Sehen und fühlen

Predigt zu Joh 20,19–20 (21–23) 24–29 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 7. April 2024 (Quasimodogeniti)


Caravaggio: Der ungläubige Thomas (Ausschnitt) © Wikicommons

Von Bärbel Husmann

Liebe Gemeinde,

der Predigttext für heute steht im Johannesevangelium im 20. Kapitel.

19Es war Abend geworden an diesem ersten Wochentag nach dem Schabbat. Die Jünger waren beieinander und hatten die Türen fest verschlossen. Denn sie hatten Angst vor den jüdischen Behörden. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: „Friede sei mit euch!“
20Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Die Jünger freuten sich sehr, als sie den Herrn sahen.
24Thomas, der auch Didymus genannt wird, gehörte zum Kreis der Zwölf. Er war nicht bei ihnen gewesen, als Jesus gekommen war. 25Die anderen Jünger berichteten ihm: „Wir haben den Herrn gesehen!“ Er entgegnete ihnen: „Erst will ich selbst die Wunden von den Nägeln an seinen Händen seien. Mit meinem Finger will ich sie fühlen. Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen. Sonst kann ich das nicht glauben!“
26Acht Tage später waren die Jünger wieder beieinander. Diesmal war Thomas bei ihnen. Wieder waren die Türen verschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: „Friede sei mit euch!“ 27Dann sagte er zu Thomas: „Leg deinen Finger hierher und sieh meine Hände an. Streck deine Hand aus und leg sie in die Wunde an meiner Seite. Sei nicht länger ungläubig, sondern komm zum Glauben!“ 28Thomas antwortete: „Mein Herr und mein Gott!“ 29Da sagte Jesus zu ihm: „Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Glückselig sind die, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!“

[Bedürfnisse am Beginn des Lebens]

Wir haben gerade Gelegenheit, junge Eltern mit ihrem ersten Kind zu beobachten. Das Kind ist jetzt 16 Wochen lang auf der Welt. Es schläft oder schläft gerade nicht, es ist gut zufrieden oder es hat irgendwas. Man weiß nicht immer, was genau es ist. Oft ist es der Hunger nach einer Milchmahlzeit. Seit einiger Zeit kann es lächeln. Es ist ganz und gar auf seine Eltern angewiesen: dass sie ihr Kind nähren, dass sie seine Bedürfnisse erfüllen, dass sie erkennen: Jetzt ist die Zeit, dem Kind gute Bedingungen für sein Gedeihen zu geben. Es ist nicht die Zeit, ihm einen Schlafrhythmus beizubringen. Es ist nicht die Zeit, dass das Kind lernen muss im eigenen Bettchen einzuschlafen. Es ist Verwöhnzeit. Das Kind muss entwöhnt sein, die Abhängigkeit seines Lebens von der Muttermilch muss gelockert sein, erst dann kann man sich um andere Dinge kümmern.

Im ersten Brief des Petrus an christliche Gemeinden in Kleinasien steht eine kleine Ermutigungsbotschaft: „Wie neugeborene Kindlein nach Milch schreien, so sollt ihr nach dem wahrhaftigen Wort verlangen, damit ihr im Glauben heranwachst und gerettet werdet.“ [1 Petr 2,2]
Werden wie ein neugeborenes Kind, das nach dem Lebensnotwendigen verlangt. Die neugetauften Christen, sie sollen werden wie so ein neugeborenes Kind, das seine ganze Energie daransetzt, das, wovon es lebt, sofort und ohne Wartezeiten zu erhalten. Keine harte Kost, keine Beikost, „lautere Milch“ nennt Luther das wahrhaftige Wort.

[Thomas am Beginn des Glaubens]

Thomas kommt mir wie so ein Kind vor. Er braucht keine Predigten, keine harte Kost, kein „Du musst“, sondern sinnliche Erfahrung, die ihn nährt. Anders kann er als Christ nicht gedeihen. Und anders kann er nicht im Glauben wachsen.

Jemand muss dieses kindliche Bedürfnis stillen, jemand muss sich um ihn kümmern. Dieser Jemand ist der Auferstandene selbst. Thomas muss nicht noch einmal fragen; Jesus weiß um sein Bedürfnis zu sehen und zu fühlen. Er verzichtet auf alle hohe Theologie, auf alle Rechthaberei, auf alle Erziehungsmaßnahmen. Seine erste Aktion ist einfach: Leg deinen Finger hierher und sieh meine Hände an. Streck deine Hand aus und leg sie in die Wunde an meiner Seite.

Thomas‘ Hunger wird gestillt. Er kommt zur Ruhe. Jetzt ist er gesättigt. Er kann sein Bekenntnis zu Jesus, seinem Tröster, sprechen: „Mein Herr und mein Gott!“ Danach dann mag es beginnen mit der Beikost. Thomas wird den Status des Kindleins hinter sich lassen. Er wird wachsen als Christ und im Glauben. Und all die anderen? Sind die gleich ins Erwachsenenleben gesprungen? Mitnichten. Denn der Glaube entsteht auf verschiedene Weise.

