True Crime Passion – oder: Wer ist schuld am Tod Jesu?

Matthäus 27, 15-26


Foto: G. Rieger

Predigt im Stil eines True-Crime-Podcasts zur Frage der Schuld an Jesus Christus - von Georg Rieger

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,

in der Reihe „Wahre Verbrechen“ rollen wir heute einen Mord auf, der tatsächlich schon bald 2000 Jahre zurückliegt. Es geht um einen nicht ganz alltäglichen Fall, von dem in einem Buch namens Bibel vier mutmaßliche Augenzeugenberichte stehen. Doch die haben voneinander abgeschrieben, was sie als Zeugen nicht gerade glaubwürdig macht.

Wie in unserem Podcast üblich, geben wir uns mit einfachen Antworten nicht ab, sondern schauen ganz genau hin. Was ist da wirklich passiert im Jahre 33? Wer hat alles seine Hände im Spiel? Um welche Interessen ging es und geht es? Und: Es steht der Verdacht im Raum, dass bis heute Menschen von seinem Tod profitieren. Bleiben Sie jetzt dran, wenn es um die Frage geht: „Wer ist schuld am Tod von Jesus Christus?“


Das Opfer ist wahrlich kein Unbekannter. Aber seine Biografie weist ungewöhnliche Lücken auf. Geboren wurde er als Jesus von Nazareth. Seine Geburt wird bis heute jedes Jahr groß gefeiert. Aus seiner Kindheit und Jugend gibt es aber nur eine einzige Anekdote. Demnach hat er sich schon im zarten Alter von 12 Jahren mit der Obrigkeit angelegt. Als junger Mann zieht er dann mit einer Jüngerschar durch die Lande und fällt durch einen außergewöhnlichen Aktivismus auf. Immer wieder gibt er sich mit Menschen ab, die am Rande der Gesellschaft stehen. Der Kritik an seinem Verhalten begegnet er mit weirden Argumenten: Gott sei sein Vater und er habe dessen Liebe zu verkünden. Alle Menschen würden schon jetzt in einem neuen Reich leben und könnten sich die Liebe Gottes zu eigen machen.

Solche Sprüche waren verschiedenen Menschen ein Dorn im Auge. Aber wer ging so weit, ihn um die Ecke zu bringen? Wir untersuchen der Reihe nach die Verdächtigen – und das sind nicht wenige.

Verdacht Nr. 1: Die Römer

Sie hätten ein Motiv gehabt. Die Römer waren die eigentlich Mächtigen im Land – die Besatzer. Die einheimische Bevölkerung war ihnen suspekt. Deren Religion auch. Diese Israeliten hatten schon viele Besatzungen erlebt. Aber sie waren nicht unterzukriegen. So ein Typ wie dieser Jesus, der Menschen begeistert und mit seltsamen Aktionen Aufsehen erregt, kann schnell zu einer Gefahr für die Besatzer werden. Haben ihn also die Römer beseitigt, um einen Unruhestifter loszuwerden? Ohne Zweifel sind sie Tatbeteiligte. Ohne sie konnte gar keine Kreuzigung stattfinden. Wahrscheinlich sind sie sogar Ausführende – aus eben demselben Grund. Aber um Jesus auszuschalten und ihre Macht zu sichern, hätte es ausgereicht, ihn einzusperren, wie vorher schon Johannes den Täufer und andere religiöse Spinner. Pontius Pilatus, der römische Statthalter, wäscht bei der Verhandlung seine Hände demonstrativ in Unschuld. Damit will er bezeugen, dass er zu dieser Tat gezwungen wurde – aber wie und von wem?

Verdacht Nr. 2: Die religiöse Elite

Das waren jedenfalls statistisch die häufigsten Gegenspieler der Jesusbewegung. Immer wieder gab es den Berichten nach Konflikte mit den Gelehrten der jüdischen Religion.  Dabei – wir haben das mal recherchiert – waren die Pharisäer eigentlich selbst eine eher fortschrittliche Bewegung innerhalb des Judentums und mehr volksnah als die konservativen Priester, die in den Tempeln das Sagen hatten. 

