Nimm die Liebe an, die Gott dir schenken will

Predigt zum Doppelgebot der Liebe - aus der Predigtreihe 'Liebe'


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Von Stephan Schaar

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! AMEN.

Ob das Gebot “du sollst lieben!” - Gott und deinen Nächsten wie dich selbst - als Aufforderung zu verstehen ist, romantische oder zärtliche Gefühle zu entwickeln, haben wir uns zu Beginn der Themenreihe im Januar gefragt. Diese Frage stellen, heißt, sie zu verneinen: Gefühl auf Verlangen? - Das geht nicht!

Die Liebe ist langmütig, heißt es im 1. Korintherbrief, sie sucht nicht das Ihre, sie freut sich an der Wahrheit und strebt nach Gerechtigkeit. Und noch manches mehr. Sie ist kein hormonbedingtes Chaos in rosarot, das mit Selbstzweifeln und der quälenden Frage einhergeht: “Werde ich denn geliebt? Bin ich überhaupt liebenswert?”

Liebe Gemeinde: Das nüchterne schlichte Tun dessen, was die Situation erfordert, wenn jemand oder ein Lebenwesen oder die ganze Schöpfung Not leidet - das ist sehr wohl der Inhalt des biblischen Doppelgebotes der Liebe.

Wobei: Sind es eigentlich zwei oder sogar drei Gebote in einem?

Du sollst Gott lieben.

Du sollst deinen Nächsten lieben.

- Wie dich selbst. Also sollst du dich selbst auch lieben, meinen manche.

Andere finden, so etwas zu gebieten sei überflüssig; denn jeder psychisch gesunde Mensch liebt sich doch selbst.

Und in der Tat ergibt ein Blick in den Bibeltext [Lev 1918], dass der “Nächste” eigentlich ein Genosse oder Gefährte ist - dazu ein andermal - und dann nicht extra geboten wird, sich selbst ebenfalls zu lieben, ja nicht einmal gesagt wird, dass man sich selbst auch irgendwie liebt; sondern es heißt schlicht: Er ist wie du.

Er oder sie ist ein Mensch mit all den Bedürfnissen, Ängsten, Sehnsüchten, die du sehr gut kennst, weil sie auch in dir wohnen.

Der da und die da hat Hunger, benötigt ein Bett für die Nacht, hat Durst und braucht mitunter auch ein gutes Wort, eine Umarmung, menschliche Wärme.

Geh nicht achtlos vorüber an den Menschen, sondern kümmere dich um deinesgleichen!

Das sagt das Gebot.

Aber es verweist dabei auf einen selbst.

Das heißt, es setzt voraus, dass man sich selbst liebt.

Klar gibt es auch Menschen, denen man immer wieder in Erinnerung rufen muss, dass sie nicht vergessen sollen, auch mal an sich zu denken.

Im Gesprächskreis am Dienstag wurde das Beispiel aufgerufen, dass in Flugzeugen stets die Aufforderung zu lesen ist, im Ernstfall erst sich selbst die Sauerstoffmaske aufzusetzen und erst dann anderen zu helfen. Sonst ist am Ende ja niemandem geholfen.

So erzählte es auch eine Teilnehmerin von ihrem Arbeitsumfeld: Die eifrige Mitarbeiterin, der man ihre 140 kg Körpergewicht ansieht, hat stets Hunger, vor allem danach, gebraucht zu werden, reißt alles an sich - bis es ihr eines Tages zu viel wird und sie damit droht, aus dem Fenster zu springen, weil alles auf ihr lastet: die Verantwortung, der Stress, ihre eigene Unzufriedenheit damit, die selbstgesteckten Ziele nicht erreichen zu können.

Helfersyndrom nennt man das, “wenn Frauen zu sehr lieben”, wie ein Buchtitel vor längerer Zeit dies ausdrückte. Hier hat jemand so viel Sehnsucht danach, gesehen und geliebt zu werden - und liebt sich selbst so wenig -, dass auch die bestgemeinte Liebe zum Nächsten zum Scheitern verurteilt ist, weil man blind drauflos legt, statt erst einmal zu überlegen, was getan werden sollte und man selber zu tun in der Lage ist.

Und dann kommt die Fresssucht oder die Magersucht oder irgendeine andere Flucht ins Extrem.

Solchen Menschen sollte zugesprochen werden: “Du darfst und du sollst dich selbst lieben!”

Dasselbe gilt für Leute, die in einer Depression stecken - wobei es leider nicht damit getan ist, mit guten Worten ermutigen zu wollen; es bedarf medizinischer Hilfe. Wer keine Kraft aufbringt, das Leben zu genießen, obwohl die Sonne für sie oder ihn ebenso scheint wie für alle anderen Menschen, wer schon an kleinen alltäglichen Routinen scheitert, immer wieder in dieselbe Ausweglosigkeit gerät, der und die braucht eine Therapie und sehr viel Geduld.

Meist lassen sich lediglich Strategien erlernen, mit bestimmten Problemstellungen besser zurechtzukommen. In der frühen Kindheit erlittene Defizite belasten oftmals jahrzehntelang, liegen wie ein Schatten über dem ganzen Leben einer (von außen betrachtet) womöglich in besten Konditionen lebenden Person mit geradezu beneidenswerter Gesundheit, Familie, Beruf, Einkommen, Einfluss, Geschick, Aussehen - was auch immer.

