Vergewisserung in Nachkriegszeiten

Predigt zu Joh 1,29–34 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 8. Januar 2023 (erster Sonntag nach Epiphanias)


Ausgrabung: Steine des zerstörten Temepls in Jerusalem von 70 n. Chr. © Wilson44691/Wikimedia/Public Domain

Von Bärbel Husmann

Liebe Gemeinde!

Der Predigttext für heute ist nach einem verheerenden Krieg geschrieben. Jüdische Aufständische hatten sich gegen das römische Besatzungsregime aufgelehnt. Und die Römer hatten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zurückgeschlagen. 70 n. Chr. ist der Traum vom Abschütteln des römischen Jochs vorbei. Die Felder sind nicht bestellt, ein Großteil der Bevölkerung getötet oder in die Sklaverei verkauft, Jerusalem ist dem Erdboden gleich gemacht, der Tempel ist niedergebrannt. Die Hoffnung erloschen, die Besatzer könnten je erlauben, ihn wiederaufzubauen. Der religiöse Mittelpunkt ist verloren.

Noch vor Ende des Krieges wurde Rabbi Jochanan ben Sakkaj, der sich totgestellt hatte, in einem Sarg von seinen Schülern aus dem belagerten Jerusalem hinausgeschmuggelt. Dieser Rabbiner erwirkte, als er gerettet war, vom römischen Feldherren Vespasian die Erlaubnis, in Javne ein Lehrhaus zu eröffnen. Vespasian, der später Kaiser wurde, und Javne, ein damals kleiner Küstenort, etwa 30 km südlich von Tel Aviv. Das Lehrhaus in Javne wurde zur Keimzelle jüdischen Überlebens nach der Katastrophe des Jahres 70. Es musste ohne Tempel auskommen, musste die sammeln, die noch da waren, musste den Opferkult neu erfinden und Reinigung und Versöhnung ins Innere der Menschen verlegen.

Jüdische Identität musste neu definiert werden, denn an eine Wiederherstellung des Opferkultes war nicht zu denken. Die Gebote der Tora und die Propheten bekamen eine große Bedeutung. Aus dieser Zeit, dem frührabbinischen Judentum, haben wir Quellen, die die Debatten nachzeichnen, die geführt wurden. Dabei sind, was ganz üblich war, auch die Mindermeinungen überliefert. Viel ließ sich integrieren in diesen Nachkriegsjahren, aber nicht alles.

Es gab da eine jüdische Richtung, die Jesus für den Messias hielt und darauf aus war, dass alle anderen sich diesem Glauben anschließen sollten. Sie betrieben Mission, in Kleinasien sogar unter den Heiden. Ihr Messias war von den Römern zum Tode verurteilt worden war. Es waren dieselben Römer, von denen jetzt ihr Gedeih und Verderb abhing.

Aus Sicht derer, die den jüdischen Krieg überlebt hatten, waren die Christusgläubigen Häretiker, Falschgläubige, solche, die alles, was man hatte retten können, bedrohten. Und so wurden über sie wirtschaftliche Boykottmaßnahmen verhängt: „Man verkauft ihnen nicht und kauft von ihnen nicht. Man nimmt von ihnen nicht und gibt ihnen nicht. Man lehrt ihre Söhne kein Handwerk und man lässt sich von ihnen nicht ärztlich behandeln, weder eine ärztliche Behandlung von Besitz noch eine ärztliche Behandlung von Personen.“1  Für die Betroffenen war das mitunter das soziale und wirtschaftliche Aus. Man könnte auf die Idee kommen, die Sache mit Jesus als Messias nochmal zu überdenken.

[2.]

In dieser Situation befand sich die christliche Gemeinde, für die Johannes, der Evangelist, ein neues Evangelium schreibt. Ich lese die Verse 29–34 aus dem ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums:

29Am nächsten Tag sieht er [Johannes] Jesus auf sich zukommen, und sagt: Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt. 30Dieser ist es, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist, denn er war, ehe ich war. 31Und ich kannte ihn nicht. Aber er sollte Israel offenbart werden; darum kam ich und taufte mit Wasser.
32Und Johannes legte Zeugnis ab und sagte: Ich habe den Geist wie eine Taube vom Himmel herabkommen sehen, und er blieb auf ihm. 33Und ich kannte ihn nicht. Aber der mich gesandt hatte, mit Wasser zu taufen, er sprach zu mir: Auf wen du den Geist herabkommen und auf ihm bleiben siehst, der ist es, der mit heiligem Geist tauft. 34Gesehen habe ich, und Zeuge bin ich: Dieser ist der Sohn Gottes.
[Zürcher Bibel]

[3.]

„Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott“, so fängt das Johannesevangelium an. Und ein paar Verse weiter steht: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir schauten seine Herrlichkeit.“

Bei „Wort“ klingt mit, dass Gott die ganze Welt durch sein Wort geschaffen hat. Der Mensch kam in die Welt durch Gottes schöpferisches Wort: „Und Gott sprach: Es werde…“. Und jetzt kommt Jesus als Mensch in die Welt – auch durch Gottes schöpferisches Wort. Eine Zeitenwende ist das, eine Neuschöpfung.

