Jom Kippur mitten im Alltag

Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 14. Kapitel


Jom Kippur auf der Autobahn

Let's talk about the Weather - Kein versöhnendes Gebet ohne Organisation - ani rotsa kafeh

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Inhalt Tagebuch

Tobias Kriener erzählt:

Perfektes Wetter

10./(11).10.2016

Hatte ich eigentlich schon gesagt, dass wir gerade perfektes Wetter haben? Mittags wird's noch richtig warm, aber morgens und abends ist es angenehm kühl, und im Schatten auf der Terrasse des Chader Ochel sitzt es sich zu jeder Tageszeit sehr angenehm.

In der Nacht scheint allerdings irgendein Bauer in der Umgebung was abzufackeln – ein unangenehmer Brandgeruch legt sich über Nes Ammim und man muss leider die Fenster zumachen und hat nichts von der frischen Nachtluft.

Gestern Abend war Jonas von EAPPI (Ecumenical Accompaniment Programme for Palestine and Israel) mit zweien der Volontäre hier, und sie haben uns von ihrer Arbeit erzählt: Wie sie Palästienser_innen an Checkpoints, an den Gates im Zaun oder Kinder auf dem Schulweg in der Nähe von Siedlungen begleiten. Der Bedrängung durch Siedler steht die Unterstützung durch israelische NGOs oder auch durch israelische Soldaten gegenüber (im Süden Hebrons begleiten sie wohl die Schulkinder auf einer Straße zwischen einer Siedlung und einem Siedlungs-Outpost hindurch, wo die Kinder sonst Belästigungen ausgesetzt wären). Aber es ist natürlich ein kleiner, bescheidener Einsatz gegen Windmühlenflügel.

Hinter der Bar aufgeräumt!

11.10.2016

Heute Mittag hat das RCC (Recreation and Culture Committee – hier gibt's für tausend Sachen Komitees, ist fast wie im Sozialismus; naja – Nes Ammim versteht sich ja auch als eine Art Kibbuz) hinter der Bar den Raum und die Terrasse aufgeräumt. Jetzt kriegt man richtig Lust, sich da auch mal aufzuhalten! Es geht allenthalben voran!

Dann Ulpan (Hebräisch-Sprachkurs); heute früh sagte mir eine von den Volos, dass sie sich schon auf den Hebräischunterricht freut; man, Leute – das geht vielleicht runter...; Nina – die Assistentin von Rainer – hatte mir ja prophezeit, die Beteiligung am Ulpan würde nach wenigen Wochen rapide abnehmen; davon kann bisher überhaupt keine Rede sein; und diese Reaktion gibt mir nun endgültig das Gefühl, irgendwas ziemlich richtig zu machen – ich hab' zwar überhaupt keine Ahnung, was, weil ich keinerlei Erfahrung und Vergleichsmöglichkeiten habe; aber das Gefühl ist unglaublich gut, sage ich Euch!

Seit dem Abendessen gab's Plastikgeschirr und -besteck (weil der dishwash nicht laufen darf): Jom Kippur. Bis morgen Abend kalte Küche.

Heute Abend erster Teil des Alpha-Kurses – so eine Sorte Glaubenskurs. Habe ich ja noch nie mitgemacht. War ein richtig gutes Gespräch. Nächsten Dienstag ist das Thema: Wer ist Jesus? Da haben wir uns ja gigantisch was vorgenommen; ein Glück, das Katjas Bibliothek noch nicht da ist – da würden wir bis zu den Hüften in Literatur zum Thema waten...

Jom Kippur – nicht ganz wie geplant...

12.10.2016

Am Jom Kippuer erwies sich wieder einmal, wieviel der neue Coordinator of Studies (auch genannt: der neue Rainer) noch zu lernen hat.

Zunächst, finde ich, hat er mal wieder einiges richtig gemacht: Wir sind – anders als in den Jahren davor – nicht mit dem Auto nach Mazra'a gefahren und erst von da zu Fuß nach Naharija, sondern den ganzen Weg zu Fuß gegangen, denn Nes Ammim ist inzwischen eine so israelische Siedlung geworden, da wäre das nicht gut angekommen – zumal wirklich im letzten Haus auf der linken Seite vor dem Tor nach draußen eine ziemlich religiöse Gesellschaft mit Tallit und allem drum und dran zugange war.

