Trotzdem singen

Predigt zu Apostelgeschichte 16,23–34 und Psalm 98 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 18. Mai 2025 (Kantate)


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Von Bärbel Husmann

Liebe Gemeinde,

in der Lesung haben wir gehört: Paulus und Silas sitzen in Philippi unten im Gefängnis, die Füße in einem Holzblock, sie singen zu mitternächtlicher Stunde zum Lobe Gottes. Wegen dieses mitternächtlichen Singens wurde die Geschichte dem Sonntag Kantate zugeordnet. Zwei Missionare singen in einer ausweglosen Situation; sie können schon in den Rachen des Todes blicken. Sollten wir solche Glaubenszuversicht bewundern?

Am Ende des Lesungstextes, am Ende der Nacht, haben wir von einem Erdbeben gehört, von einer wundersamen Gefängnisöffnung, von einem wundersamen Verbleiben der Gefangenen im Kerker, obgleich sie doch hätten fliehen können. Ein Suizid konnte verhindert werden, ein Mensch kehrt um und bekehrt sich zu Gott, mehrere Taufen folgen und schließlich ein Festmahl, bei dem die Verfolgten zu Bewirteten werden.

Zu schön, um wahr zu sein? Der Kerkermeister, ein Staatsdiener im Römischen Reich, zählt nicht zum Volk Israel. Dieser Kerkermeister findet zum Glauben an den Gott Israels. An den Gott, den Paulus und Silas in Philippi verkündigt haben, und der für die beiden Missionare untrennbar mit der Botschaft und Auferstehung Jesu Christi verbunden ist.

Paulus, ein gebürtiger Jude… Wieso war der als christlicher Missionar eigentlich so erfolgreich? In der Osterausgabe der ZEIT hat ein Journalist das so ausgedrückt: Mit der Bekehrung des Paulus hatte die etwas verlorene Gruppe der Jüngerinnen und Jünger „ein Mitglied mehr. Und was für eins. […] Paulus […] war wie ein Unternehmensberater, der überlegt, welche Maßnahmen er ergreifen muss, um das Unternehmen wachsen zu lassen. Schnell kam er zu der Erkenntnis: maximale Reichweite, minimale Eintrittshürden.“ Und so verkündigt er einen Glauben, der nichts weiter fordert als zu glauben. Auf seinen Missionsreisen legt er an die 15.000 km zurück: zu Fuß und per Schiff. Die jüdische Sondergemeinschaft wird zu einer großen Weltreligion.

Was der Journalist verschweigt oder auch nicht gewusst hat: Die Mission war nicht nur eine Strategie zur Mitgliedervermehrung, sondern fällt auch mit einer uralten jüdischen Hoffnung zusammen.

Von dieser Hoffnung erzählt Psalm 98, der diesem Sonntag seinen Namen gegeben hat, und den wir eingangs gesungen haben. Ich stelle mir vor, wie Paulus und Silas in Philippi im Gefängnis sitzen… Was mögen sie da zum Lob Gottes gesungen und gebetet haben? Die Psalmen waren ihr tägliches Gebetbuch und ihr Gesangbuch zugleich.

Wir probieren es mal mit Psalm 98:

Ein Psalm.

Singt dem Ewigen ein neues Lied, denn er hat Wunder getan!

Seine Rechte half ihm, sein heiliger Arm.

Der Ewige macht sein befreiendes Handeln bekannt,

enthüllte vor den Augen der Nationen seine Gerechtigkeit.

Er hat an seine Güte und Treue gedacht für das Haus Israel.

Alle Enden der Erde haben das befreiende Handeln unseres Gottes gesehen. //

Rufe laut zum Ewigen, du ganze Erde!

Seid heiter, jubelt und singt!

Musiziert für den Ewigen mit der Leier,

mit Leier und melodischem Gesang!

Mit Trompeten und dem Schall des Horns

ruft laut vor dem königlichen Ewigen! //

Donnern sollen das Meer und seine Fülle,

der Erdkreis und die darauf wohnen!