Für den Evangelisten Johannes ist das Verhältnis zwischen Gott und Jesus sehr eng, enger als ein Adoptionsverhältnis, wenn der Vater zum Sohn sagt: „Du bist mein geliebter Sohn.“

Johannes der Täufer ist für Johannes, den Evangelisten, nicht so sehr der, der Jesus tauft. Er ist vielmehr der, der bezeugt oder „Zeugnis ablegt“. Schon in Vers 15 steht, was in unserem Predigttext in Vers 30 wiederholt wird. Johannes der Täufer „legte Zeugnis ab: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Der nach mir kommt, ist vor mir gewesen, denn er war, ehe ich war.“ Man soll diese Worte ja nicht vergessen!

Johannes der Täufer ist Zeuge dafür, dass Jesus der Sohn Gottes ist; der, der vom Vater ausging; der, der die Sünde der Welt trug und hinwegnahm – der Welt (!), nicht nur so ein paar Sünden –; der, der schon immer da war bei Gott und jetzt auf die Welt gekommen ist als einer, auf dem der Geist Gottes ruht.

[4.]

Welches Bild haben Sie von Johannes, dem Täufer, im Kopf? Bei mir ist es die Figur, die Matthias Grünewald rechts vom Kreuz auf die Haupttafel des Isenheimer Altars gemalt hat. Ein Mensch in zotteligem Gewand, der mit einem unglaublich langen Zeigefinger auf Jesus am Kreuz zeigt.

All die Maler, die Johannes den Täufer auf Altarbilder unters Kreuz gemalt haben, wussten natürlich, dass Johannes der Täufer zum Zeitpunkt der Kreuzigung längst tot war. Herodes hatte ihn köpfen lassen. Die Maler wollten aber gar keine biblische Erzählung illustrieren, sondern eine Aussage machen. Johannes ist Vorläufer und Zeuge. Und so versteht er sich allen Evangelien zufolge auch selbst. Er war und ist für alle Zeiten der, der auf Jesus hin-weist.

Was steht hier alles nicht? – Hier steht nichts zu Johannes‘ Kleidung und zum Inhalt von Johannes‘ Predigt. Er beschimpft niemanden als „Schlangengezücht“, er ruft nicht zur Buße auf, er droht nicht mit dem Gericht. Dass er Jesus getauft hat oder taufen wird, steht im Johannesevangelium nicht. Entweder es ist total selbstverständlich für alle Leserinnen und Leser des Evangeliums. Oder es ist für das, was Johannes, dem Evangelisten wichtig ist, nicht relevant.

Etwas eigentümlich ist, dass Johannes der Täufer Jesus auf sich zukommen sieht, dass Jesus dann aber keine Rolle mehr spielt. Jesus spricht nicht. Jesus handelt nicht. Wir wissen nicht, ob Jesus auch bei Johannes ankommt und wie sie sich dann begegnen. Jesus ist hier eine Art Standbild. Man verliert ihn als Gestalt aus dem Blick, weil sich alles um das dreht, was Johannes über ihn sagt. Dadurch bleibt er präsent – aber nur durch das, was Johannes über ihn und sich selbst sagt.

Im griechischen Wort für Zeugnis ablegen steckt martyria, die Wurzel unseres Wortes Märtyrer. In der Tat wurde Johannes der Täufer durch sein Zeugnis auch zum Märtyrer. Zeuge sein, Zeugnis ablegen, bezeugen, das ist viel mehr als nur vor Gericht das Richtige sagen. Johannes der Täufer ist als Zeuge einer, der maximal in das, was er bezeugt, verwickelt ist und dafür einsteht.

Mit diesem Zeugen will Johannes, der Evangelist, der in ihrem Glauben bedrängten Gemeinde wenige Jahre nach dem jüdischen Krieg deutlich machen: Ihr glaubt richtig. Johannes will sie stärken, ihnen Mut machen, sie trösten, sie ihres Glaubens vergewissern.

[5.]

Und wir? Wo kommen wir vor in diesem Bibeltext? Ich glaube ganz und gar nicht, dass wir heute in diesem Text aufgerufen werden, Johannes dem Täufer zu folgen und zu Zeugenschaft und missionarischen Aktivitäten aufgerufen sind – so sagt es eine Auslegerin.2

Wir sind eher Nachfahren im Glauben. Wir hören die Worte Johannes des Täufers: Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt. Dieser ist es, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist, denn er war, ehe ich war.

Ich denke: Wie tragisch verlaufen manchmal Nachkriegsgeschichten! Wie gering war nach diesem jüdischen Krieg die Chance, sich gemeinsam unter einem Dach weiterzuentwickeln. Zumal ja die Mission des Paulus in Kleinasien schon in vollem Gange war.

Wir können es vielleicht heute besser machen. Etwas vorsichtiger sein mit Rechthaben, mit Mission und Märtyrertum. Den anderen nicht den richtigen Glauben absprechen. Stattdessen mit Gott rechnen, der sich am Ende der Zeiten, am Ende auch unserer individuellen Zeit als der erweist, der er ist, und von dem wir wir glauben, dass er gnädig auf unsere Sünden und Verfehlungen schauen wird um seines Sohnes Jesu Christi willen.

Amen.

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1 tHul 2,21 (Tosefta), zitiert nach Klaus Wengst: Das Johannesevangelium. ThKNT. Stuttgart: Kohlhammer 2019 (Neuausgabe). S. 18, Fn. 8.

2 Ilse Junkermann: Erwachsen Zeuge sein. In: Göttinger Predigtmeditationen. Pastoraltheologie 101 (11/2012). 1. Sonntag nach Epiphanias (13.1.2013). S. 92-98.


Bärbel Husmann