Die Schriftgelehrten, mit den sich Jesus gerne anlegte, waren also Widerspruch gewohnt und hatten wenig politische Macht. So eine Art Inquisition, wie sie oft dargestellt werden, waren sie auf keinen Fall. Diese Fährte, die gefühlt in jeder zweiten Geschichte über Jesus gelegt wird, ist also falsch. Wenn nicht die Mächtigen und nicht die geistige Elite, wer dann?

Verdacht Nr. 3: Die Juden

Schon in den Berichten, die übrigens „Evangelien“ genannt werden, wird der Verdacht hin und wieder auf das Volk gelenkt, also auf „die Juden“. Israel ist freilich die Nation und das Judentum die Religion, zu der Jesus zeitlebens selbst gehört hat. Gut, das Volk schreit in einer Szene, die übrigens in keinem Passionsspiel fehlt, nach dem Tod Jesu und begnadigt dafür lieber einen Mörder.

Doch diese Verdächtigung ist selbst verdächtig. Ab dem Zeitpunkt, zu dem die Anhänger des Jesus sich später als „Christen“ bezeichnen und sich als eigene Glaubensgemeinschaft formieren, beginnen sie, den „Anderen“ die Schuld am Tod Jesu in die Schuhe zu schieben. Immer mehr gerät in Vergessenheit, dass sie selbst Teil dieser alten Religion waren und irgendwie auch noch sind. Denn sie berufen sich nach wie vor auf deren Tradition. Trotzdem hat diese Schuldzuschreibung unheilvolle Folgen. In vielen Städten war im Mittelalter der Jahrestag der Kreuzigung – der Karfreitag eben – ein Schreckenstag für Jüdinnen und Juden. Nach dem Gottesdienstbesuch zogen fanatische christliche Gläubige gegen die ‚Christus-Mörder‘ los: Häuser wurden angezündet, Menschen verschleppt und umgebracht. Später dann infiltrierte diese christliche Diffamierung auch aufgeklärte Intellektuelle. Und bis heute sollten wir nicht vergessen: Diese Verschwörungserzählung ist die Wurzel des Antisemitismus und eine Begründung für den Holocaust. 

Natürlich war „das Volk“ beteiligt an der Stimmung, die zur Hinrichtung Jesu führte. Aber für wen steht diese Bezeichnung? Diese Frage bleibt zunächst offen.

Verdacht Nr. 4: Gott hat seinen Sohn geopfert

Hartnäckig hält sich in christlichen Kreisen die Denke, Gott habe Jesus geopfert, um seinen eigenen Zorn gegen die ungehorsame Menschheit zu stillen. Die Kreuzigung wäre demnach eine inszenierte Kulthandlung: Einer muss sterben, um allen anderen ihre Sünden zu verbüßen. Doch was hätte eine solche Inszenierung für einen Sinn? Und was wirft das für ein Licht auf diesen Gott? Sind da nicht eher allzu menschliche Vergeltungswünsche im Spiel? Und eigentlich ein totaler Widerspruch zu dem, was Jesus ständig von sich gibt: Dass Gott ein gnädiger Gott sei, der eben nicht aufrechnet, sondern nach ganz anderen Kriterien urteilt.

Dass Gott den Tod seines Sohnes nicht verhindert hat, gibt durchaus Fragen auf. Aber als einen, der seinen Tod verlangt hat, können wir Gott ausschließen.

Verdacht 5: Jesus hat seinen Tod selbst provoziert

In den Evangelien gibt es einige Aussagen Jesu, die darauf schließen lassen, dass er sein Schicksal von Anfang an kannte. Hat er also bewusst auf seine Tötung hingearbeitet? Waren die Römer und alle anderen Beteiligten nur Handlanger seines eigenen Plans? Natürlich ist so eine Selbstinszenierung denkbar. Eine gehörige Portion Selbstbewusstsein und ein paar leicht zu manipulierende Freunde – so kann das schon funktionieren. Dann wäre das ganze Christentum allerdings ein riesiger Fake und ein Großteil der Menschheit auf einen Wichtigtuer reingefallen. Auch diese Theorie ist ganz offensichtlich nur ein Versuch der Erklärung, für die in Wahrheit wenig spricht.
 