Ströme sollen in die Hände klatschen,

Berge sollen gemeinsam jubeln

vor dem Ewigen.

Denn er kommt die Erde zu richten.

Er wird den Erdkreis richten in Gerechtigkeit,

die Völker in Aufrichtigkeit.

Der Psalm besingt ein Wunder, das tatsächlich geschehen ist. Denn dieses neue Lied wird gesungen für die Befreiuung aus dem Exil der Israeliten in Babylon. Denn nachdem der Perserkönig 539 v. Chr. das babylonische Reich erobert hatte, erlaubte er die Rückkehr einzelner Personengruppen in ihre Heimat. Der Text klingt allerdings nach mehr als nur einzelnen Personengruppen: Der Ewige macht sein befreiendes Handeln bekannt, enthüllte vor den Augen der Nationen seine Gerechtigkeit.

Alle Enden der Erde haben das befreiende Handeln unseres Gottes gesehen.

Da ist nicht nur Israel im Blick, sondern die ganze Welt mit all ihren verschiedenen Völkern. Und sprachlich weiß man nicht so genau: Ist es nun schon so passiert oder wird es noch passieren? Der Ewige macht sein Handeln bekannt. Jetzt-Zeit. Er enthüllte vor den Augen der Nationen seine Gerechtigkeit. Vergangenheit.

Der Dichter des Psalms hat kein Interesse daran, das aufzudröseln. Für ihn ist das alles eins. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – alles ist in Gottes Hand. Und alles läuft nach seinem Plan. Was auch geschieht: Wer diese Texte betet und singt, schmiegt sich hinein in diese göttliche Geschichte. Die hat einen durchgehenden Text: Ich, Gott, ich, der Ewige, ich rette euch. Manchmal erst nach 70 Jahren. Aber ich hab‘ einen Plan. Ihr kennt den nicht, und das braucht ihr auch nicht. Aber: Am Ende wird alles, alles gut.

Am Ende, am Ende aller Geschichte, da zeigt sich: Gottes Liebe geht über sein Volk Israel hinaus. Am Ende aller Zeit sitzt Gott auf seinen Thron in Jerusalem. Alle Völker, nicht nur die Juden, erkennen Gottes Macht, sie erkennen ihn als König an und sie werden in seine Gerechtigkeit einbezogen. Wie bei einer Mutter-Kind-Zweisamkeit, die, wenn alles gut läuft, ihr Glück darin findet, dass sich in diese erste Liebe weitere Personen liebend einschreiben können, so erweitert Gott seine Treue und seine Gerechtigkeit auf einen Bund mit allen Völkern hin.

Das neue Lied mit Leier und Gesang, mit Trompeten und Posaunen, das wird vor dem königlichen Ewigen gesungen. Aber wenn man genau hinhört, dann wird auch die Natur in den Kreis derer einbezogen, die Gott loben. Donnern sollen das Meer und seine Fülle, der Erdkreis und die darauf wohnen! Ströme sollen in die Hände klatschen, Berge sollen gemeinsam jubeln vor dem Ewigen.

Begeisterte Freude, die alle Grenzen sprengt.

So weit, so gut. Wie singt sich das im Gefängnis? – Ich habe mit meinem Chor vor eineinhalb Jahren kurz vor Weihnachten in der Justizvollzugsanstalt in Hannover gesungen. Ein Weihnachtsliederprogramm. Die Gefangenen waren ausgesucht, denn nur bei guter Führung durften sie teilnehmen. Die Kapelle war voll. Zwischen den Gefangenen war das Wachpersonal verteilt. Wir blickten in stumpfe Männergesichter, alte und junge. Ein paar junge Frauen im Sopran erkannten einen Türsteher aus einem Club wieder. Ich sah auch die Risse in der Wand, die Wasserschäden, den insgesamt erschreckenden baulichen Zustand der JVA. Ich dachte an die vielen Schleusen, durch die wir diese Kapelle erreicht hatten. Der Rückweg war übrigens ein anderer… Unsere Weihnachtslieder passen da nicht so hinein, dachte ich. Und dennoch: Unser Gesang bewirkte, dass die Unterhaltungen unter den Gefangenen aufhörten. Es breitete sich eine Stunde des stillen Zuhörens aus – sehr ungewöhnlich, sagte hinterher der Gefängnisdirektor. Wir sahen, wie im Publikum einige Gesichter weicher wurden. Einer legte den Kopf auf den Arm. Einer wischte sich verstohlen ein paar Tränen ab.

