmeldungen leben, ohne abzustumpfen, ohne zynisch zu werden oder zu zerbrechen?

In einem Interview sagt Sölle: Ich glaube nicht, dass das ganz kaputt zu kriegen ist in den Menschen, das von Gott in uns, wie wir es im Christentum nennen. Natürlich kann ich das zumüllen, das von Gott in mir, das ist gar nicht schwierig, das machen wir täglich, aber man darf eigentlich nie vergessen, dass das in jedem Menschen drinsteckt, jüdisch gesagt, die teschuwa, die Umkehr, die ist in jedem Moment möglich.
In ihren Gedichten beschreibt Sölle, woraus sie Kraft schöpft, wenn Hoffnung und Zuversicht  ins Wanken geraten: Sie lebt von der Musik, von Freundschaften, die sie tragen, von der Liebe zu ihrem Mann und ihren Kindern.  Und  last not least von der Sehnsucht nach der Erfüllung biblischer Verheißungen:

Und ist noch nicht erschienen was wir sein werden
o gott der du alles geschaffen hast
wann wird es so weit sein
daß wir es sehr gut nennen wie du
wann werden wir sichtbar
wann wird die wahrheit scheinen
Wann wird man an unseren gärten und feldern sehen
hier wohnen die sanften kinder der erde
die das vergewaltigen nicht gelernt haben
und das plündern verlernten
hier wohnen kleine menschen
die die türme nicht in den himmel bauen
und die tiere nicht zu tode testen
Gott du freundin der menschen freund der erde
komm bald
mach uns sichtbar
töchter und söhne
in deinem reich (3)

D. Sölle hat die Menschen und sie hat Gott geliebt. Diese Liebe hat ihr die Ohren geöffnet für das laute, aber auch für das stumme Geschrei, das die Welt erfüllt. Sie hatte aber auch Augen für die überwältigende Schönheit von Gottes Schöpfung und die der menschlichen Kunst. In der Mystik hat sie im Alter einen Weg gefunden, mit Gott zu verschmelzen. Aber Mystik und politischer Widerstand gehörten für sie unlöslich zusammen.
Ihr Ehemann sagt: Sie war ein „widersprüchlicher Mensch.“ Sie hat die Kirche  aufs schärfste kritisiert und ist regelmäßig in den Gottesdienst gegangen, sie hat Vieles nicht geglaubt und doch bis zuletzt im Kirchenchor gesungen, sie war Revolutionärin und Mystikerin zugleich, nahm sich ausdrücklich „das Recht, ein anderer zu sein“ als der, auf den sie andere festnageln wollten. Und ich füge hinzu: wie nötig ist gerade dieses Recht, ein anderer zu sein, in unserer Zeit, die Menschen so eindimensional sieht und leichthin verurteilt...

Dorothee Sölle hat gekämpft, gearbeitet, diskutiert, demonstriert, sich eingemischt, den Mund nicht gehalten, sagt Steffensky. Und doch hat sie nicht gelebt, um zu kämpfen und zu arbeiten. Sie war zuhause im Spiel; in dem also, was sich nicht durch seine Zwecke rechtfertigt. Ihre Gelassenheit in allem Zorn hatte einen Grund, den sie in ihrem letzten Vortrag so formulierte: "Wir beginnen den Weg zum Glück nicht als Suchende, sondern als schon Gefundene." Und Steffensky kommentiert: Das ist die köstliche Formulierung dessen, was wir Gnade nennen.

Sölle war es ein Anliegen, dass Menschen sich ihrer Endlichkeit bewusst werden, und den Tod nicht verdrängen. Aber sie machte sich keine Gedanken über das Jenseits, und als sie selbst schwer krank wurde, wollte sie auch mit ihrem Mann nicht darüber sprechen. Das kriegen wir später, sagte sie. Bis dahin lebte sie trotzig gegen den Tod an, fast so wie es das Osterlied von Paul Gerhard beschreibt, in dem es heißt: Der Tod mit seiner Macht wird nichts bei mir geacht, er bleibt ein totes Bild und wär er noch so wild. Bei Sölle klingt das so:

Ich muß sterben
aber das ist auch alles
was ich für den tod tun werde
Alle anderen ansinnen
seine beamten zu respektieren
seine banken als menschenfreundlich
seine erfindungen als fortschritte der wissenschaft
zu feiern
werde ich ablehnen
All den anderen verführungen
zur milden depression
zur geölten beziehungslosigkeit
zum sicheren wissen
dass er ja sowieso siegt
will ich widerstehen
Sterben muss ich
aber das ist auch alles
was ich für den tod tu
Lachen werd ich gegen ihn
geschichten erzählen
wie man ihn überlistet hat
und wie die frauen ihn
aus dem land trieben
Singen werd ich
und ihm land abgewinnen
mit jedem ton
Aber das ist auch alles

Ihr Trost war nicht ein Weiterleben nach dem Tod. Sie würde ein Tropfen im Meer der Liebe Gottes, hoffte sie. Das war ihr genug. Und ist das nicht wirklich eine tröstliche Vorstellung?


Sylvia Bukowski