Damit ist die Liste der Verdächtigungen abgearbeitet. Aber ein Ergebnis haben wir nicht. Es gibt Motive. Es gibt Gelegenheiten. Auch Möglichkeiten. Ja sogar Tatbeteiligungen, die unumstritten sind. Aber die Recherche ist dennoch unbefriedigend. Schon eher wirkt es so, als würden alle Möglichkeiten eine weitere verdecken wollen.

Diese Möglichkeit entzieht sich allerdings allen kriminalistischen Untersuchungen. Da gibt es niemand zu verhaften und an den Pranger zu stellen. Diese Möglichkeit macht sogar alle weiteren Verdächtigungen überflüssig. Sie präsentiert keine Schuldigen, spricht aber auch niemand frei von Schuld. Von daher ist es keine bequeme, sondern eine unbequeme Auflösung.

Diejenigen, die Jesus ans Kreuz gebracht haben, könnten nämlich wir alle sein. Es ist diese Welt, die Menschen wie ihn auslöschen will. Irgendwie sogar muss. Es ist leicht, den Menschen damals die Schuld zu geben. Und auf jeden Fall waren es natürlich die „Anderen“. Die ganze Geschichte – nicht nur die des Jesus, sondern auch die vielen anderen vorher und nachher – machen aber nur dann Sinn, wenn wir alle selbst Verantwortung übernehmen.

Auch unter uns würde sich Jesus nicht durchsetzen – nicht mir seiner Botschaft des Friedens, der Gleichheit aller Menschen und der Vergebung statt der Bestrafung. Aber dafür stand er mit seinem Leben. Und davon stehen viele Geschichten in der Bibel. Und die Geschichte von der Kreuzigung nimmt uns da voll mit rein. Die Römer, die Gelehrten, das Volk – das sind alles wir. Auch nach fast 2000 Jahren kommen wir aus dieser Geschichte nicht raus. Wenn wir sie glauben. Aber wenn wir sie glauben, dann geht es an Weihnachten, am Karfreitag und an Ostern um uns – um unser Leben. Wir kommen in dieser Geschichte mit vor.

An dieser Stelle wird der Podcast endgültig zur Predigt – nicht nur weil ich das hoffentlich besser kann, sondern auch weil die Geschichte eine ganz andere Dimension hat, als dass sie kriminalistisch erfasst werden könnte.

Wir können uns dieser Geschichte gar nicht objektiv nähern. Wir sind, wenn wir sie ernst nehmen, absolut befangen. Wir sind in den Fall verstrickt: als Mitverantwortliche und als diejenigen, die davon profitieren. Jesus ist durch die Art wie wir leben und denken, zu Tode gekommen. Aber wir haben dadurch etwas Entscheidendes gewonnen. Wir haben verstanden, was Gott von uns will und was er für uns ist – und das ist in einem Wort: Liebe.

Wir haben ja etwas davon begriffen, sonst säßen wir nicht hier zusammen in der Kirche. Ohne dieses Vertrauen in Gottes Liebe zu uns, sähe unser Leben düster aus. Wir haben diesen Funken Hoffnung geschenkt bekommen, der uns immer wieder auf die Seite des Lebens und der Liebe zieht – hoffentlich! Und am Ende unseres Lebens ganz zu ihm.

Und so singen wir schon morgen Abend wieder andere Lieder und am Sonntag früh feiern wir die Auferstehung und das Leben. Beides gehört – Gott sei Dank! – zusammen. Amen


Georg Rieger, Nürnberg - Predigt gehalten am Karfreitag 2024 in der Ev.-ref. Kirche St. Martha