Noli me tangere!

Osterpredigt über Joh 20,11-17 für Unberührbare


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Von Pfarrer Jürgen Kaiser, Berlin

Der Kalender meldet, heute sei Ostern. Ist heute wirklich Ostern? Wir dürfen nicht zusammenkommen, um Ostern zu feiern. Wir müssen Abstand voneinander halten. Wir dürfen uns nicht berühren.

Die Situation hat durchaus Ähnlichkeit mit Ur-Ostern. Dieses allererste Ostern war nämlich kein rauschendes Fest mit einer großen Gemeinde, die alle Gott „in ungetrübter Freude“ mit einer Stimme lobten. Das war erst nach Pfingsten so. (Apg 2,46) Dieser allererste Sonntag fing im Dunkeln an, mehr mit Verwunderung als mit Freude, mehr mit Fragen als mit Antworten, zart und anrührend, aber ohne Berührungen. Eine, maximal zwei Personen begegnen uns am Ostermorgen. Jeder mehr für sich als zusammen.

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Maria, seine Freundin aus Magdala, kam ganz früh am Tag nach dem Sabbat zum Grab. Sie kam allein. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Der Stein, der das Grab verschloss, war weg, soviel konnte sie erkennen. Sie wollte nicht ins Grab hineinschauen. Das überließ sie den Männern. Johannes kam. Dann kam Petrus. Petrus ging ins Grab hinein und sah. Eigentlich sah er nichts. Das Schweißtuch und die Binden sah er. Aber IHN sah er nicht. Keiner konnte verstehen, was nicht zu sehen war. Und erst recht konnte keiner verstehen, dass nichts zu sehen war. Die Männer gingen wieder. Wo es nichts zu verstehen gibt, muss man nicht verweilen. Trauern konnten die Männer nicht. Maria konnte es. Sie blieb. Und weinte. Es war kein Ort zum Verstehen, es war ein Ort zum Weinen.

Während sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein. Und sie sieht zwei Engel sitzen in weißen Gewändern, einen zu Häupten und einen zu Füssen, dort, wo der Leib Jesu gelegen hatte. Und sie sagen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie sagt zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Das sagte sie und wandte sich um, und sie sieht Jesus dastehen, weiß aber nicht, dass es Jesus ist. Jesus sagt zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Da sie meint, es sei der Gärtner, sagt sie zu ihm: Herr, wenn du ihn weggetragen hast, sag mir, wo du ihn hingelegt hast, und ich will ihn holen. Jesus sagt zu ihr: Maria! Da wendet sie sich um und sagt auf Hebräisch zu ihm: Rabbuni! Das heißt ‹Meister›. Jesus sagt zu ihr: Fass mich nicht an!

Kontaktverbot. Abstand halten! Auch hier, schon gleich am Urostermorgen. Nicht behördlich angeordnet, sondern vom Meister verfügt. Wenn Jesus infiziert ist, dann doch von nichts anderem, als vom Leben selbst! Sich von der Vitalität des Auferstandenen anstecken zu lassen - was könnte heilsamer sein?

Doch in dem Moment, in dem Maria ihn erkennt, ruft er: „Fass mich nicht an!“ Man sieht ihn dabei förmlich zurückweichen. „Noli me tangere!“, die Warnung Jesu im Wortlaut der lateinischen Bibelübersetzung (Joh 20,17 Vulgata) ist fast sprichwörtlich geworden. Aber wofür steht sie eigentlich? Sicher ist es kein Abstandgebot, um nicht infiziert zu werden. Ich denke, es ist eine Warnung an die, die diese Erzählung lesen oder hören.

Das Anfassen und Berühren steht hier für das Untersuchen eines Sachverhalts mit allen zur Verfügung stehenden Sinnen. Fass mich nicht an! Berühr mich nicht! Nimm Abstand davon, mich zu untersuchen! Versuch erst gar nicht, mich zu überprüfen. Du kannst nicht aufnehmen und festhalten, was du siehst, du kannst nicht aufnehmen und festhalten, was du hörst. Du kannst diesen Moment nicht haltbar machen, nicht objektivieren und ihn deshalb als solchen auch nicht weitergeben. Wenn es doch irgendwie gelänge, diesen Moment der Begegnung aufzunehmen, haltbar zu machen und anderen vorzuführen - die anderen würden nicht sehen, was du gesehen hast, nicht hören, was du gehört hast.

„Noli me tangere“, steht im Kontext des Johannesevangeliums als Warnung vor dem Versuch, den Glauben an den Auferstandenen auf eine objektive Verifizierbarkeit zu gründen. Der Auferstandene ist kein Gegenstand der Empirie. Das bezieht sich nicht nur auf das Sehen oder Berühren. Es bezieht sich sogar auf das Hören. Denn nicht am Klang seiner Stimme hat Maria ihn erkannt, sondern an dem, was er sagte, daran, dass er sie mit Namen anredete, dass er sie also kannte. Dass Jesus Christus auferstanden ist und lebt, ist nicht empirisch zu belegen. Wir können nicht davon überzeugt werden, wenn wir ihn berühren. Wir können nur davon überzeugt werden, wenn Er uns berührt, wenn Er uns anrührt mit dem, was er sagt.

