Joh 5, 39–47 am 1. Sonntag nach Trinitatis

eine Predigt von Paul Kluge

Liebe Geschwister,

der Predigttext für heute kommt aus dem Johannes-Evangelium. In dem heißt es ziemlich zum Schluss: „Dies ist geschrieben, dass ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist.“ Der eine oder die andere mag sich über diese Formulierung wundern, gebrauchen wir doch „Jesus Christus“ wie Vor- und Nachname. Ist aber nicht so: „Christus“ – auf Deutsch „der Gesalbte“ – ist ein Titel, ein Königstitel, im Hebräischen „Meschiach“, woraus unser „Messias“ geworden ist.

Das Volk Israel erhoffte, ersehnte sich einen Meschiach, einen Christus, seit es seine politische Selbständigkeit verloren hatte. Es wartete auf jemanden, der das Volk – wie Mose in Ägypten – aus Unfreiheit und Abhängigkeit herausführte.

Nun sagt das Johannesevangelium wie alle Schriften des Neuen Testament: Jesus von Nazareth ist der Meschiach, er ist der Christus. Viele konnten oder wollten das damals nicht glauben. Das ist heute nicht anders. Damit sich das aber ändert, schreibt Johannes sein Evangelium. Er schreibt es für Juden, und in einem Abschnitt wendet er sich gegen damalige Bibelforscher: Joh 5, 39 – 47

Ich stelle mir Johannes bei der Arbeit vor. Er hat davon erzählt, wie Jesus am Teich Bethesda einen Kranken geheilt hat, recht nahe beim Tempel, vor aller Augen – und das an einem Sabbath! Das hat die Frommen provoziert, und sie haben sich sehr fromm empört. So, wie alle das gern tun, die genau wissen, was richtig und was falsch ist.

An diese Geschichte fügt Johannes eine längere Erklärung an, wie er das oft macht. Und er macht das in der Form von Jesus-Reden. Dadurch bekommen seine Worte Gewicht und Autorität. Damit zeigt er auch: Es geht ihm um Christus und nicht um eigenen Ruhm. Johannes stellt sich damit ganz in den Dienst der Verkündigung.

Johannes sitzt also bei der Arbeit, obwohl es Sabbath ist. Die Tür steht offen, das hat er gern. Er war zum Gottesdienst in der Synagoge gewesen, hatte dort einen hitzigen Disput zwischen dem Rabbi und einigen Pharisäern erlebt. Um einen Jesajatext (Kap 34) war es gegangen, um den Untergang der Feinde Israels. Ein aktuelles Thema, wenn der Text auch schon über 700 Jahre alt war. Rabbi und Pharisäer hatten eifrig aus Mose und den Propheten zitiert. Doch je mehr sie sich auf diese Glaubenszeugen beriefen, umso heftiger waren sie aneinander geraten. „Woran liegt das nur“ ärgert sich Johannes jetzt, „dass die sich immer so ereifern, und dass sie nicht ruhig diskutieren können!“

Johannes steht auf, geht ans Fenster und blickt in den Innenhof. Der plätschernde Brunnen, die blühenden Blumen beruhigen ihn ein wenig. Doch eine Antwort auf seine Fragen findet er nicht.

„Störe ich, oder bist du bei der Arbeit?“ erklingt eine Stimme von der Tür her. Johannes dreht sich um. „Du störst nicht“, begrüßt er den Freund, „im Gegenteil. Du kannst mir beim Nachdenken helfen.“ – „Worum geht’s?“ Johannes schildert kurz, was ihn beschäftigt. 

„Nun, das kenne ich. Gehörte selber mal zu denen, die sich gegenseitig Bibelworte um die Ohren schlagen, sie wie Waffen gegeneinander benutzen. Jede dieser Gruppierungen wähnt, die ganze Wahrheit für sich allein gepachtet zu haben. Und dieses Wähnen wird manchmal zum Wahn.“

Johannes lacht über dieses Wortspiel und antwortet, ihm sei aufgefallen, dass die Streitenden oft nur unvollständige Sätze aus den Schriften zitiert hätten. „Das hat System,“ erklärt der Freund. Denn der geschichtliche Hintergrund werde außer Acht gelassen, jedes Wort bedenkenlos auf die Gegenwart angewandt. „Das geht besonders gut, wenn man einzelne Stellen aus ihrem Zusammenhang reißt“, ergänzte der Freund, „denn damit kann man sie immer passend machen.“

Johannes schaut wieder aus dem Fenster und bedenkt, was der Freund ihm gesagt hat; der Freund liest inzwischen, was Johannes neu geschrieben hat.