Hier möchte man in die Abgründe der Verzweiflung hinein sprechen: “Auch du bist ein geliebtes Kind Gottes. Nimm die Liebe an, die Gott dir schenken will!” Doch dringt das durch? - Nur, wenn es gelingt, jemandem zu zeigen, dass er oder sie tatsächlich geliebt wird, angenommen ist, dazugehört.

Ebenso schwer zu erreichen sind vermutlich die, die sich am anderen Ende der Skala befinden: Jene, die sich so sehr lieben, dass danach lange nichts mehr kommt, womöglich gar nichts mehr.

Um sich selbst kreisen - das ist eine Kurzdefinition für Egoismus oder Egomanie. Luther formulierte seinerzeit, dass der in sich selbst gekehrte Mensch sozusagen der Prototyp des Sünders sei - weil er eben weder den Nächsten noch Gott sieht, sondern nur sich selbst und sein eigenes Wohlergehen.

Ruft man solche Leute dazu auf, dem Doppelgebot der Liebe Folge zu leisten, kann schon mal die patzige Antwort kommen: “Jeder ist seines Glückes Schmied.”

Ja, man muss schon auch was tun und nicht nur die Hände in den Schoß legen; das ist richtig. Aber haben alle dieselben Voraussetzungen, um glücklich leben zu können?

Ich möchte eine kleine Geschichte vorlesen:

“Rebbe, ich verstehe das nicht: Kommt man zu einem Armen, der ist freundlich und hilft, wo er kann. Kommt man aber zu einem Reichen, der sieht einen nicht mal. Was ist das bloß mit dem Geld?”

Da sagt der Rabbi: “Tritt ans Fenster! Was siehst du?”

“Ich sehe eine Frau mit einem Kind. Und einen Wagen, der zum Markt fährt.”

“Gut. Und jetzt tritt vor den Spiegel. Was siehst du?”

“Nu, Rebbe, was werd’ ich sehen? Mich selber.”

“Nun siehst du: Das Fenster ist aus Glas gemacht, und der Spiegel ist aus Glas gemacht. Man braucht bloß ein bisschen Silber dahinter zu legen, schon sieht man nur noch sich selbst.”

Vorsicht, liebe Gemeinde: Wer jetzt das Bedürfnis hat, diese zugegebenermaßen unterkomplexe Schwarzweißmalerei zurückzuweisen, prüfe bitte erst einmal, wieviel Silber ihm oder ihr womöglich den Blick versperrt auf eben jene Menschen, die es so zu lieben gilt wie sich selbst, statt einfach die Parole auszugeben: “Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!” - im Sinne von: “Bleib mir bloß weg mit deinen Problemen, ich habe genug eigene!”

Ich denke, das ist augenblicklich eines unserer gesellschaftlichen Hauptprobleme: Das Geld ist knapper geworden als früher; die fetten Jahre sind längst vorbei, in denen soziale Unwucht durch staatliches Handeln entscheidend abgefedert werden konnte und wurde.

Jetzt fühlen sich eine Menge Leute alleingelassen. Auch unter denen, die wirtschaftlich bessergestellt sind, fürchten sich viele vor einem Abstieg und wollen ihren Besitzstand verteidigen gegen Konkurrenten und Neider.

Nicht nur im Scherz meint so mancher: “Alle denken immer nur an sich; nur ich denke an mich.”

Aber das ist ein Trugschluss. Zwar stimmt es: Wenn jeder an sich denkt, dann ist an alle gedacht; aber dann lebt jeder und jede für sich allein, statt miteinander und füreinander und einer mit Hilfe des anderen.

Das ist nicht das Konzept Gottes.

Wer seinen Acker bebaut, hat genug Brot, wer aber Nichtigem nachjagt, hat genug Armut, heißt es im Buch der Sprichwörter Israels (29,19), und Jesus sagt (Joh 10,10): Ich bin gekommen, damit sie das Leben in Fülle haben.

Wir sollen lieben, heißt es in der Bibel; aber das ist keine voraussetzungslose Forderung an uns, sondern nichts anderes als ein Weitergeben und Zurückgeben dessen, was wir zuvor empfangen haben: Liebe Gott und deinen Nächsten, denn Gott hat dich zuerst geliebt, und er will nicht, dass der Mensch allein sei; deshalb hat er ihr und ihm Gefährtinnen und Gefährten zur Seite gestellt, die er ebenso liebt wie dich.

Ich habe ihnen, sagt Jesus [Joh 17,22-26], die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, so wie wir eins sind:

Ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt und sie geliebt hast, so wie du mich geliebt hast. Vater, ich will, dass dort, wo ich bin, auch all jene sind, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast, denn du hast mich geliebt vor Grundlegung der Welt.

Die Welt, gerechter Vater, hat dich nicht erkannt, ich aber habe dich erkannt, und diese hier haben erkannt, dass du mich gesandt hast.

Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen.

Amen.


Stephan Schaar