Menschen, die gebildet klingen wollen, sagen manchmal: „Das tangiert mich nicht!“, wenn sie festhalten wollen, dass etwas sie nicht betrifft oder nicht angeht. Wen es nicht tangiert, dass Jesus lebt, der würde auch durch Anfassen nichts gewinnen. Wenn Maria damals ein Smartphone gehabt und draufgehalten hätte und das Bild per WhatsApp in alle Welt verbreitet hätte, würden die Empfänger, die es nicht tangiert, die es nicht brauchen und die nichts mehr rührt, was von Jesus kommt, per WhatsApp zurückfragen: „Was ist der Witz an einem Gärtner?“

Aber dass sie ihren Namen gehört hat, das ist es, was Maria rührte. Und das reicht. Da muss man gar nicht nachfassen und anfassen. Mehr Wahrheit als in der Wahrhaftigkeit einer solchen Anrührung kann es nicht geben.

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„Noli me tangere!“ – „Fass mich nicht an, berühr mich nicht!“ Das Johannesevangelium wurde allerdings nicht in lateinischer sondern in griechischer Sprache geschrieben. Den griechischen Satz me mou haptou! könnte man auch mit „Halte mich nicht fest!“ übersetzen.

Auch dann wäre es eine Warnung an uns. Du kannst das, was war, nicht festhalten! Maria hatte eine Geschichte mit Jesus. Dann ist Jesus gestorben. Maria trauert. Dann ist er plötzlich wieder da. Und doch wird nichts so sein, wie es vorher war. Auch wenn Jesus wieder da ist, wird es nicht so sein, wie es vorher gewesen ist. Nach Ostern ist nicht einfach wie vor Ostern. Jesus ist nicht der alte. Er ist der Auferstandene. Das Leben ist nicht das alte. Es ist ein neues Leben.

Der Tod ist besiegt. Wenn auch das Coronavirus besiegt sein wird, wenn wir das Leben wieder leben dürfen, wie das Leben gelebt werden will, nämlich mit den anderen zusammen, in Gesellschaft, in spürbarer Gemeinschaft, mit Händeschütteln und Umarmen, mit sich anfassen, sich anreden, sich anlachen, sich anschreien, sich anklatschen – wenn all das wieder sein wird, was zum Leben gehört, dann ist in diesem Jahr Ostern. Ostern ist nicht, wenn es im Kalender steht. Ostern ist dann, wenn das Leben blüht. Vielleicht zu Pfingsten. Aber dieses Leben, das wiederkommen wird, wird nicht mehr das alte Leben sein. Das lässt sich nicht festhalten. Das wiedererlangte Leben nach dieser Corona-Passion wird ein anderes Leben sein, als das Leben vor Corona. Wir werden andere sein als zuvor, die Gesellschaft wird eine andere sein als zuvor.

Wir werden die Arbeit der Krankenschwestern und Altenpfleger als eine dauerhaft systemrelevante Arbeit hochschätzen und sie entsprechend entlohnen. Wir werden aufhören, am Gesundheitswesen zu sparen. Wir werden gelernt haben, dass es unnötig ist Klopapier zu horten, aber nötig ist, Atemschutzmasken zu horten. Wir werden gelernt haben, dass man zu Ostern keine Flugreisen in ferne Erdteile oder Kreuzfahrten machen muss, um glücklich zu werden. Vielleicht wird es uns gelingen, die Klimaziele en passant zu erreichen, ganz ohne Anstrengung und ohne Verzicht, weil das, was im alten Leben ein Verzicht zu sein schien, in Wahrheit ein Gewinn ist. Vielleicht wird die Welt sogar mit einem Negativwachstum ihrer Wirtschaft gut leben. In der Welt vor Corona war das undenkbar. Aber manchmal muss man das Undenkbare erst durchgemacht haben, bevor es denkbar wird. Und dann können wir auch wieder die Wörter ehrlich machen und Schrumpfung oder Verkleinerung sagen statt „Negativwachstum“; man sagt ja zum Herbst auch nicht „Negativfrühling“ und zum Leben nicht „Negativtod“.

Im Hinblick auf das neue Leben wäre „Negativtod“ allerdings gar nicht so unpassend. Denn seit Gott in Christus den Tod besiegt hat, leben wir im Horizont der Negation des Todes. Zwar treibt der Tod noch sein Unwesen, aber der Tod wird nicht ewig leben. Die, die gestorben sind, und die, die sterben werden, werden bei Gott leben. Und wenn wir einen Impfstoff gegen das „Kronen“-Virus entwickelt haben und wenn wir alle immun geworden sind, dann haben wir dem von Gott schon bezwungenen Tod wieder einen Zacken aus der Krone gebrochen. Das Leben wird immer stärker, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, von Ostern zu Ostern, von Krise zu Krise. Es braucht Zeit, das zu merken. Wenn wir es aber merken, dann wird es uns auch tangieren und berühren, interessieren und angehen, fröhlich machen und verändern. Dann werden wir uns alle sehr nahe sein und mitten unter uns wird Er sein. Amen.


Jürgen Kaiser