[Jede und jeder auf seine Weise]

Maria Magdalena ist im Johannesevangelium die erste, die das leere Grab wahrnimmt. Sie rennt los zu Petrus und dem Lieblingsjünger. Dann kehrt sie zurück, geht in die Grabkammer hinein und sieht zwei Engel im Grab sitzen, die sie fragen, warum sie weint. Bevor die Engel antworten können, dreht sie sich wieder um und sieht den Gärtner des Gartens, in dem sich die Grabkammer befindet. Sie versteht nichts. Der Auferstandene muss sie mit ihrem Namen anreden. Erst da begreift sie, wer vor ihr steht.  Ihr Bekenntnis ist ein anderes als das des Thomas. Sie sagt „Rabbuni!“: Verehrter Lehrer.

Zuvor waren Petrus und der Lieblingsjünger am Grab. Der Erzähler des Johannesevangeliums schildert einen kleinen Wettlauf zwischen den beiden. Der Lieblingsjünger ist zuerst da, aber er geht nicht hinein, sondern überlässt Petrus den Vortritt. Sie sehen beide das leere Grab. Der Lieblingsjünger „kam zum Glauben“. Aber der Erzähler schreibt auch: „Sie hatten ja die Heilige Schrift noch nicht verstanden, nach der Jesus von den Toten auferstehen musste.“ Was soll man dazu sagen? So ein richtiges Bekenntnis liegt hier nicht vor.

Dann kommt der Abschnitt, den ich als Predigttext gelesen habe, und der zwei Erscheinungen des Auferstandenen erzählt. Einmal vor allen Jüngern außer Thomas. Da wird erzählt: „Die Jünger freuten sich, als sie den Herrn sahen.“ Immerhin. Freude! Und offenbar ein Erkennen, das über alle Zweifel erhaben war.

So verschieden, wie die Jüngerinnen und Jünger sind, so verschieden ist ihre Reaktion. Großen Raum bekommen Maria Magdalena und Thomas. Etwas hervorgehoben werden Petrus und der Lieblingsjünger. Die Art ihres Begreifens ist unterschiedlich. Die eine wird bei ihrem Namen gerufen. Zwei machen einen Wettlauf, denn mit eigenen Augen sehen wollen auch sie, dass das Grab leer ist. Einer darf seine Finger in die Wunden legen. Jeder und jede in diesen Auferstehungsgeschichten kommt zum Glauben auf seine Weise. Jeder und jede reagiert anders. Und jeder und jede bekommt, was er oder sie braucht.

[Nicht sehen, doch glauben]

Der zeitliche Abstand zwischen den ersten Leserinnen und Lesern des Johannesevangeliums und der Zeit Jesu ist groß. Mindestens 70 Jahre. Zwei bis drei Generationen. Unmittelbare Erfahrungen konnte niemand mehr machen. So wie wir. Selbst wenn wir werden wie die Kindlein, die nach der lauteren Milch schreien… Jesus Christus sitzt zur Rechten Gottes. Von dort wird er wiederkommen. Er wird nicht jetzt durch die verschlossene Kirchentür kommen und sich all den Thomassen unter und in uns zeigen. Uns und den ersten Leserinnen und Lesern des Johannesevangeliums gilt Jesu letzter Satz: „Glückselig sind die, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!“

Ja, so ist es. Die Kinderstube ist vorbei. Für uns gilt: Trotzdem glauben. Thomas wird lernen, sich von der Notwendigkeit der sinnlichen Erfahrung zu lösen. Jesus wird da sein, auch wenn er ihn nicht (mehr) sieht. So wie Babys lernen, andere Nahrung zu genießen, auf das Dasein und die Fürsorge ihrer Eltern auch dann zu vertrauen, wenn sie nicht greifbar sind. Man kann diesen Prozess ganz gut beobachten, wenn kleine Kinder sich immer mal wieder umschauen, ob ihr Vater oder ihre Mutter sie auch im Blick haben, wenn sie um die Ecke verschwinden oder davon zu laufen scheinen. Irgendwann werden sie fortgehen können und sich dennoch sicher sein, dass ihre Eltern im Ernstfall für sie da sind, auch wenn kein physisch erlebbarer Kontakt besteht. Die Eltern sind da, auch wenn sie aus dem Sichtfeld geraten. Jesus bleibt da, auch wenn Thomas ihn nicht mehr sehen wird.

Den Zweifelnden unter uns, sagen wir besser: uns allen, die wir manchmal zweifeln, ist mit diesem Thomas aus dem Johannesevangelium ein Denkmal gesetzt. Es erinnert daran, dass es auch im Glauben der nährenden Fürsorge bedarf, damit dieser Glaube wachsen und dann erwachsen werden kann. Selig ist, wer trotzdem glaubt. Allen anderen sei gesagt: Umsorgt euren kleinen Glauben. Vergewissert euch. Betet. Kommt zum Gottesdienst oder zum Bibelgesprächskreis, um in Kontakt zu bleiben. Und seid gnädig mit all den Thomassen und all den Thomas-Zeiten in euch.

Amen.