Musik und Singen berührt die Seele. Singen hilft, wenn es einem schlecht geht. Sogar Gesang hören kann helfen.

So stelle ich mir also Paulus und Silas im Gefängnis vor, Psalm 98 singend, hoffend und glaubend, dass Gott auch sie befreien wird. Dankbar, dass bis dahin ihre Mission erfolgreich war, ihre Mission unter den Völkern, Menschen in Philippi, zuletzt Lydia, die Purpurhändlerin, die sich mit ihrer Hausgemeinschaft taufen ließ.

Der Verfasser der Apostelgeschichte hatte wohl auch seine Leserinnen und Leser im Blick. Die sollten erkennen: Das ist jetzt die Wende. Menschen aus den Völkern, Griechen und Römer lassen sich taufen. Die Zeit ist nahe herbeigekommen, Gott ein neues Lied zu singen. Sogar im Gefängnis.

Und wir? Stehen wir auch an so einer Art Zeitenwende? Die Christinnen und Christen haben sich, um es vorsichtig zu formulieren, im Lauf ihrer Geschichte von ihren Anfängen verabschiedet. Sie haben sich oft als Herren, als Herrscher betätigt. Sie wurden zu Mördern ihrer älteren Geschwister im Glauben. Dorothee Sölle hat einmal gesagt: Ich weiß auch nicht, wie man nach Auschwitz Gott noch loben kann. Und eine alte Freundin von uns hat viele, viele Jahre nach der Ermordung ihres Kindes kein Loblied mehr singen können.

Ich verstehe das gut.

Ein Gott, der immer nur Dank- und Loblieder hören will, ist eitel und ist kein Gott. Christinnen und Christen, die immer nur Lobpreislieder singen, wo Klage und Anklage keinen Platz haben, wo es kein Nachdenken über Schuld und Schuldverstrickungen, keine Reue, keine Vergebung geben muss, weil wir uns immer alle liebhaben, besser gesagt: liebhaben müssen, haben einen Teil unseres Lebens mit all seinen Verwicklungen unter den Teppich gekehrt.

Gott verträgt auch die Klage. Er hält das aus. Denn es gibt ja diese Zeiten, in denen er irgendwie zu verschwinden scheint. Nicht sichtbar ist. Uns nicht rettet und schützt. Luther hat das den verborgenen Gott genannt.

Das biblische Buch der Psalmen enthält nicht nur Lob- und Dankpsalmen, sondern auch Klage- und Rachepsalmen. Über die wird selten gepredigt. Ich glaube, dass das ein Fehler ist. Denn es gibt diese verstörenden Zeiten in der Geschichte des jüdischen Volkes, in der Geschichte der Juden und Christen miteinander, im Leben jedes und jeder Einzelnen von uns.

Ob wir jetzt an einer Zeiten-Wende stehen, weiß ich nicht. Mir kommt es allerdings nicht so vor, als ob Gott, den wir Vater Jesu Christi nennen, demnächst seinen Thron in Jerusalem besteigen wird und alle Völker seine Herrlichkeit und seine Gerechtigkeit sehen.

Die Hoffnung aber, von der Psalm 98 erzählt, und die Paulus und Silas im Herzen tragen, diese Hoffnung ist ein Teil unserer jüdisch-christlichen Geschichte und Identität. Ich will diese Hoffnung gerne an mich heranlassen. Ich will sie nicht unter den Teppich kehren. Wir alle können diese Hoffnung hüten und bewahren, indem wir Gott ein neues Lied singen.

Amen.


Bärbel Husmann