Der Weg bis Mazra'a fühlte sich allerdings gar nicht nach Jom Kippur an: Er war heute reichlich befahren von den Arabern, die zwischen Mazra'a und Abu Sneen unterwegs waren. Von mitten auf der Straße gehen war also eher abzuraten.

Weil wir den Abmarsch in weiser Voraussicht eine halbe Stunde vorverlegt hatten, kamen wir dann pünktlich um drei wie geplant bei der Reformsynagoge an – bzw. bei dem Gebäude, wo sie sonst ihre Gottesdienste abhalten. Heute aber war alles verrammelt. Und das war der große Faschla (Missgriff, Fehler, Versagen, Vermasseln...) des CoS: Dass ich nicht vorher nochmal angerufen habe. Sollte man immer machen – und speziell in Israel. Habe ich einfach nicht für nötig gehalten, weil ich dachte: Ich kann' mich mit denen ja jetzt aus. Aber anscheinend haben sie ihren Jom-Kippur-Service in ihrem anderen Refugium – irgendeinem Bunker an einer Adresse, die natürlich keiner dabeihatte – und ich hatte auch mein Telefon zurückgelassen – und naja, ich kenn mich eben nicht aus.

So sind wir dann durch die autofreien und dafür von den Kids mit ihren Fahrrädern unsicher gemachten Straßen Naharijas zum Strand, haben uns erst mal von den Strapazen von 9 km Laufen mitten auf der Autobahn erholt, und sind dann gemütlich die Küste entlang zurück nach Shavei Zion und über die Kreuzung bei Regba, wo wir auf Andreas und Beate trafen, weiter nach Nes Ammim. Von der sonst so vielbefahrenen Kreuzung bei Regba im Anhang ein paar der typischen Jom-Kippur-Bilder: CoS mit lächelnden Volos (und das nach inzwischen 13 km Marsch) mitten auf der Kreuzung. Beate übrigens, total solidarisch, hat den wunden Füßen gleich ihr Fahrrad zur Verfügung gestellt und ist den Rest des Weges mit uns zu Fuß gegangen!

Jetzt habe ich an den Füßen unzählige Blasen und spüre jeden Knochen von den Hüften abwärts. Denn 18 km auf Asphalt bin ich schon ewig lange nicht mehr gelaufen. Das wird jetzt mein Jom-Kippur-Feeling sein.

Abends dann haben wir einen Riesenschritt in Richtung 9. November geschafft. Jetzt bin ich zuversichtlich, dass das doch eine Sache wird, die zum Punkt kommt und die Menschen erreichen wird.

Ivrit in freier Wildbahn

13.10.2016

Heute habe ich meine Talmidim weTalmidot (Schüler und Schülerinnen) ein bisschen bestochen: Sie mussten erstmals „in freier Wildbahn“ – nämlich im Strandcafé von Schavei Zion – auf Ivrit ein Getränk oder ein Eis ordern, und ich hab's ihnen ausgegeben. Es klappte auch schon ganz gut mit „ani rotsa kafeh“ und „bischwili glida, bewakaschah“ und „todah rabah“ und „lehitraot“. Und während wir unser Eis geschleckt oder unseren „kafeh hafuch“ geschlürft haben, haben wir noch ein bisschen gezählt: achat, schtajim, schalosch... Nächster Schritt wird dann die Falafelbude, und dann der Pinguin und so weiter...

Ansonsten rückt der Einzug ins Haus immer näher: Die neue Terrassentür ist eingebaut, der defekte Wasserhahn im Klo ausgetauscht; jetzt geht's nur noch um Kleinigkeiten.

Heute Abend beim Bar Evening galt es wieder Durchhaltevermögen zu zeigen, denn wir mussten in Naomis Geburtstag reinfeiern. Aber jetzt kann ich ins Bett.


Dr. Tobias Kriener, Studienleiter in Nes Ammim, Oktober 2016
Leben in Israel zwischen Golan und Sinai, Mittelmeer und Jordan, unter Juden, Muslimen, Christen, Agnostikern,Touristen, Freiwilligen - Volontären, Israelis, Palästinensern, Deutschen, Niederländern, Schweden, Amerikanern undundund

Ein Fortsetzungs-Tagebuch auf reformiert-info. Von Tobias Kriener