„Mir ist aufgefallen“, sagt Johannes schließlich, „dass diese Leute sehr am Wortlaut kleben, ohne auf den Wortsinn zu achten. Kann es sein, dass sie die Verpackung mit dem Inhalt verwechseln?“

„Das ist ein treffendes Bild“, lobt der Freund, „ich würde noch einen Schritt weiter gehen: Sie glauben nicht an Gott, sondern an das, was bei Mose und den Propheten über Gott geschrieben steht. In ihrer Buchstabengläubigkeit sind sie nicht fähig, die Worte zu erkennen und zu deuten. Und darum können sie nicht erkennen, wo die Propheten vom Christus sprechen.“ – „Ja, klar“, reagiert Johannes, „und darum können sie nicht glauben, dass Jesus der Christus ist. Das passt einfach nicht zu ihren eigenen Vorstellungen. Und daran zweifeln sie natürlich nicht.“

„Nein“, pflichtet der Freund bei, „das ginge ihnen gegen die eigene Ehre. Doch wenn einer kommt und sie in ihrer Meinung bestärkt, den verehren sie. Schauen mit glänzenden Augen zu ihm auf und vergöttern ihn. Dass sie damit Gott entehren, kommt ihnen nicht in den Sinn. Weiß du, was ich befürchte?“

Johannes sieht seinen Freund abwartend an. Der schweigt, die Stirn voller Sorgenfalten. „Was denn“, fragt Johannes schließlich und ein wenig ungeduldig. „Ich fürchte“, sagt der Freund schließlich langsam und leise, „ich fürchte, es wird auch bei uns bald solche Menschen geben. Menschen, die das, was du da schreibst, wortwörtlich nehmen – und es eben damit nicht ernst nehmen.“ – „Das will ich mir merken“, begeistert sich Johannes, „Man kann die Bibel ernst nehmen – oder wortwörtlich!“

Dann stellt er fest: „Wir müssen die Menschen lehren, die Schriften zu verstehen, die alte Sprache zu deuten. Dann werden sie glauben, dass Jesus der Christus ist und Gott allein die Ehre geben. Und jetzt entschuldige mich ein Weilchen, ich will ein paar Sätze aufschreiben.“

„Schreib nur, ich bleibe. Und wenn du fertig bist, liest du mir sicherlich vor?“ Das verspricht Johannes und beginnt zu schreiben, durchzustreichen, wieder zu schreiben. Dann lehnt er sich zurück und liest, was der Heidelberger Theologe Klaus Berger im Jahre 2001 so übersetzen wird: „Ihr durchforscht die Schrift, weil ihr meint, in ihr stecke das ewige Leben. Doch die Schrift ist nur ein Zeugnis für mich. Ihr aber wollt nicht zu mir kommen, sondern weist das Leben ab. Ich bin auf Ehrungen von Menschen nicht angewiesen. Daher macht es mir nichts aus, wenn ihr mich nicht ehren wollt. Aber es macht mir wohl etwas aus, wenn ich erkennen muss, dass ihr Gott nicht liebt. Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, und trotzdem nehmt ihr mich nicht an. Andere Leute, die in ihrem eigenen Namen kommen, nehmt ihr gerne an. Wie könnt ihr auch zum Glauben finden, wenn ihr euch von menschlichen Ehrungen abhängig macht und gleichzeitig die Ehre und Herrlichkeit, die Gott euch schenken möchte, zurückweist. Ihr müsst nicht glauben, dass ich euch beim Vater verklagen werde. Aber Mose klagt euch an, er, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt hattet. Hättet ihr Mose geglaubt, dann könntet ihr auch an mich glauben, denn seine Schrift handelt von mir. Wenn ihr schon seiner Schrift nicht glaubt, wie sollt ihr dann meinen Worten glauben können?“ Amen


Paul Kluge, Pfarrer i.R., Leer, Juni 2011